E-Book, Deutsch, Band 1, 288 Seiten
Reihe: White Fox
Chen White Fox (Band 1) - Der Ruf des Mondsteins
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7320-1578-8
Verlag: Loewe Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Begleite Polarfuchs Dilah auf seiner spannenden Mission - Actionreiches Fantasy-Kinderbuch ab 9 Jahren
E-Book, Deutsch, Band 1, 288 Seiten
Reihe: White Fox
ISBN: 978-3-7320-1578-8
Verlag: Loewe Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jiatong Chen zählt zu den erfolgreichsten Autor*innen Chinas. Er hat in Peking an der Beihang Universität studiert und dort seinen Masterabschluss in Ingenieurswissenschaften absolviert. Schon während seiner Studienzeit begann er, an seiner Buchreihe 'White Fox' zu schreiben.
Autoren/Hrsg.
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KAPITEL 1
Geheimnisse und eine Legende
Weit, weit weg am Nordpol lag die Welt in nächtlicher Ruhe und Stille. Blaue Polarlichter flackerten über den samtig schwarzen Himmel und wanden sich wie ein zartes, schimmerndes Band zwischen den funkelnden Sternen hindurch. Das endlose Weiß der verschneiten Ebenen und Hügel erwachte aus seinem tiefen Schlummer, als eine sanfte Brise die glitzernden Schneekristalle aufwirbelte und in der Dunkelheit tanzen ließ.
Unter der dicken Schneeschicht befand sich ein unterirdischer Bau. Dort drin war es stockfinster, doch wenn man genau hinhörte, konnte man Stimmen vernehmen, die leise nach draußen drangen.
»Mama!«, rief ein Kind.
»Was ist, mein Schatz?«, fragte die Mutter lächelnd.
»Ich kann nicht schlafen.«
»Hat da jemand wieder zu lange Mittagsschlaf gehalten, hm?«, neckte die Mutter es sanft.
»Mama, kannst du mir eine Geschichte erzählen? Die von Merla?«
»Die habe ich dir doch schon so oft erzählt.«
»Trotzdem!«
»Wie du möchtest. Dann hör gut zu«, antwortete die Mutter zärtlich. »Es war einmal vor mehr als tausend Jahren, da lebte eine Polarfüchsin namens Merla. Sie war sehr weise und alle blickten zu ihr auf. Es heißt, dass ihr Körper ganz mit feuerrotem Pelz bedeckt war, was unter Polarfüchsen äußerst selten vorkommt …«
Der kleine weiße Fuchs, der sich dort unten im Bau an seine Mutter schmiegte, ist der Held unserer Geschichte: Dilah. Er lag zusammengerollt neben ihr und kuschelte sich in ihren weichen, buschigen Schwanz, während er ihrer Stimme lauschte. Hin und wieder berührte seine Nase ihr Kinn. Er war der glücklichste kleine Fuchs auf der ganzen weiten Welt.
Der Bau, in dem Dilahs Familie lebte, lag tief unter den verschneiten Ebenen des Polarkreises. Der Boden war mit weichem Heu bedeckt, sodass es dort immer warm und gemütlich war. Dilahs älterer Bruder Aljoscha hatte den Bau verlassen und sich einem Rudel umherstreifender Polarfüchse angeschlossen, als er ein Jahr alt geworden war (das ist das Alter, in dem Füchse erwachsen werden). Damals war Dilah noch gar nicht geboren. Inzwischen war er selbst schon fünf Monate alt, aber weil er das einzige Jungtier im Bau war, hatte er die Liebe und Zuneigung seiner Eltern ganz für sich allein. Abends, wenn es Zeit zum Schlafen war, bettelte er so lange, bis seine Mutter ihm eine Gutenachtgeschichte erzählte, und tagsüber sprang er auf den Rücken seines Vaters und ließ sich von ihm herumtragen. Der kleine Dilah kannte keinen Kummer und keine Sorgen.
