Chen | Geisterdämmerung | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 383 Seiten

Chen Geisterdämmerung


1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7518-1011-1
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 383 Seiten

ISBN: 978-3-7518-1011-1
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Nach mehreren Jahren Haft in einem Berliner Gefängnis kehrt Tianhong zurück in sein taiwanisches Heimatdorf: Yongjing, was ewiger Frieden bedeutet, doch für Tianhong alles andere ist als das. Als jüngstes von sieben Geschwistern wuchs er mit Aberglauben, Klischees und unverrückbaren Rollenbildern auf und floh nach Berlin, in der Hoffnung, dort ein freies, selbstbestimmtes Leben als homosexueller Mann führen zu können. Doch seine Ehe mit einem Deutschen beendet er mit dem Mord an ihm. Wie konnte es dazu kommen? Am Tag des Geisterfestes, just dem Tag seiner Rückkehr ins Dorf, beschwört Tianhong einen vielstimmigen Chor aus Lebenden und Verstorbenen, gegenwärtigen und vergangenen Erfahrungen herauf, und Stück für Stück bildet sich ein Mosaik der Leben zwischen den Extremen ab: Dort ist die tote Mutter, die sich immer nur wünschte, einen Sohn zu gebären, doch zuerst nur fünf Töchter bekam; der Ehemann, der aus Hoffnung auf einen großen Preis Orchideen züchtete; die Schwester, die sich aus Angst vor dem, was sich hinter den Fenstern verbirgt, ins Dunkel zurückzog, und der Dorfdepp, der der Schlaueste von allen war. In einem wirbelnden Sog verknüpft Kevin Chen Geschichten von Familiengeheimnissen mit freundschaftlichem Zusammenhalt, von Neugier nach der Fremde mit einem unbegreiflichen Heimweh, von Armut und Macht mit dem unermüdlichen Kampf für die eigene Identität.

Kevin Chen, 1976 in Changua, Taiwan, geboren, begann seine künstlerische Karriere als Filmschauspieler und spielte in den taiwanesischen und deutschen Filmen Ghosted, Kung Bao Huhn und Global Player mit. Heute lebt er in Berlin und arbeitet als Autor für die Zeitschrift Performing Arts Review.

