E-Book, Deutsch, 448 Seiten
Chavez All die bösen Taten
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-641-25148-2
Verlag: Blanvalet
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Thriller
E-Book, Deutsch, 448 Seiten
ISBN: 978-3-641-25148-2
Verlag: Blanvalet
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Auf dem Weg nach Hause bemerkt Tierärztin Cassie Larkin einen Mann, der eine junge Frau brutal angreift. Sie hält an, und nachdem sie die Polizei gerufen hat, geht sie aller Warnungen zum Trotz dazwischen. Daraufhin stößt der Angreifer eine seltsame Drohung aus: »Lass sie sterben, und ich werde dich am Leben lassen.« Doch das kann Cassie nicht. Während sie dem Opfer hilft, stiehlt der Unbekannte ihr Auto und verschwindet. Jetzt kennt er ihren Namen, ihre Adresse. Er weiß von ihren Kindern ...
Am nächsten Tag verschwindet Cassies Ehemann spurlos. Ein Zufall? Verzweifelt versucht sie, ihn zu finden, und macht eine schockierende Entdeckung. Nichts geschieht so zufällig, wie es zunächst scheint, und plötzlich ist Cassie gezwungen, eine schier unmögliche Wahl zu treffen, um ihre Familie zu retten …
Heather Chavez ist Absolventin der UC Berkley in Englischer Literatur und hat als Zeitungsjournalistin und Lektorin gearbeitet. Mit ihrem Ehemann und den gemeinsamen Kindern lebt sie in Santa Rosa, Kalifornien. »All die bösen Taten« ist ihr erster Roman.
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1
Wären meine Kinder bei mir gewesen, nichts von alldem wäre passiert. Ich wäre im Minivan bei verriegelten Türen und hochgekurbelten Fenstern sitzen geblieben. Genau wie der Notruftyp mich per Telefon angewiesen hatte.
Aber mein Mann Sam hatte die Grippe. Er hatte Audrey schon vor Stunden abgeholt, und Leo war zum Lernen bei einem Freund, also saß ich allein im Van.
Wie ich in tiefer Dunkelheit so vor mich hin fuhr, kam ich mir vor wie ganz allein auf der Welt. Regenschwere Wolken schoben sich vor den Halbmond, noch fielen nur vereinzelte Tropfen, aber bald würden sich die Schleusen öffnen. In der Rushhour wälzte sich in Santa Rosa ein stetiger Strom aus Eltern auf dem Weg zur Grundschule und aus Angestellten auf dem Weg zu ihrem Bürojob über die zweispurige Straße. Jetzt, einige Stunden später, lag die Straße hingegen beinahe verlassen da, was sowohl der Uhrzeit als auch dem Wetter geschuldet war. Widerwillig schaltete ich die Scheibenwischer an.
Nur ein paar Meilen von zu Hause entfernt klingelte mein Handy in meiner Handtasche. Ein Name erschien auf dem eingebauten Display des Minivans: Sam. Über Bluetooth hätte ich den Anruf leicht entgegennehmen können, doch ich ignorierte ihn. Nach einer Zwölfstundenschicht, in der ich mehrere Dollar in Münzen aus dem Magen eines Labradors gefischt hatte, war ich zu erschöpft für den nächsten Streit. In letzter Zeit schienen all unsere Gespräche mit denselben vier Wörtern zu beginnen:
Sam ließ es nur dreimal klingeln, bevor er aufgab.
In der plötzlichen Stille knurrte mein Magen. Es war das dritte Mal diese Woche, dass ich das Abendessen versäumt hatte, dabei war erst Mittwoch. Wahrscheinlich war das auch der Grund für Sams Anruf gewesen.
Das war ein beliebter Vorwurf.
Ich öffnete den Energydrink, der schon seit Tagen im Getränkehalter steckte, nippte daran und verzog das Gesicht. Wie konnte Leo dieses Zeug nur trinken? Ich war mir ziemlich sicher, dass eine Dose Katzenpisse besser geschmeckt hätte. Trotzdem trank ich ihn halb leer. Koffein war schließlich Koffein.
