E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Chaplet Erleuchtung
12001. Auflage 2012
ISBN: 978-3-8437-0203-4
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-0203-4
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Anne Chaplet wohnt mit drei Katzen in Oberhessen und Südfrankreich. Als Cora Stephan hat die promovierte Politikwissenschaftlerin zahlreiche Sachbücher verfasst, zuletzt: Angela Merkel. Ein Irrtum. Für ihre Kriminalromane um die Frankfurter Staatsanwältin Karen Stark erhielt sie zweimal den Deutschen Krimipreis sowie den Krimipreis von Radio Bremen.
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KAPITEL 2
Klein-Roda
Die Polizei hatte den Tatort gesichert, die Leiche war abtransportiert worden und Bremer hatte alle Fragen nach bestem Wissen und Gewissen beantwortet. Zu seiner Überraschung fühlte er sich allein, als sie gegangen waren.
Niemand war auf der Straße, niemand saß unter der großen Linde vor Gottfrieds Haus, wo sich normalerweise alle versammelten, wenn es etwas zu bereden oder zu berichten gab. Es war, als hätten alle Nachbarn die Flucht ergriffen.
Selbst Marianne, deren Haus an seinen Garten grenzte und die immer die Erste war, die das Küchenfenster öffnete und ihn mit Dorfklatsch versorgte, ließ sich nicht blicken. Erwin von gegenüber hörte man wenigstens husten, aber er saß nicht wie sonst an schönen Sommertagen auf seinem Rasenmäher, um seinen makellosen Rasen noch makelloser zu machen.
Seit er die Leiche auf dem Friedhof gefunden hatte, fühlte Bremer sich wieder als der, der er war: als geduldeter Fremder. Das Dorf hatte dicht gemacht. Aus irgendeinem Grund wollten sie nicht reden über das, was Bremer unaufhörlich beschäftigte: Wer war der Tote auf dem Friedhof? Wer hatte den Mann so unfassbar brutal erschlagen? Warum? Und warum hatte sich das Opfer nicht zur Wehr gesetzt?
Missmutig beschäftigte sich Bremer in seinem Garten, bis es dunkel wurde. Missmutig öffnete er eine Flasche Pinot Noir, der ihm ausnahmsweise nicht schmeckte. Missmutig ging er ins Bett. Und nach missmutigen Träumen wachte er viel zu früh auf. Weil in aller Herrgottsfrühe das Telefon klingelte.
Karen? Eigentlich wusste sie, wie gesprächig er am frühen Morgen war.
Ohne Rücksicht auf Nemax und Birdie schlug er die Bettdecke zurück und lief zum Telefon im Flur.
»Ja?« Wehe, jemand sagte jetzt »Falsch verbunden«.
»Herr Bremer?« Eine zaghafte Frauenstimme.
»Ja!«, bellte er.
»Evangelisches Krankenhaus. Schwester Anja. Ich rufe wegen eines Patienten an. Gottfried Funke. Ihre Telefonnummer war als Kontakt angegeben, und ich dachte …«
»Das ist in Ordnung«, sagte Bremer, jetzt gnädiger. »Wie geht’s ihm?«
»Gut. Besser. Es ist nichts Ernstes.«
Und deshalb riefen die so früh an?
»Herr Funke benötigt ein paar Schlafanzüge. Unterwäsche. Waschzeug.«
»Ist gut. Ich komme«, brummte Bremer, der auch das nicht für dringend hielt.
»Und – Herr Bremer, wenn ich Sie darum noch bitten dürfte – die Krankenkassenkarte. Der Chef sitzt mir im Nacken.«
Ach so. Das war natürlich das Wichtigste.
Bremer hatte das Nachbarhaus nie betreten, ohne dass Marie oder Gottfried da gewesen wären. Oder Basti, ihr Enkel, der oft auf der Bank im Hof oder in der Küche saß und auf seiner Steirischen spielte. Frodo, ein melancholischer Weimaraner, der Nachfolger von Fritz und Franz, war kurz vor Marie gestorben.
