E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Chapman Der geheime Garten
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-641-26490-1
Verlag: cbj
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Das Buch zum Film -
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-641-26490-1
Verlag: cbj
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mary lüftet bei ihren einsamen Streifzügen durch das Anwesen so manche gut gehütete Familiengeheimisse und lernt ihren kranken Cousin Colin kennen, der eingesperrt in einem Flügel des Hauses lebt. Doch die größte Entdeckung ist für die beiden Kinder der wundersame, geheime Garten. Dieses bezaubernde Fleckchen Erde erwacht mit ihrer Ankunft aus einem Dornröschenschlaf und wird für Mary und Colin zu einem Ort voller Magie, Abenteuer und Glück, der ihr Leben für immer verändern wird.
Das Buch zur großen Kino-Neuverfilmung mit Colin Firth, Julie Walters und Dixie Egerickx.
Linda Chapman, geb. 1969, war früher Lehrerin und schreibt seit einigen Jahren hauptberuflich. Ihre 'Sternenschweif'-Serie ist in Deutschland sehr bekannt. Mit ihren beiden Kindern und zwei Hunden lebt sie in Leicestershire/England.
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3 – Misselthwaite Manor
3
Misselthwaite Manor
Als das Schiff in England anlegte, wurde Mary von einer streng aussehenden Frau mit grauen Haaren abgeholt. Ihr blauer Wollmantel war bis obenhin zugeknöpft, sodass man nicht viel von ihrem Schal sah. Über dem Arm hatte sie eine lederne Handtasche.
Sie musterte Mary von oben bis unten. So wie sie dabei die Stirn in Falten legte, hatte Mary das Gefühl, dass der Frau nicht recht gefiel, was sie sah.
»Ich bin Mrs Medlock«, stellte sie sich vor. »Ich bin die Haushälterin von Mr Craven. Du kommst jetzt mit mir.«
Mary fiel ein Wort ein, dass ihr Vater mal benutzt hatte, um die ältere Tante eines seiner Kollegen zu beschreiben: Er hatte sie formidabel genannt. ›Genau das ist Mrs Medlock‹, dachte Mary, ›formidabel – Respekt einflößend.‹ Aber Mary rief sich ins Gedächtnis, dass die Frau nur die Haushälterin war – eine Bedienstete –, die deswegen trotzdem tun musste, was die Familie von ihr verlangte.
Sie erinnerte sich an ihren Vorsatz, kein Kind mehr zu sein. Also erwiderte sie Mrs Medlocks Blick und sagte kalt: »Wie Sie wünschen.«
Mit hocherhobenem Kopf folgte Mary Mrs Medlock zum Zug, mit dem sie nach Yorkshire fuhren. Als der Schaffner pfiff und der Zug dicke Dampfwolken aus dem Schornstein stoßend die Schienen entlangschnaufte, bemerkte Mary, dass Mrs Medlock sie musterte.
»Nun, du bist ein wirklich unscheinbares kleines Ding, stimmt’s?«, stellte Mrs Medlock mit ihrem Yorkshire-Akzent fest.
Ihre Worte überraschten Mary und sie überlegte, was die Haushälterin damit wohl ausdrücken wollte. ›Wahrscheinlich ist das ihre Art zu sagen, dass ich nicht besonders hübsch bin‹, entschied sie schließlich. Mary ärgerte sich nicht über diese Bemerkung, weil sie sich selbst auch nicht für besonders hübsch hielt. Sie hatte weder das lange goldene Haar einer Märchenprinzessin, noch das rabenschwarze Haar oder die zauberhaften braunen Augen der indischen Mädchen in Ayahs Geschichten. Sie war klein und dünn mit kastanienbraunem Haar. Ihre Haut war blass und ihre neugierigen haselnussbraunen Augen waren fast zu groß für ihr Gesicht.
›Sie hat vollkommen recht‹, dachte Mary. ›Trotzdem ist es seltsam, dass eine Bedienstete so etwas sagt.‹
Sie wandte sich ab und sah aus dem Fenster. Ihr gegenüber setzte Mrs Medlock sich in ihrem Sitz zurecht. »Also, ich weiß ja nicht, was man dir erzählt hat, Mädchen«, begann sie in einem warnenden Tonfall, »aber erwarte bloß keinen Luxus in Misselthwaite. Es ist längst nicht mehr das Anwesen, das es einmal war.«
Ihre Augen blickten in die Ferne und Mary hatte den Eindruck, dass Mrs Medlock in die Vergangenheit zurückblickte.