Allerdings war seine Familie seit seiner Geburt schon dreimal umgezogen. Sie wechselten von einem gut versteckten Unterschlupf zum nächsten und mieden dabei jeglichen Kontakt zu anderen Tieren. Seltsamerweise wurden sie trotzdem früher oder später immer von ein paar anderen weißen Füchsen aufgespürt. Ganz egal, wohin es sie auch verschlug. Jedes Mal, wenn das passierte, schickte Papa Dilah weg. Dann ging er zu den Füchsen, um mit ihnen zu reden. Dadurch hatte Dilah noch keinen einzigen Freund gefunden.
Am Rande der verschneiten Ebene lag ein kleines Dorf namens Lapula. Die Menschen, die dort lebten, waren vom Rest der Welt praktisch abgeschnitten. Im nördlichen Teil des Dorfs stand ein kleines zweistöckiges Haus mit einem roten Dach, das jedoch meistens unter einer dicken Schneedecke verschwand, und einem Schornstein, aus dem dichter schwarzer Rauch aufstieg. Ein gepflasterter Weg führte von der Haustür zu dem weißen Lattenzaun, der das Grundstück umgab. Der Weg war vor Kurzem geräumt worden – links und rechts türmte sich der Schnee auf. Ein großes schwarzes Auto parkte in der Auffahrt neben dem Garten, in dem ein paar wackere Kiefern wuchsen, denen selbst das eisige Wetter nichts anhaben konnte.
Dilah stattete dem Haus fast täglich einen Besuch ab, wobei er sich von Mal zu Mal näher heranwagte. Auch an diesem Morgen sah er zu, wie der Mann mit dem Auto direkt vor dem Gartentor hielt und mit laufendem Motor wartete, während aus dem Auspuff dichte Rauchwolken quollen. Dilah schlich näher an den Zaun heran und ließ sich auf einer Schneewehe nieder. Von dort konnte er durch das Fenster ins Haus blicken, in dem zwei Kinder gerade die Treppe hinuntergepoltert kamen. Mit seinen feinen Ohren konnte Dilah das Knarren der hölzernen Stufen hören.
»Bella, du hast deine Mütze verkehrt herum auf!«, rief die Mutter der Kinder. Sie hatte blondes, lockiges Haar, bemerkte Dilah. »Und Peter, wenn du deinen Schal noch einmal so anziehst, stricke ich dir nächsten Winter keinen mehr, das schwöre ich! Jetzt beeilt euch, sonst kommt ihr zu spät zur Schule.«
Peter kicherte und wickelte sich den Schal fest um den Kopf.
Die Frau öffnete die Tür und die beiden Kinder stürmten hinter ihr aus dem Haus. Peter hatte dicke blaue Handschuhe, eine blaue Mütze, eine gelben Schal und einen flauschigen bunten Wintermantel an. Bella trug einen Rucksack über ihrem langen rosafarbenen Mantel und eine hohe weiße Mütze mit einem riesigen Bommel auf dem Kopf. Sie sah aus wie ein Schneemann.
Obwohl Papa ihn mehr als einmal gewarnt hatte, sich von den Menschen fernzuhalten, trieb die Neugier Dilah immer wieder dorthin. Auch jetzt konnte er den Blick einfach nicht abwenden: nicht von dem Haus, das dunkle Rauchwolken ausspuckte, nicht von dem tuckernden, brummenden Auto und erst recht nicht von den bunten Farben der Kleidung … Menschen waren so faszinierend!
Der Mann ließ das Seitenfenster herunter. »Jetzt steigt schon ein, Kinder!«, drängte er.
Die Mutter lief zum Auto und öffnete die Tür zum Rücksitz. »Peter, versuch diesmal, im Unterricht besser aufzupassen. Deine Lehrerin hat sich schon so oft bei mir beschwert!«
»Ja, Mam«, antwortete Peter genervt und stapfte auf die geöffnete Tür zu.
»Oh! Peter, guck mal da – schnell!« Aufgeregt zeigte Bella in Richtung Gartenzaun.
Peter folgte ihrem ausgestreckten kleinen Kinderfinger mit dem Blick. »Wow!«
Dilah erschrak, aber gleichzeitig verspürte er eine unbändige Freude. Er blieb vollkommen reglos sitzen, obwohl ihm das Herz bis zum Hals schlug. So, wie er da im Schnee saß, musste er ein wenig an ein magisches Winterwesen erinnern: zwei funkelnde, hellwache schwarze Augen, zwei kleine runde Ohren und ein buschiger Schwanz, der wie der Rest seines makellos weißen Körpers förmlich mit dem Schnee verschmolz.
