E-Book, Deutsch, Band 0042
Reihe: ApeBook Classics
Chesterton Menschenskind
Neuausgabe des ungekürzten Textes in der ursprünglichen Übersetzung 2018
ISBN: 978-3-96130-116-4
Verlag: apebook Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Die turbulente und phantastische Geschichte des Innozenz Smith
E-Book, Deutsch, Band 0042
Reihe: ApeBook Classics
ISBN: 978-3-96130-116-4
Verlag: apebook Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
In Beacon House zieht ein neuer Mieter ein. Es ist ein Sonderling namens Innozenz Smith. Wie Mary Poppins wird dieser Mann von einem großen Wind begleitet, und er haucht dem Haushalt mit seinen Spielen und Mätzchen neues Leben ein. 'Menschenskind' (engl. Original: 'Manalive', 1912) ist ein Buch von G. K. Chesterton (1874-1936), in dem das sowohl in seiner eigenen Philosophie als auch im Christentum populäre Thema des 'heiligen Narren' beschrieben wird, wie auch in Dostojewskis 'Der Idiot' und Cervantes' 'Don Quijote'. Der Umfang dieses eBooks entspricht ca. 250 gedruckten Seiten.
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Wie der Sturmwind Haus Leuchtfeuer heimsuchte
Hoch aus den Lüften im Westen kam ein Wind daher, der wie eine Woge maßlosen Glückes ostwärts durch ganz England raste und einen kühlen Waldesduft und den kalten Rausch des Meeres hinterließ. In Millionen Winkel und Ecken drang er hinein und erfrischte wie ein kalter Trunk und überraschte wie ein Schlag. In den verstecktesten Gemächern verborgener, winkeliger Häuser rüttelte er, wie eine häusliche Explosion, alles auf; er wehte die Papiere irgendeines Professors auf die Erde und wirbelte sie umher, bis sie, weil sie davonflogen, kostbar erschienen, oder er blies eine Kerze aus, bei deren Schein ein Knabe die »Schatzinsel« las, und hüllte ihn in tosende Dunkelheit. Überall brachte er Bewegung in unbewegte Menschenleben, gleich einem Sieger, der die Welt verwandelt. In einem armseligen Hinterhof hatte so manche besorgte Mutter fünf zwerghafte, auf einer Waschleine hängende Hemdchen betrachtet, die wie eine kümmerliche kleine Tragödie aussahen, als ob sie ihre fünf Kinder erhängt hätte. Da kam der Wind, und sofort waren die Hemdchen feist und strampelnd, als ob fünf dicke Kobolde in sie hineingesprungen wären, und in dem bedrückten Unterbewußtsein der Mutter stieg eine dunkle Erinnerung an jene naiven Lustspiele ihrer Vorfahren auf, als die Elfen noch unter den Menschen weilten. So manches unbeachtete Mädchen hatte sich in einem feuchten, von Mauern eingeschlossenen Garten mit derselben verzweifelten Geste in eine Hängematte geworfen, mit der sie sich in die Themse hätte werfen können, aber dann kam jener Wind und riß die wehende Wand der Wälder entzwei, hob die Hängematte wie einen Ballon und zeigte dem Mädchen in weiter Ferne groteske Wolkengestalten und Bilder von heiteren Dörfern weit unter ihr, als führe sie in einem Zaubernachen durch das Himmelszelt. So mancher verstaubte Beamte oder Hilfsgeistliche, der auf einer endlosen, teleskopartigen, von Pappeln umsäumten Straße müde dahinschritt, dachte zum hundertsten Male, wie sehr die Bäume den wehenden Federn auf einem Leichenwagen ähnelten, als diese unsichtbare Kraft sie packte und tosend um seinen Kopf schleuderte, wie eine Girlande oder einen Gruß von Engelsschwingen. Dieser Wind hatte eine Kraft, die begeisternder, gebieterischer war als der alte Wind des Sprichwortes; denn dieser war ein guter Wind, der keinem etwas Böses brachte. Dieser Wirbelsturm traf gerade die nördlichen Höhen Londons, dort, wo die Stadt steil, terrassenartig, wie in Edinburgh, aufsteigt. Auf