»Als die junge Herrin noch am Leben war, hatten wir ein komplettes Haushaltspersonal, einen Stall voller Pferde, große Bälle … aber das ist mittlerweile alles anders.« Sie schnalzte empört mit der Zunge. »Diese Vandalen von der Armee! Sie haben das Haus während des Krieges in ein Krankenhaus verwandelt, haben die Verwundeten, die Toten und die Sterbenden hierhergebracht. Sie haben im Garten campiert und ihre Kranken im Ballsaal untergebracht. Sie haben das Haus ganz einfach übernommen – und jetzt weiß man nicht mehr, was man mit dem Haus anfangen soll. Sie haben das Haus ruiniert.«
Mary schwieg.
Mrs Medlock erwartete ganz offensichtlich eine Antwort. »Nun, hast du gar nichts dazu zu sagen?«
»Was für einen Unterschied macht es denn, ob ich etwas dazu sage oder nicht?«, fragte Mary ganz unverblümt.
Mrs Medlocks Augen wurden schmal. Sie musterte Mary eine ganze Weile. »Na, wenn du nicht ein wirklich eigenartiges Vögelchen bist«, sagte sie.
Marys anfängliche Abneigung für die Haushälterin verstärkte sich. Sie wandte sich ab und sah wieder aus dem Fenster, weil sie sich nicht weiter mit ihr unterhalten wollte.
Mrs Medlock rümpfte die Nase, zog ein Buch aus ihrer Tasche und begann zu lesen.
Während der Zug weiter in Richtung Norden fuhr, schaute Mary aus dem Fenster. England war so grau! Regen prasselte gegen die Scheibe. Regennasse Felder erstreckten sich in alle Richtungen. Schafe und Rinder ließen den Regen mit gesenkten Köpfen über sich ergehen. Das hier war so anders als der helle Sonnenschein in Indien. Dort war Regen wie ein lang ersehnter Gast, nach dessen Ankunft Blumen zum Leben erwachten und frisches Grün aus der Erde spross.
Weiter und immer weiter fuhr der Zug, bis sie schließlich an einem Bahnhof hielten und in ein Auto umstiegen, das von einem barschen, ruppigen Mann gesteuert wurde. Schon auf der Fahrt aus dem Bahnhof schlief Mary ein. Als sie wieder aufwachte, sah sie erneut nur endloses Grau auf beiden Seiten der Straße. So etwas hatte sie noch nie zuvor gesehen. »Ist das das Meer?«, fragte sie und deutete auf die tief hängenden Wolken und Nebelschwaden.
»Das Meer!«, schnaubte Mrs Medlock. »Was für eine dumme Bemerkung, Kleine. Das ist das Moor. Wenn der Nebel aufzieht, bleibst du besser im Haus, sonst verirrst du dich noch. Merk dir das.« Sie sagte das in einem Ton, der Mary vermuten ließ, dass sie es wahrscheinlich gar nicht besonders schade finden würde, wenn Mary sich verirren würde.
Mary presste die Lippen zusammen. Sie hatte den Eindruck, dass Mrs Medlock sie ebenso wenig auf Misselthwaite willkommen hieß, wie sie selbst dorthin wollte.
›Na gut‹, dachte Mary bitter, ›soll sie mir doch aus dem Weg gehen – und ich geh ihr aus dem Weg. Ich will sowieso nur, dass alle mich in Ruhe lassen!‹
Sie fuhren jetzt auf einer schmalen Landstraße, die durch das Moor führte, vorbei an Heide, Schafen und wilden Ponys. Ab und zu sah Mary im Nebel etwas Orangefarbenes aufglühen, schwach flackernde rote Flammen. Einmal tauchte eine Gruppe ärmlich gekleideter Menschen auf, die neben einem Pferdekarren herliefen, aber als Mary genauer hinschauen wollte, hatte der Nebel ihre schattenhaften Umrisse schon wieder verschluckt.
Diese Reise dauerte endlos.