In einiger Entfernung kam zwischen Eichen und Immergrün das alte Krankenhaus in Sicht. Paulin Creek stieß im Süden an den Campus, dahinter befanden sich nur noch freies Feld und ein Polder. Da das Krankenhaus schon seit Jahren leer stand, hatte niemand einen Grund hier anzuhalten. Und doch glaubte ich zwischen den Gebäuden Bewegung auszumachen. Es prickelte mir kalt im Nacken. Ich schob es auf den Koffeinstoß. Derart abgelenkt, hätte ich beinahe die Gestalt übersehen, die quer über die Straße rannte. Ich zuckte auf meinem Sitz zusammen. Ein Reh? Nein, zweibeinig, also ein Mensch.
Als ich den Arm ausstreckte, um den Energydrink wieder im Getränkehalter abzustellen, zitterte meine Hand, sodass die Dose am Rand der Mittelkonsole hängen blieb. Sie sprang auf den Beifahrersitz, Flüssigkeit lief aus und sammelte sich um meine Handtasche. Für die Schimpfkanonade, die ich losließ, hätte mein pubertierender Sohn Hausarrest bekommen. Ich hielt auf dem Seitenstreifen und zog meine Strickjacke aus, um die Pfütze damit aufzuwischen. Als ich mir dann mit einem Feuchttuch aus dem Handschuhfach die klebrigen Hände abtupfte, sah ich aus dem Augenwinkel einen Fleck neben dem Krankenhauseingang.
Ich kniff die Augen zusammen, um erkennen zu können, was, gerade außerhalb der Reichweite meiner abgeblendeten Scheinwerfer, auf dem Boden lag. Ein Strahl Mondlicht machte die Nacht etwas weniger rabenschwarz, und die Lichter meines Minivans schnitten durch das Geäst und fielen auf den Weg dahinter.
Der instinktgeleitete Teil meines Gehirns lachte mich aus.
Regentropfen prasselten auf die Windschutzscheibe. Ich schaltete das Fernlicht an und konnte jetzt mehr erkennen. Neben der ersten Gestalt gab es noch eine zweite. In der Entfernung wirkten sie ungefähr so groß wie das Brautpaar auf einer Hochzeitstorte.
Ich legte den Gang ein und fuhr langsam vom Seitenstreifen auf den Pfad, der zum Krankenhaus führte, versuchte zu verstehen, was ich sah. Da am nächsten Tag Halloween war, dachte ich zuerst, es könnte sich um zwei Teenager handeln. Welchen besseren Ort gab es für einen Streich als ein Krankenhaus, das verlassen an einem halb bewaldeten Hang lag? Doch beim Näherkommen sah ich klarer. Ein Mann und eine Frau standen in den Lichtkegeln meiner aufgeblendeten Scheinwerfer. Sie stritten. Nein, sie . Sam und ich stritten miteinander, aber das hier war etwas anderes. Hier gab es geballte Fäuste, Stöße, Wut, und deshalb hatte die dunkelhaarige Frau in der Sporthose auch keine Chance.
Die Frau kauerte sich zusammen, senkte das Kinn und versuchte, sich mit ihren über dem Kopf verschränkten Armen zu schützen. Sie machte sich immer kleiner, während der Mann – kahl und einen guten Kopf größer – das Gegenteil tat.
Ich hielt an, ließ den Motor aber laufen. Meine Finger versuchten unbeholfen, die Notrufnummer zu wählen. Die Frau blickte in meine Richtung, doch der Mann in Jeans und weißem T-Shirt drehte sich nicht zu mir um. Weniger als sechs Meter entfernt, und er zuckte nicht einmal.
»Was ist Ihr Notfall?«, fragte der Mann in der Leitstelle.
Die Stimme ließ mich zusammenfahren, und ich konnte kurz nicht antworten. Ich zitterte, überprüfte noch einmal, dass die Türen auch wirklich verriegelt waren, nannte meinen Aufenthaltsort und beschrieb dann das Pärchen.
»Sie kämpfen«, sagte ich.
»Ist er bewaffnet?«
»Ich glaube nicht.«
»Was tut er jetzt gerade?«
Bevor ich noch etwas entgegnen konnte, hob der Mann die Frau hoch und warf sie mit der Leichtigkeit eines Katers, der mit einer Eidechse spielt, die Uferböschung Richtung Bach hinunter. Einen Moment lang schienen meine Scheinwerfer die Frau gegen den Himmel zu nageln. Dann fiel sie und verschwand jenseits des Gestrüpps am Wegesrand.