dieser Stelle ungefähr war es, wo ein Dichter – wahrscheinlich war er berauscht – erstaunt auf alle diese himmelwärts strebenden Straßen blickte. Gletscher und aneinandergeseilte Bergsteiger schwebten ihm dabei vor, und er nannte diese Stelle »Schweizerhütte«; seitdem ist sie diesen Namen nicht mehr losgeworden. An der Westseite jenes steilen Abhanges stand in einiger Höhe im Halbkreis eine Reihe von hohen, grauen Häusern, die fast so kahl und öde aussahen wie das Grampiangebirge bei Edinburgh. Das letzte Haus dieser Reihe war eine Pension, die sich »Haus Leuchtfeuer« nannte, und glich mit seinem hohen, schmalen, jäh in die Höhe ragenden Giebel im Scheine der untergehenden Sonne dem Bug eines verlassenen Schiffes. Das Schiff war jedoch nicht gänzlich verlassen. Die Besitzerin der Pension, eine Frau Duke, gehörte zu jenen unbeholfenen Menschen, gegen die das Schicksal vergebens Krieg führt; sowohl vor wie nach allen Unglücksfällen lächelte sie nichtssagend; sie war zu weich, um verwundet zu werden. Aber mit Hilfe (oder vielmehr unter dem Befehl) einer energischen Nichte gelang es ihr, den Stamm der Gäste, der hauptsächlich aus jungen, aber tatenlosen Leuten bestand, festzuhalten. Es standen auch jetzt fünf Hausgenossen Frau Dukes trübselig im Garten umher, als der große Orkan an dem turmartig aufstrebenden Giebel hinter ihnen anprallte, so wie die Wellen gegen einen in das Meer hinausragenden Felsen schlagen. Den ganzen Tag war dieser Häuserberg oberhalb Londons von einer kalten Wolke überwölbt und von der übrigen Welt abgeschlossen gewesen. Und doch hatten drei Männer und zwei junge Mädchen zuletzt sogar den grauen und kalten Garten erträglicher gefunden als das dunkle, trostlose Innere des Hauses. Als der Wind kam, zerspaltete er den Himmel, zerteilte rechts und links das Wolkenland und erschloß große, leuchtende Schmelzöfen voll glühenden Abendgoldes. Das befreite Licht und die jäh hervorströmende Luft schienen fast gleichzeitig hervorzubrechen; der Wind besonders packte alles mit erdrosselnder Gewalt. Das leuchtende, kurze Gras lag nach einer Seite, wie frisch gebürstetes Haar. Jeder Strauch im Garten zog an seinen Wurzeln wie ein Hund an der Leine, und jedes tanzende Blatt streckte sich förmlich nach dem jagenden, vertilgenden Element. Hin und wieder brach ein kleiner Zweig ab, wie ein von einer Armbrust geschossener Pfeil. Die drei Männer standen steif nach hinten übergebeugt, gegen den Wind gestemmt, als lehnten sie sich an eine Wand. Die beiden Damen verschwanden in das Haus, oder vielmehr sie wurden in das Haus geweht. Ihre Kleider, das eine blau, das andere weiß, glichen zwei geknickten Blumen, die der Sturm umhertrieb. Dieser poetische Vergleich ist auch nicht unangebracht, denn es lag etwas seltsam Romantisches in diesem Hereinbrechen von Luft und Licht nach einem langen, bleiernen, niederdrückenden Tag. Das Gras und die Bäume im Garten schienen einen Glanz auszustrahlen, der zugleich wohltuend und unnatürlich war, wie ein Feuer aus dem Feenreich, wie ein eigenartiger Sonnenuntergang zur unrichtigen Tageszeit. Das Mädchen in dem weißen Kleid verschwand tatsächlich sehr schnell in das Haus, denn sie trug einen weißen Hut vom Umfang eines Fallschirms, der sie leicht in die bunten Abendwolken hätte hineintragen können. In jenem düsteren, dürftigen Haus war sie das einzige Wesen, das Helle und Wohlhabenheit ausstrahlte (sie war vorübergehend zu Besuch bei einer Freundin und hieß Rosamund Hunt). Sie hatte eine ganz ansehnliche Erbschaft gemacht, war braunäugig, hatte ein rundes Gesicht und ein resolutes, etwas übermütiges