Endlich bogen sie in eine lange Auffahrt und fuhren durch einen Park auf ein riesiges Gutsgebäude zu, dessen Erker und Türme sich scharf gegen den dämmrigen Himmel abzeichneten. Ein einziges schwaches Licht kam aus einem der oberen Fenster.
»Wir sind da«, verkündete Mrs Medlock mit unverkennbarem Stolz in der Stimme, während sie die dunkle und bedrohlich wirkende Silhouette betrachtete. »Misselthwaite!«
Als das Auto durch das Tor fuhr, bemerkte Mary ein Rotkehlchen auf einem der Pfeiler. Einen Augenblick lang schaute es Mary direkt an, dann flog es davon.
Das Auto hielt an. Mary sah an dem riesigen Gebäude empor und bekam Gänsehaut. Es sah aus wie ein Ort, an dem nachts Geister und Erscheinungen herumwanderten.
»Das ist jetzt dein neues Zuhause«, sagte Mrs Medlock. »Du hast das der Großzügigkeit deines Onkels zu verdanken.« Sie musterte Mary mit einem strengen Blick. »Und wenn du ihn siehst, darfst du ihn nicht anstarren, Kind. Hast du das verstanden?«
Mary war überrascht. Wie um alles in der Welt kam Mrs Medlock denn darauf, dass sie ihren Onkel anstarren würde?
Mrs Medlock fuhr fort. »Er hat ja nun wirklich schon genug durchgemacht, der arme Mann. Und, verstehst du, weil du aussiehst, wie du nun einmal aussiehst … Nein.« Sie schüttelte den Kopf, als ob das zu viel wäre. »Ein Schatten. Das solltest du hier auf Misselthwaite sein, mein Kind. Nur ein Schatten.«
Mary konnte sich nicht vorstellen, wieso ihr Aussehen ihren Onkel aus der Fassung bringen sollte. Doch noch ehe sie danach fragen konnte, ging Mrs Medlock schon die Treppen hinauf voraus zu der hölzernen Haustür mit den schweren Eisenbeschlägen. Sie betraten den riesigen Eingangsbereich. Porträts von streng dreinblickenden Damen und Herren an den Wänden musterten sie, und eine breite Treppe führte nach oben zu einem Absatz mit einem riesigen Fenster.
Dieses Haus war das genaue Gegenteil zu der hellen freundlichen Villa, in der sie in Indien gelebt hatte.
»Zu allererst«, sagte Mrs Medlock und marschierte zu einem Messingschalter an der Wand, »musst du wissen, wir sind hier voll elektrisch!« Sie betätigte den Schalter und der enorme Kronleuchter, der mitten in der Eingangshalle hing, erstrahlte – allerdings nur ganz kurz. Dann gab es ein zischendes Geräusch und es war wieder dunkel. Mrs Medlock zog die Augenbrauen hoch. »Was allerdings nicht bedeutet, dass es immer funktioniert. Wenn du also nachts mal rausmusst, nimmst du dir besser eine Lampe mit. Zweitens: unser Herr ist Witwer und lebt hier alleine. Er hat versprochen, dass er bald jemanden holen wird, der sich um dich kümmert, aber in der Zwischenzeit solltest du nicht erwarten, dass du hier Leute findest, die sich mit dir unterhalten, denn die gibt es nicht.«
Sie standen immer noch in der beeindruckenden Eingangshalle, aber Mary war entschlossen, sich nicht einschüchtern zu lassen. Sie reckte ihr Kinn und erwiderte: »Ich brauche niemanden, der mich unterhält. Ich bin kein Kind.«
Zufrieden sah sie den überraschten Blick der Haushälterin.
Mrs Medlock drehte sich ohne ein weiteres Wort um und ging auf der breiten Treppe voraus nach oben. Im ersten Stock folgte Mary ihr in einen langen, düsteren Korridor.
»Dieses Haus ist sechshundert Jahre alt«, erklärte Mrs Medlock während sie an einer schier endlosen Reihe geschlossener Türen vorübergingen. »Hier gibt es an die hundert Zimmer. Man wird dir sagen, welche du betreten darfst und welche nicht. Aber bis dahin bleibst du in deinen Zimmern und nur dort. Hast du das...