E-Book, Deutsch, 544 Seiten
Chapman Der Analyst
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-641-13166-1
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Thriller
E-Book, Deutsch, 544 Seiten
ISBN: 978-3-641-13166-1
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Drew Chapman wuchs in New York City auf und ist hauptberuflich Drehbuchautor für Film und Fernsehen. Zu seinen größten Erfolgen gehören 'Pocahontas' und 'Iron Man'. Mit dem Thriller 'Der Analyst' um das Zahlengenie Garrett Reilly und die Agentin Alexis Truffant gelang ihm ein gefeiertes Romandebüt. 'Der Trader' ist die hoch spannende Fortsetzung. Drew Chapman ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt abwechselnd in Los Angeles und Seattle.
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JENKINS & ALTSHULER, NEW YORK CITY, 24. MÄRZ, 11:02 Uhr
Irgendjemand verkauft heimlich U. S. Treasuries?«, fragte Avery Bernstein und strich sich die paar dünnen Haarsträhnen aus der hohen fünfundfünfzig Jahre alten Stirn, während sich ein Anflug von Verärgerung in seine raue Stimme mit dem Brooklyn-Akzent schlich.
»Im Wert von zweihundert Milliarden«, erwiderte Garrett. »Die Hälfte davon ist heute Morgen an der Börse.«
»Und das ist eine Vermutung? Oder haben Sie einen Beweis?« Avery rollte irritiert die Schultern unter dem Tweedjackett, das er ständig trug, obwohl er kein Universitätsprofessor mehr war und sich jeden italienischen Designeranzug hätte leisten können. Für Avery war der Tweed eine nicht sonderlich subtile Leckt-mich-am-Arsch-Botschaft an alle Wall-Street-Größen: Ich trage, was mir gefällt, zum Teufel noch mal, und verdiene trotzdem mehr Geld als ihr.
Garrett legte seinem Boss einen Stapel gedruckter Seriennummern auf den Schreibtisch. »Ich weiß es«, sagte er. »Ich hab’s überprüft. Bin mir absolut sicher.«
»Sind Sie der Herkunft jeder CUSIP-Nummer nachgegangen?«, fragte Avery, während er den Papierstapel durchblätterte. Es waren mit Sicherheit hundert Seiten, was ein paar Millionen verschiedene ID-Nummern bedeutete. Dafür hatte er keine Zeit.
»Ja. Na ja, nein. Das musste ich nicht. Ich überfliege die CUSIPs, wenn sie ausgegeben werden. Und wenn sie wieder auftauchen, sehe ich einfach – kann ich die Herkunft sehen. Nicht hier auf dem Papier. Aber in meinem Kopf. Zweihundert Milliarden Dollar seit gestern null Uhr auf dem Markt abgeladen, alle aus derselben Auktion 2001.« Garretts Stimme verlor sich, als er sah, wie Avery ihn unverwandt und eher skeptisch anstarrte.
»Sie lesen CUSIPs, wenn T-Bonds ausgegeben werden? Warum? Zum Spaß?«
Garrett zuckte mit den Schultern. »Nicht direkt zum Spaß. Ich tue es einfach manchmal. Besonders, wenn die World-of-Warcraft-Server langsam sind …«
Avery funkelte Garrett an. Er konnte sich noch an das erste Mal erinnern, als er den sommersprossigen Achtzehnjährigen im hinteren Bereich des Dunham-Lab-Hörsaals in Yale gesehen hatte, wie er sich auf seinem Stuhl lümmelte und es nicht mal für nötig hielt, sich in Averys Seminar über Zahlentheorie für Fortgeschrittene Notizen zu machen. Nichts brachte Avery mehr auf als ein Student, der meinte, er sei zu gut für den Unterrichtsstoff. Als nicht sonderlich subtile Warnung veranlasste er seine wissenschaftliche Hilfskraft, Garrett – und nur Garrett – am Ende der Woche einen Test zur Clusteranalyse zu geben, aber Garretts Punktzahl war so hoch, dass sie kaum zu glauben war. Niemand konnte eine Sequenz aus so vielen diskreten Zahlenreihen herausfinden. Avery ließ Garrett den Test unter Aufsicht und in einem verschlossenen Büro wiederholen, aber seine Ergebnisse waren beim zweiten Mal noch höher.