Wesen. Nicht allein daß sie Geld besaß, sie war auch ganz hübsch und gutmütig, aber sie hatte nicht geheiratet, vielleicht weil sie stets von einem Haufen Männer umgeben war. Sie hatte nichts Keckes, obgleich mancher sie vielleicht ordinär genannt hätte, aber auf schüchterne Jünglinge machte sie den Eindruck, umschwärmt, aber unnahbar zu sein. Bei ihr hatte jeder Mann das Gefühl, er hätte sich in Kleopatra verliebt oder er stände am Bühneneingang eines Theaters, um eine berühmte Schauspielerin zu sehen. In der Tat schien Fräulein Hunt etwas Theaterflitter anzuhaften. Sie spielte die Gitarre und die Mandoline und liebte es, Scharaden darzustellen. Bei dieser großen Zerspaltung des Himmels durch die Sonne und den Sturm fühlte sie ein jungfräuliches Melodrama in sich erklingen. Als das lärmende Orchester der Lüfte einsetzte, teilten sich die Wolken wie der Vorhang vor einer langersehnten Vorstellung. Sonderbarerweise machte diese Apokalypse in einem Privatgarten auch auf das Mädchen in dem blauen Kleid Eindruck, obgleich sie das prosaischste, praktischste Geschöpf war, das man sich denken konnte. Es war, in der Tat, niemand anders als die energische Nichte, deren Kraft allein jenes Haus des Verfalls aufrechterhielt. Aber als der Sturm die blauen und weißen Röcke aufblähte, bis sie die ungeheuren, pilzförmigen Konturen viktorianischer Krinolinen annahmen, wachte eine halb erloschene, fast romantische Erinnerung in ihr auf, eine Kindheitserinnerung an einen verstaubten Band von »Punch«, den sie in dem Hause einer Tante gesehen hatte, mit Bildern von Reifröcken und Krocketreifen und einer hübschen Erzählung, die vielleicht mit jenen Bildern zusammenhing. Aber dieser halbverwehte Duft in ihrer Erinnerung verschwand sofort, und Diana Duke ging sogar noch schneller in das Haus als ihre Gefährtin. Groß, schlank, dunkel, adlerartig, schien sie für solche raschen Bewegungen wie geschaffen. Körperlich glich sie jener Rasse Vögel und anderer Tiere, die zugleich schlankleibig und behende sind wie Windhunde oder Reiher oder gar wie eine harmlose Schlange. Das ganze Haus drehte sich um sie wie um einen Stahlstab. Es wäre falsch zu sagen, sie befahl; denn ihre eigene Tüchtigkeit machte sie so ungeduldig, daß sie sich selbst gehorchte, ehe jemand anders dazu kam. Ehe die Elektrotechniker eine Klingel reparieren konnten oder ein Schlosser ein Schloß öffnen, ehe ein Zahnarzt einen losen Zahn entfernen oder ein Diener einen zu fest sitzenden Korken herausziehen konnte, hatte die stille Gewalt ihrer schlanken Hände schon alles getan. Sie war leichtfüßig, aber es war nichts Hüpfendes in ihrer Leichtfüßigkeit. Ihre Füße schienen die Berührung mit der Erde zu verschmähen. Man spricht von der Tragik und den Mißerfolgen unschöner Frauen, aber viel schlimmer ist es noch, wenn eine Frau in allem, außer in der Weiblichkeit, Erfolge zu verzeichnen hat. »Es ist ein Sturm, um einem den Kopf abzureißen«, sagte das junge Mädchen in dem weißen Kleid und trat vor den Spiegel. Das junge Mädchen in dem blauen Kleid antwortete nicht, sondern legte ihre Handschuhe, die sie für Gartenarbeit benutzte, beiseite, dann ging sie an das Büfett und begann den Tisch zum Nachmittagstee zu decken. »Um einem den Kopf abzureißen«, wiederholte Fräulein Rosamund Hunt mit der ruhigen Gelassenheit jener Frauen, die gewohnt sind, daß ihre Lieder und Worte mit Beifall aufgenommen werden. »Höchstens um dir den Hut abzureißen«, meinte Diana Duke, »aber der ist wohl manchmal noch wichtiger.« Einen Augenblick lang glitt der gekränkte Ausdruck eines verwöhnten Kindes über das Gesicht...