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1. Die erste Reihe Einfamilienhäuser
»Woher kommst du?« Das war die erste Frage, die T ihm gestellt hatte. T hatte ihm viel gegeben: einen deutschen Pass, ein neues Zuhause, eine Fluchtmöglichkeit und jede Menge Zweifel. Am Anfang liebte T es, Fragen zu stellen: Wie sieht deine Heimat aus? Wie viele Geschwister hast du? Wie heiß ist der Sommer auf der Insel? Gibt es dort Zikaden? Oder Schlangen? Wie sehen die Bäume aus? Wie lauten ihre Namen? Gibt es dort Flüsse? Oder Kanäle? Wann ist Regenzeit? Gibt es Überflutungen? Ist der Boden fruchtbar? Was wird angebaut? Warum kann ich dich nicht auf die Beerdigung deines Vaters begleiten? Warum willst du nach Hause? Warum willst du nicht nach Hause? Diese Fragezeichen zogen an seinen Haaren und schnitten ihm in die Haut. Sie waren so schwer zu beantworten, dass er sich ihnen gar nicht stellen wollte. Er wich ihnen aus, erfand Lügen, bis seine ausgedachte Lebensgeschichte so voller Lücken klaffte und so viele Widersprüche aufwies wie ein schlecht geschriebener Roman. Also versuchte er, einen zu schreiben. Das erste Kapitel begann mit einem Tisch, auf dem eine Pistole, zwei Messer und drei Tagebücher lagen. Die Pistole sollte im nächsten Kapitel abgefeuert, mit dem Messer sollte zerstückelt und geschält werden und die Tagebücher sollten das Rätsel der Geschichte lösen. Aber der Roman über sein Leben war ein einziges Chaos. Während er schrieb und schrieb, vergaß er die Pistole, das Messer und die Tagebücher. Stattdessen dachte er an den Krimskrams und Müll, der auf dem Tisch verteilt war. Unentwegt schrieb er über unwichtige Details, wie über das Poster, das an der Wand klebte, über Hongduanku und das mit einer Plastiktüte bedeckte Gesicht. Eine verdorbene Person brachte einen verdorbenen Roman hervor, der genauso durchlöchert war wie sie selbst. Löcher, in die er all das stopfte, über das er nicht sprechen wollte, all die Erlebnisse, die aus seiner Erinnerung ein Schlachtfeld gemacht hatten, von denen er vorgab, sie vergessen zu haben. Wenn die Löcher weiter aufrissen, fiel eine Unzahl an Geschichten heraus. Wie sollte er sie erzählen? Oder aufschreiben? Unfähig, sie auszusprechen, blieb ihm nichts anderes übrig, als sie weiter aufzuschreiben: Ich komme aus einer kleinen Ortschaft. Meine Heimat ist ein kleines Dorf namens Yongjing im Landkreis Changhua in Zentral-Taiwan. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts besiedelten es zunächst Menschen aus der Provinz Guangdong und errichteten auf dem ebenen Brachland ihre sporadischen Behausungen entlang einer großen Straße. Es gab tatsächlich einen kleinen Fluss in seinem Heimatdorf, einen von Menschen gegrabenen, so wie das, was T wohl mit einem »Kanal« gemeint hatte. Der älteste der »Kanäle«, von denen die meisten eher schlichten Gräben glichen, bezog sein schlammiges Wasser aus dem Zhuoshui Fluss, mit dem die Bauern seit dem 18. Jahrhundert ihre Felder bewässerten. Weil die Ortschaft schon in den ersten Gründungsjahren von Kämpfen zwischen verschiedenen Siedlergruppen sowie Feuersbrünsten und Flutkatastrophen geplagt war, wählte man für sie den Namen »Yongjing«, in der Hoffnung, den »ewigen« ( yong) »Frieden« ( jing) zu bewahren. Das Land war flach, ohne den kleinsten Hügel, doch wenn man Richtung Osten in die Ferne blickte, konnte man die jadegrünen Bergreihen der Insel erkennen. Richtung Westen, war der Zhuoshui Fluss nicht zu sehen, noch nicht mal zu hören. Liefe man immer weiter nach Westen, so behaupteten die Älteren, käme man irgendwann an die Formosastraße, jene Meerenge, die Taiwan von China trennt. Nur wenige waren je so weit gekommen. Die Bewohner bewirtschafteten das Land und hatten es noch nie verlassen. Sie hatten weder jemals einen Berg bestiegen noch je das Meer gesehen. Der feuchte Boden war fruchtbar und erbrachte Blumen, Betelnüsse und Reis. Die dörfliche Landschaft mit ihren niedrigen Bauernhäusern ist nach jahrhundertelanger Kultivierung bis heute erhalten geblieben. Die traditionellen Dreikanthöfe waren zu nationalen Denkmälern ernannt worden, doch Touristen kamen nur selten für einen Besuch vorbei. Der Wohlstand war hier noch nicht angekommen. In den Siebzigerjahren erwarb eine Baufirma von außerhalb ein Stück Land in Yongjing und begann die erste Reihe Einfamilienhäuser zu bauen. Zehn eng beieinanderstehende Reihenhäuser, jedes mit mehreren Stockwerken, sollte einen Vorgeschmack auf den baldigen Wohlstand des kleinen Ortes geben. Sobald die Gebäude in die Höhe schossen, würde auch er aufstreben. Damals hatten viele Einwohner Yongjings noch nie ein mehrstöckiges Gebäude gesehen, geschweige denn eines aus Stahlbeton, mit Terrazzoböden oder Toiletten mit Spülung. In einem der Häuser aus der ersten Reihe war Tianhong aufgewachsen. Das fünfte von links war sein Zuhause, das sechste von links stand mittlerweile leer, hatte früher aber einmal seiner ältesten Schwester gehört. Im siebten Gebäude von links war einmal eine Videothek gewesen, jetzt war es völlig verkohlt und am Balkon baumelte ein »Zu verkaufen«-Schild. Das »Zu verkaufen«, chushou, hing dort schon einige Jahre, sodass Teile des zweiten Zeichens shou für »verkaufen« bereits abgeblättert waren und nun stattdessen das Zeichen kou für »Mund« zu sehen war, wodurch die zwei Zeichen zu chukou, also »Ausgang«, wurden. Vor lauter Flecken war die Telefonnummer darunter kaum zu erkennen. Gedankenverloren starrte er auf das Ausgangsschild. So viele Jahre hatte er im Gefängnis verbracht, wo er wirklich einen Ausgang gebraucht hätte, nun aber war er hierher zurückgekehrt. Das hier konnte unmöglich sein »Ausgang« sein, das wusste er selbst am besten. Wenn er dem fleckigen Ausgangsschild immer weiter folgen würde, könnte es ihn dann vielleicht zurück führen zu Hongduanku? Die älteste Schwester war die einzige, die hiergeblieben war. Shumei wohnte jetzt im fünften Haus von links, seinem alten Zuhause. Für ihn war die kleine Ortschaft ein Geisterdorf, weit abgelegen von jeglicher großen zivilisierten, internationalen Metropole. Seine Heimat war eine Einöde, niemand hatte je von ihr gehört. Als Taiwans Wirtschaft in den Siebzigerjahren verrücktspielte, konnte die kleine Ortschaft nicht mithalten. Die Jungen und Gebildeten gingen fort und kamen nicht wieder. Sie vergaßen den Namen des Ortes und ließen die Alten und Schwachen, die nicht wegkonnten, zurück. Der Ortsname, ursprünglich als Ausdruck der Hoffnung gewählt, war zu einem Fluch geworden. Er hatte sich verwirklicht, aber statt ewigem Frieden herrschte ewige Stille. Dieses Jahr war der Sommer in Zentral-Taiwan sehr trocken. Nachmittags wurde die Straßenoberfläche zum Herd, man musste gar kein Gas im Ofen anstellen, sondern konnte einfach auf der Fahrbahn Eier und Reis braten oder Reisbrei schmoren. Tianhong war lange nicht mehr zurückgekehrt, doch alles, was er sah, entsprach seiner Erinnerung. Es war so heiß. Die Nachmittagshitze ließ die Zeit langsamer vergehen, die Bäume machten Mittagsschlaf, der Wind wehte nur träge. Hielt man die Luft an, konnte man den Boden atmen hören, der aus seinem Tiefschlaf bis zum nächsten Regen nicht erwachen wollte. So ein Wetter hatte ihn in seiner Kindheit oft unter einem Baum in einen tiefen Schlaf versetzt, aus dem ihn weder das Krähen des Hahnes, das Gebrüll der Zikaden, das Quieken der Schweine noch das Blöken der Ziegen aufwecken konnten. Als Erwachsener fand er keinen Schlaf mehr. Im Gefängnis war es zu ruhig gewesen, kein Regen war zu hören, kein Wind oder herabfallende Blätter. Es sei zu leise, wie er da einschlafen solle, hatte er den Gefängnisarzt gefragt. Helfe denn das Schlafmittel? Wenn er es einnähme, könnte er dann den Klang des Regens hören?, hatte er den Arzt fragen wollen, es aber nicht über die Lippen gebracht. Zu Hause schlug der Regen auf das Metalldach wie laute, feierliche Trommeln und Becken. Sobald Tianhong das Regengeräusch hörte, schlief er ein. Für diesen Klang des Regens war er zurückgekommen. Doch jetzt hörte er nicht den prasselnden Regen, sondern das Klicken der Nähmaschine. Das war seine älteste Schwester. Shumei trat auf die Pedale, während im Fernseher eine mittägliche Seifenoper lief, in der die böse Schwiegermutter gerade die arme Schwiegertochter geohrfeigt hatte. Die Hühner gackerten, der Ventilator summte, aus einem anderen Dorf tönte das Knallen von Feuerwerkskörpern herüber. Tianhong hatte mehrere Tage am Stück nicht mehr richtig geschlafen, viele Male war er während der Flugreise umgestiegen. Seine Wahrnehmung war vernebelt. Wo genau befand er sich? Er war sich nicht sicher. Es war das Klicken der Nähmaschine, das ihm unmissverständlich klarmachte, dass er wirklich in das Geisterdorf zurückgekehrt war. Geisterdörfer sind verlassene Orte, doch gab es hier wirklich Geister? Auf dem Land wimmelte es von Geistern, die in den Erzählungen der Menschen lebten. Im dichten Bambuswald gegenüber der Häuserreihe spukte ein Frauengeist, dem man sich unter keinen Umständen nähern durfte. Es war der Geist einer Frau, die während der japanischen Besatzung vergewaltigt worden war. Da ihre eheliche Treue deshalb Schaden genommen hatte, wurde sie von der Familie ihres Ehemannes verbannt und erhängte sich im Bambuswald. Seitdem lauerte ihr Geist vor allem jungen Männern auf. Wenn Hunde zum Anbruch der Nacht begannen zu heulen, »bliesen sie auf der Hunde-Trompetenschnecke«, ein taiwanisches Sprichwort, das besagte, dass sie einen Geist gesehen hatten, erklärte die Mutter. »Also schlaf schnell ein und öffne...


Chen, Kevin
Kevin Chen, 1976 in Changua, Taiwan, geboren, begann seine künstlerische Karriere als Filmschauspieler und spielte in den taiwanesischen und deutschen Filmen Ghosted, Kung Bao Huhn und Global Player mit. Heute lebt er in Berlin und arbeitet als Autor für die Zeitschrift Performing Arts Review.

Li, Monika
Monika Li, 1985 in Heidelberg geboren, studierte Germanistik, Philosophie und Sinologie an der Universität Heidelberg und an der National Taiwan University. Seit 2020 übersetzt sie Literatur aus Taiwan und China ins Deutsche.

Kevin Chen, 1976 in Changua, Taiwan, geboren, begann seine künstlerische Karriere als Filmschauspieler und spielte in den taiwanesischen und deutschen Filmen Ghosted, Kung Bao Huhn und Global Player mit. Heute lebt er in Berlin und arbeitet als Autor für die Zeitschrift Performing Arts Review. Monika Li, 1985 in Heidelberg geboren, studierte Germanistik, Philosophie und Sinologie an der Universität Heidelberg und an der National Taiwan University. Seit 2020 übersetzt sie Literatur aus Taiwan und China ins Deutsche.



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