»Wie wunderschön!«, hauchte die Frau.
»Was ist los?« Der Mann reckte den Kopf aus dem Autofenster und verrenkte sich schier den Hals, um herauszufinden, was die anderen entdeckt hatten. Die Kälte färbte sein Gesicht augenblicklich knallrot. »Oh, ein Polarfuchs … die sieht man tatsächlich nicht oft.«
Bella winkte Dilah freundlich zu und Peter stieß einen leisen Pfiff aus. Neugierig legte Dilah den Kopf schief.
»Na los, Kinder. Ihr kommt sonst wirklich zu spät. Ab ins Auto. Zack, zack!«, befahl die Frau mit einem Blick auf ihre Armbanduhr.
»Aber Mam«, wandte Bella leise ein, »können wir nicht …«
»Vielleicht ein andermal«, antwortete die Frau lächelnd. »Wenn ihr Glück habt, kommt unser kleiner Freund uns bald wieder besuchen.« Sie hob Bella hoch und küsste sie zum Abschied, dann drückte sie Peter einen Schmatzer auf die Stirn. Peter sah sie empört an.
»Tschüss!«, rief Bella Dilah freundlich zu, sprang ins Auto und winkte noch einmal. Peter kletterte widerstrebend hinter ihr her.
»Verabschiedet euch von eurer Mutter«, sagte der Mann.
»Tschüss, Mam.«
»Bis heute Abend«, erwiderte die Frau und zog ihren Mantel fester um sich.
Das Auto und mit ihm das Dröhnen des Motors verschwanden in der Ferne. Die Frau stand da und sah zu, wie es kleiner und kleiner wurde. Dann fiel ihr plötzlich der weiße Fuchs wieder ein. Sie drehte sich um, doch er war nirgends mehr zu entdecken. Nur eine Spur aus kleeblattförmigen Pfotenabdrücken im Schnee wies noch auf seine Anwesenheit hin.
Von da an fühlte Dilah sich wie eine Biene, die von einer Blume angezogen wurde – er konnte nicht anders, als immer wieder zum Haus hinüberzuschleichen und heimlich die Familie darin zu beobachten. Er mochte es, auf diese Weise an ihrem glücklich und zufrieden wirkenden Leben teilzuhaben. Seinen Eltern erzählte er allerdings nichts davon. Manchmal bemerkten die Kinder ihn. Bella geriet jedes Mal in Aufregung und rief ihre Mutter herbei, damit sie ihn zusammen bewundern konnten. Peter dagegen blieb lieber allein. Er kam aus dem Haus, schlich behutsam zum Zaun und streckte Dilah die Hand entgegen. Als es noch kälter wurde, machten die Kinder sich Sorgen, dass der kleine Fuchs dort draußen erfrieren könnte. Sie boten an, ihm ihre eigenen Mützen und Schals anzuziehen, um ihn warm zu halten. Doch Dilah dachte an Papas Warnung und achtete darauf, die Menschen nie zu nah an sich heranzulassen.
Schon bald ging Dilah die Familie gar nicht mehr aus dem Kopf. Er sehnte sich danach, ein Mensch zu sein, und träumte davon, wie wundervoll es wäre, wenn Mama, Papa und er in einem Haus leben würden, das Rauchwolken ausstieß. Dann könnten sie auch mit so einem brummenden Auto herumfahren und kunterbunte Kleidung tragen … was für ein erfülltes, abwechslungsreiches Leben das wäre! Außerdem müssten sie dann bestimmt nicht mehr so oft umziehen. Menschen waren die mächtigsten Lebewesen auf der Welt: Sie hatten vor gar nichts Angst.
Eines Abends saß Dilah auf seinem gewohnten Platz am Zaun und beobachtete wie immer fasziniert das Treiben der Familie im Inneren des Hauses. Im Westen versank die Sonne als glühender Ball hinter dem Horizont und tauchte die Schneeflächen ringsum in ein blutrotes Licht, während...