Ein plötzlicher Druck senkte sich mir auf die Brust. Die Stimme des Mannes in der Leitstelle, die erst einen Moment vorher noch so laut geklungen hatte, erschien mir nun weit weg und verzerrt. Mir stockte der Atem, und mein Blickfeld trübte sich an den Seiten ein. Der Drang, mich zu verstecken, war überwältigend. Was ich da sah, fühlte sich wie eine Erinnerung an, obwohl das nicht sein konnte. Ich hatte keine derartigen Erinnerungen. Und auf einmal fühlte ich mich in meinem verriegelten Auto ebenso verletzlich wie die Frau draußen. Hatte ich eine Panikattacke oder gar einen Schlaganfall? Mein Mund war trocken und meine Zunge ein nutzloser Klumpen. Ich war nicht mehr sicher, ob der Mann in der Leitstelle mich verstand.
, dachte ich.
Der Mann zog etwas aus der Tasche. Ein Handy? Etwas anderes? Dann war er verschwunden, wahrscheinlich ihr hinterher, über den Rand der Böschung.
Ihn verschwinden zu sehen genügte, um mich von dem zu erlösen, was auch immer mir die Sprache verschlagen hatte.
»Er hat etwas in der Hand«, sagte ich.
»Was tut er gerade?« Die Stimme des Mannes am Telefon blieb ruhig, doch ich bekam eine Heidenangst.
»Ich weiß nicht, sie sind nicht mehr hier.«
»Sie haben den Tatort verlassen?«
»Nein, ich kann sie nur nicht mehr sehen.«
Meine Hand senkte sich auf den Türgriff, obwohl ich keineswegs vorhatte auszusteigen.
Als ob der Mann diese Bewegung erahnt hätte, befahl er mir: »Bleiben Sie im Wagen sitzen.«
Ich ballte die Faust um den Griff. Und bevor der Mann noch etwas sagen konnte, steckte ich mein Handy in die Tasche und öffnete die Tür.
Ich bin nicht ganz sicher, warum ich ausgestiegen bin, vielleicht wegen dieses anderen Mädchens, früher. Als ich gerade meine Zwischenprüfung machte, gab es dieses braunhaarige Mädchen in meinem Mikrobiologie-Kurs. Peinlicherweise konnte ich mich nicht an ihren Namen erinnern. wusste ich noch: Dirk. Dirk kam bei einem bestimmten Typ Mann gut an und auch bei einem bestimmten Typ Frau. Nämlich bei dem Typ, der glaubt, dass Eifersuchtsanfälle und die blauen Flecken danach romantisch sind.
Auf einer Party außerhalb des Campus, auf der der zweite Platz irgendeiner Sportmannschaft gefeiert wurde, hatte Dirk offen das Mädchen, dessen Name mir nicht mehr einfiel, über eine Stunde lang wüst beschimpft. Er war nicht ihr Freund, wäre es aber gern gewesen, und bis zu diesem Abend hatte sie es sich vielleicht ebenfalls gewünscht. Dann hatte er sie grob angepackt. Sie geschubst. Als er sie schließlich geohrfeigt hatte, hatte lediglich ein Typ Dirks Arm festgehalten. Doch selbst der hatte Dirk nicht daran gehindert, der jungen Frau aus dem Zimmer zu folgen.
Nur Minuten später stürzte sie über das Balkongeländer. Sie brach sich einen Arm und einige Rippen und hätte sich wohl auch den Schädel gebrochen, wenn nicht eine Hecke ihren Sturz abgefedert hätte, bevor sie auf dem Asphalt aufschlug. Niemand hatte allerdings mitbekommen, ob Dirk sie gestoßen hatte.
Vielleicht war es die Erinnerung an dieses Mädchen, die mich nun aussteigen ließ, vielleicht lag es aber auch nur daran, dass ich oft unbedachte Dinge tat.
Mein Herz überschlug sich. Keine fünf Meter entfernt, auf der Hälfte zwischen dem Wegesrand und dem rauschenden Wasser, stand der Mann über die Frau gebeugt. Die Hand hatte er um ein Springmesser geschlossen....