Er öffnete die Haustür und ging durch den winzigen Flur in die Küche. Hier hatte Marie gestanden, er sah sie noch immer vor sich, Marie mit den vielen Lachfältchen um die Brombeeraugen, stets in Bewegung und immer beschäftigt. Er sah sie wie durch Wasserdampf hindurch, denn irgendwas kochte immer in der Küche, das Essen oder der große Topf, in dem sie die Bohnen einmachte, Bohnen, für die Gottfried jeden Frühling die Stangen aufstellte. In diesem Jahr hatte er zum ersten Mal darauf verzichtet.
In der Tür zum Wohnzimmer blieb er stehen. Dort befand sich der kleine Schreibtisch, an dem Gottfried seinen Papierkram erledigte. Es roch nach kalter Asche. Auf dem Sessel vor dem Kamin, Gottfrieds Stammplatz, lag zusammengerollt die Katze, die alarmiert davonsprang, als sie Bremer bemerkte. Und vor dem Schreibtisch und dem kleinen Bücherregal sah es aus, als ob ein Kind beschlossen hätte, mal gründlich aufzuräumen. Bremer trat vorsichtig näher. Bücher, Briefe, Bankauszüge, Aktenordner und ein Fotoalbum lagen auf dem Boden, so, als ob jemand kurz hineingeblickt, sie langweilig gefunden und fallen gelassen hätte.
Bremer hob das Fotoalbum auf, um es zurück auf den Schreibtisch zu legen. Dabei fiel ein Bild heraus, das ihm vertraut vorkam. Es zeigte eine Beerdigung auf dem Friedhof von Klein-Roda. Ein heller Sarg stand dort, wo heute die Aussegnungshalle war. Davor im Halbkreis das halbe Dorf. Ein Foto also, das weit vor seiner Zeit aufgenommen worden sein musste.
Das Bild war eingerissen, in der Mitte, dort, wo der aufgebahrte Sarg stand. Jemand hatte ihn mit Gewalt und einem spitzen Gegenstand durchgestrichen.
Bremer blätterte durch das Album. Bilder von der Hochzeit Gottfrieds und Maries, sorgfältig eingeklebt. Das Brautpaar, die Trauzeugen, Gäste. Eines der Bilder, nein, zwei waren herausgerissen worden. Auch bei den Bildern von der Beerdigung der Eltern Maries fehlten Fotos. Nur die letzten Albumseiten waren unbeschädigt, man sah Basti mit seiner Steirischen beim Talentwettbewerb. Die Beerdigung Wilhelms. Und die Maries.
Er legte das Album auf den Schreibtisch. Die Schublade stand weit auf, man sah Gottfrieds Führerschein neben einem Scheckheft und einer Brieftasche liegen. Er nahm die Krankenkassenkarte heraus und ging hinauf, erst ins Bad, für das Waschzeug, dann ins Schlafzimmer, wegen der Pyjamas. Irgendwie beschlich ihn das Gefühl, nicht allein zu sein. Und noch auf der Straße bildete er sich ein, dass ihn jemand beobachtete.
Bremer gab die Krankenkassenkarte in der Verwaltung ab und wartete auf den Aufzug, eine Tüte mit Wäsche, einer Rätselzeitschrift und einer Schachtel Pralinen aus dem Supermarkt in der Hand.
»Die Zimmernummer von Herrn Funke? 213!« Eine junge Schwester mit osteuropäischem Akzent empfing ihn. Auf dem Flur roch es nach Großküchenessen und Desinfektionsmittel.
Als Bremer die Tür zu Zimmer 213 öffnete, gesellte sich der Geruch nach alten Männern mit Hygieneproblemen dazu. Alle Fenster waren geschlossen. Der Fernseher plärrte, ohne dass jemand hinsah. Zwei der Patienten saßen auf dem Bett eines dritten und kloppten Karten. Statt einer Antwort auf seine freundliche Begrüßung rief einer der rüstigen Rentner: »Hosen runter!« Skat also.