Am nächsten Tag wechselte die aus dem Feld geschlagene wissenschaftliche Hilfskraft zu den Kunsthistorikern. Und anstatt zu versuchen, Garrett zur Aufmerksamkeit zu zwingen, nahm Avery ihn unter seine Fittiche.
Er betreute Garrett den Rest dieses Jahres, schickte ihn in Doktorandenseminare, wenn er gelangweilt oder abgelenkt zu sein schien, ließ ihn über die Vorhersagbarkeit von Börsenerträgen und die Fluktuation von Zinssätzen forschen und lud ihn sogar gelegentlich am Sonntagabend zum Essen ein. Avery hatte genug Genies in Yale gesehen, aber für Garrett entwickelte er eine besondere Zuneigung. Ja, er war arrogant, oft unausstehlich und manchmal vollkommen blind gegenüber den Gefühlen anderer Leute, aber er war ehrlich. Kompromisslos ehrlich. Und wenn seine entbehrungsreichen Anfänge in den Hintergrund traten, konnte Garrett offen, sogar verletzlich sein. Über Tellern mit lo mein und Brokkoli-Rindfleisch hatten sie über ihre Familien, über Erwartungen und Enttäuschungen geredet. Er erinnerte Avery an sich selbst in diesem Alter.
Dann starb Garretts Bruder.
Avery zuckte immer noch zusammen, wenn er an den hellen Vormittag im Juni zurückdachte, an die kalte Wut, die in Garretts Gesicht geätzt war, als er in Averys Arbeitszimmer stand und ihm sagte, dass er sein Studium in Yale abbrechen würde. Avery versuchte, ihn davon zu überzeugen, das nicht zu tun, aber Garrett wollte keine Vernunft annehmen. Er packte seine Sachen und fuhr noch am gleichen Nachmittag zurück nach Long Beach, ließ seine ganze Brillanz brachliegen. Avery erkundigte sich von Zeit zu Zeit nach ihm; er wusste, dass Garrett schließlich sein Examen in Informatik an der Long Beach State gemacht hatte und dann einen Job als Programmierer für ein Glücksspielunternehmen in L. A. gefunden hatte. Trotzdem schien es die Verschwendung einer großen Begabung zu sein.
Als Avery vier Jahre später Yale für den Spitzenjob bei Jenkins & Altshuler verließ, galt aus diesem Grund einer seiner ersten Anrufe Garrett. Er wusste, wozu Garrett imstande war, und wollte Köpfe wie ihn in seinem Team haben. Und er hatte recht gehabt, ihn einzustellen – Garrett war der beste junge Analyst der Firma –, aber einen Haufen CUSIPs zu erkennen und dann auf einen Verkauf von Treasuries in dieser Größenordnung zu schließen war mehr als abwegig. Es war, na ja …
»Und Sie glauben, Sie wüssten, wer dahintersteckt?«
Garrett nickte zuversichtlich, räkelte sich träge in seinem Sessel und ließ die Füße auf den niedrigen Tisch vor Averys Bürocouch plumpsen. Er war derart gottverdammt selbstsicher, dachte Avery, verwundert, dass jemand so viel Arroganz ausstrahlen konnte, der – bis jetzt – so wenig getan hatte, um sie zu rechtfertigen. Das war es immer noch, was Avery an Garrett am meisten ärgerte. Aber andererseits war das die Eigenschaft Garretts, dachte der ältere Mann, über die sich auch alle anderen am meisten ärgerten. In den vergangenen sechs Monaten musste Avery zwei älteren Maklern ausreden, zu Stern, Ferguson zu wechseln, weil Garrett nicht aufhörte, damit anzugeben, auf wie viel Einnahmen er es an diesem Tag gebracht hatte.