Er verstaute die Wäsche in einem der Spinde, bevor er zu Gottfried ging, der im Bett am Fenster lag. Wenigstens da roch es besser, nach den Lilien, die in einem dicken Strauß auf seinem Nachttisch standen. Er musste also Besuch gehabt haben. Bremer legte Pralinen und Heft neben die Blumen, rückte den Besucherstuhl heran und setzte sich.
Der Alte schlief, den Mund leicht geöffnet. Bremer griff nach seiner Hand. Sie war trocken und kühl. Endlich schlug Gottfried die Augen auf.
»Ja so was … Paul … Du hier!« Schwach und heiser.
»Wundert dich das etwa?« Bremer reichte ihm den Becher, der auf dem Nachttisch stand. Der Alte nahm einen Schluck. »Machste denn für Sachen?«
»Frag nich.«
»Und wie isses?«
»Geht so.«
Bremer nahm ihm den Becher wieder aus der Hand. »Sieh zu, dass sie dich bald entlassen. Mir ist langweilig. Wenn ich aus dem Fenster auf dein Haus gucke, ist alles dunkel.«
»Mach ich«, flüsterte Gottfried.
»Und die Elstern in deiner Linde machen nicht nur Krach, die kacken auch den ganzen Hof voll.«
Gottfrieds Dreiseitenhof lag direkt gegenüber Bremers Haus. Sein Fachwerkhaus war zwar angeblich das älteste am Ort, dafür aber das kleinste. Aus seinem Arbeitszimmer blickte er auf Gottfrieds mächtige Linde. Wenn in Bremers Garten die Sonne bereits untergegangen war, beschien sie noch die Feierabendbank unter dem Baum, auf der Gottfried Abend für Abend saß und bereitwillig beiseite rückte, wenn ihm jemand Gesellschaft leisten wollte.
Bremer hatte oft da gesessen und den Hühnern zugesehen, die eifrig pickend über die Wiese liefen, schwarze Zwergwyandotten, für die Gottfried schon viele Züchterpreise bekommen hatte. Manchmal gurrten über ihren Köpfen sechs indische Pfauentauben, die Gottfried für seinen Enkel Basti hütete.
Basti war eine überregionale Berühmtheit, seit er beinahe den ersten Preis bei der Castingshow »Hessen sucht den Superstar der Volksmusik« gewonnen hätte. Damals, als seine Eltern in Amerika waren, lebte er bei den Großeltern und übte jeden Tag auf seinem Akkordeon, einer steirischen Harmonika »Alpenklang«. Bald kannte der Junge alle einschlägigen volkstümlichen Hits auswendig, ohne auch nur eine Note lesen zu können. Er war eben ein Naturtalent. Sagten alle, die es volkstümlich mochten. Bremer gehörte nicht dazu.
Und deshalb hätte er es nie für möglich gehalten, dass er einmal ein Lied wie Hej, Slavko, spiel uns eins vermissen würde. Es hatte irgendwann zum Klangbild seines Dorfes gehört wie der Ruf der Milane, das Gurren der Tauben, das Grollen ferner Flugzeuge und das Geplapper der Meisen. Ein Klangbild, das nur zerriss, wenn Willi mit schwerem Gerät über die Dorfstraße bretterte, und das sich hinter ihm gleich wieder zusammenfügte.
Damals. Das war das Paradies.
Gewesen.
»Meine Hühner. Die Kaninchen.« Gottfried hielt nur mühsam die Augen offen.
»Marianne sieht täglich nach den Tieren. Mach dir keine Sorgen.« Bremer tätschelte die Hand des Alten.
»Marie …«
Marie war tot. Hatte Gottfried das vergessen? Bremer spürte seine Brust eng werden. Was, wenn der Alte sich nicht wieder erholte?
»Marie … Eri …«
Also darum ging es. Er tätschelte dem Nachbarn erleichtert die Hand. »Ich kümmere mich um die Gräber. Keine Sorge.«
Er hatte auf Erikas Grab wieder Ordnung...