Wenn er nur nicht so oft recht haben würde.
»Wollen Sie es mir sagen?«
»Wollen Sie nicht raten?«, fragte Garrett lächelnd.
»Verdammt noch mal, Garrett, ich bin der Chef eines millionenschweren internationalen Handelsunter-«
»Die Chinesen«, platzte Garrett heraus und schnitt ihm das Wort ab.
Avery verstummte stotternd. Er holte tief Luft. »Erklären Sie.«
»Die Anleihen sind vor zwölf Jahren bei einer Auktion durch einen Zwischenhändler in Dubai gekauft worden. Handelshaus namens Al Samir. Die chinesische Volksbank nutzt es …«
Avery unterbrach ihn: »Eine Menge Leute greifen auf Al Samir zurück.«
»Klar«, fuhr Garrett fort, »aber wer hat sonst noch zweihundert Milliarden Dollar, die er für US-Anleihen verbraten kann? Auf einen Streich? Vielleicht drei Staatsfonds auf der ganzen Welt.«
»Reine Vermutung. Hat nichts zu sagen.«
»Dazu komme ich noch.« Garrett lächelte, und er genoss es sichtlich, dass er etwas wusste, was Avery nicht wusste. »Ich bin eine Art Anwalt, der Beweismaterial zusammenträgt.«
»Schön«, brummte Avery, »fahren Sie fort.«
»Das Trading hat ein Muster. Sechzehn verschiedene Maklerunternehmen. Aber keines von ihnen liegt in China oder überhaupt in Asien. Falls man Chinese ist und Anleihen abstoßen möchte, aber keinen Verdacht erregen will …«
»… würde man mit Maklern arbeiten, die irgendwo ansässig sind, aber nicht vor der eigenen Haustür«, sagte Avery, Garretts Satz zu Ende führend. »Interessant, aber immer noch Vermutung.«
»Das Trading begann um vier Minuten nach ein Uhr morgens, Greenwicher Zeit. Das ist kurz nach acht Uhr in Peking. Beginn ihres Börsentags. Das heißt, jemand ist dort wach geworden, hat auf den Knopf gedrückt und den ganzen Tag das Geschehen verfolgt.«
Avery nickte und hörte aufmerksam zu, während sich ein Knoten in seinem Magen bildete. Er rieb unbehaglich mit dem Daumen über die abgegriffene Teakholzlehne seines alten Schreibtischsessels von der Uni. »Haben Sie noch mehr?«
»O ja, jede Menge«, sagte Garrett. »Der Clou waren die Verkaufszeiten. Sie waren nach den CUSIP-Nummern der entscheidende Hinweis für mich, dass was im Busch ist. Die Verkaufszeiten von jedem der Maklerunternehmen ergaben ein Muster. Auf die Sekunde abgestimmt. Zunächst hab ich es nicht gesehen, aber dann hab ich sie einfach eine Weile verfolgt, und, Bingo, da wusste ich‘s.«
»Was war das für ein Muster?«
»Vier, vierzehn, vier, vierzehn. Eine wiederkehrende Schleife.«
»Das heißt gar nichts«, sagte Avery seltsamerweise enttäuscht. Irgendwo im Hinterkopf hatte er gewollt, dass Garrett einer großen Sache auf der Spur war.
»Für Sie. Und für mich. Aber wenn man Chinese wäre …«
Avery kniff die Augen zusammen, weil ihm die furchtbare Wahrheit dessen, was Garrett da sagte, plötzlich klar wurde. Avery hatte fünf Jahre damit verbracht, an der Universität Hongkong Mathematik zu lehren, und war fünf lange Jahre in der chinesischen Kultur untergetaucht gewesen. »Vier bedeutet Tod«, flüsterte er.
»Und vierzehn bedeutet Missgeschick. Die beiden größten Unglückszahlen in China. Falls man seinen Feind durch Zahlen attackieren...