E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Chanoch Von Kaunas über Dachau in ein neues Leben
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-96233-478-9
Verlag: Allitera Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Erinnerungen eines Holocaust -Überlenden
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-96233-478-9
Verlag: Allitera Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Uri Chanoch ist 1928 in Kaunas in Litauen geboren. Seine in diesem Band schriftlich festgehaltenen Erinnerungen zeigen den Weg durch die barbarische erste Hälfte des 20. Jahrhunderts und den Völkermord an den europäischen Juden. Im August 1940 wurde das kleine baltische Land Teil der Sowjetunion. Mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion wurden die Eltern Frieda und Shraga zusammen mit den Kindern Miriam, Uri und Daniel in das im August 1941 errichtete Ghetto Kaunas gezwungen. Nach der Liquidierung des Ghettos im Juli 1944 kamen Mutter und Tochter ins KZ Stutthof bei Danzig, der Vater und die beiden Söhne Uri und Daniel in den neu errichteten Dachauer KZ-Außenlagerkomplex Kaufering bei Landsberg am Lech. Während die Eltern und die Schwester nicht überlebten, wurde Uri auf einem Todesmarsch befreit und fand wenig später sogar seinen Bruder Daniel in Italien wieder. Seine Rückkehr in ein normales Leben ebenso wie die Emigration nach Eretz Israel gibt er in seinen Erinnerungen anschaulich wieder. Wie Uri Chanoch anfänglich von Rachegedanken geplagt und später zu einem der wichtigsten Vertreter der Versöhnung und Erinnerungskultur in Landsberg und Dachau wurde, davon handeln diese bewegenden Memoiren des Holocaust-Überlebenden.
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Kindheit in Kaunas, Tage der Unschuld Ich wurde hineingeboren in eine Welt voll Optimismus und Hoffnung. Zehn Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, einer Zeit voll Grausamkeit, Tod und Zerstörung, glaubten die Menschen fest daran, dies wäre der letzte Krieg gewesen. Litauen, dieser kleine baltische Staat, erlangte nach jahrhundertelanger Unterdrückung durch polnische und russische Herrschaft endlich seine Unabhängigkeit. Zum ersten Mal erhielten Juden die vollen Bürgerrechte und Präsident Antanas Smetona1 führte Gesetze ein, welche jeden offen zutage tretenden Antisemitismus verboten. Litauens Juden glaubten, nun hätte eine Ära des Friedens und der Sicherheit begonnen. Merkten sie tatsächlich nichts von der noch schwelenden Glut unter der oberflächlichen Stille? Begriffen sie wirklich nicht, dass viele Litauer niemals aufgehört hatten, ihre jüdischen Nachbarn zu hassen? Ich wurde in Kaunas geboren, wo ein Drittel der Bevölkerung einmal aus Juden bestanden hat. Es war und ist immer noch eine schöne Stadt. Die Straßen sind meist schmal, die Häuser haben höchstens zwei oder drei Stockwerke. »Lasves Aleja«, die Lasves-Allee, ist ein wunderschöner, von Bäumen gesäumter Boulevard, der sich mit seinen Cafés und Geschäften einmal quer durch die Stadt zieht. Die Flüsse Neris und Vilija trennen die flacheren Ebenen der Stadt von den Aleksotas-Hügeln und den »Grünen Bergen«, auf denen einige stattliche Stadthäuser thronen. Am Tag meiner Geburt, Ende März, war die Stadt ganz in Weiß getaucht, tief in Schnee gehüllt, in dem man versinken konnte, und ein eiskalter Wind wehte vom Fluss herüber, der nicht weit von unserem Haus entfernt war. Doch Mutter sagte immer, der Duft des Frühlings, der schon hinter der Ecke wartete, sei bereits in der Luft. Bikkur Holim2 – das bedeutet »Krankenbesuch« – war ein jüdisches Privatkrankenhaus, das über ein schönes und nagelneues Gebäude verfügte. Die Ärzte und Krankenschwestern versorgten das Neugeborene, das respektable viereinhalb Kilo auf die Waage brachte und bereits den Kopf voll prächtiger schwarzer Haare hatte. Meine Eltern gaben mir einen hebräischen Namen, was in jener Zeit ungewöhnlich war: Uri. Üblicherweise entschied man sich für den Namen eines verstorbenen Verwandten. Mein Name wurde von den nächsten Angehörigen sofort gedehnt zu Urinkeh, und später von meinen Freunden zu Urkeh, denn litauische Juden, die sich selbst »Litvaks« nannten, neigten dazu, allen Namen ein »-keh« am Ende anzuhängen. Als ich 65 Jahre später zum ersten Mal wieder nach Litauen zurückkehrte, besuchte ich das Innenministerium in Kaunas. Am Empfangstresen eines Büros, das aussah, als wäre seit dem Tag der Eröffnung im Jahr 1920 kein einziger Stuhl bewegt worden, saß ein Angestellter. Er zog einen dicken Ordner heraus, der voll vergilbter alter Dokumente war, und entnahm ihm einen Bogen, der bedruckt war mit Lettern einer altmodischen Schreibmaschine: »Am 28. März 1928 geboren wurde Uriah Chanoch, litauischer Staatsangehöriger.« Neben meinem Namen und denen meiner Eltern stand das Wort »Zydas«, Jude. Nicht einmal, gleich zweimal, sodass um Gottes willen kein Zweifel hinsichtlich meiner Abstammung aufkommen möge. Genau dort, in jenem Raum, wurde ich auf der Stelle um ein Jahr älter. Offensichtlich war ich im Jahr 1928 zur Welt gekommen und nicht, wie ich immer gedacht hatte, 1929. Ich vermute, die Quelle dieses Irrtums war die Tatsache, dass ich im Getto und im Konzentrationslager so oft falsche Altersangaben gemacht hatte, dass ich mich irgendwann tatsächlich nicht mehr an mein korrektes Geburtsjahr erinnern konnte. Warum hat man mich nach dem Heerführer der Hethiter benannt, den König David zum Tode verurteilte, weil er sich in Uriahs Frau Batseba verliebt hatte? Und warum kürzten sie den Namen sofort ab in »Uri«? Wie kam es, dass meine Eltern einen modernen hebräischen Namen gewählt hatten, der zu jener Zeit so ungewöhnlich war? Lag es daran, dass sie davon geträumt hatten, eines Tages nach Israel auszuwandern? Vielleicht hatten der Roman der englischen Schriftstellerin George Eliot3, »Daniel Deronda«, und die Autobiografie von Uriel da Costa meine bücherverrückte Mutter inspiriert, mich Uri zu nennen und meinem vier Jahre später geborenen Bruder den Namen Daniel zu geben, der sofort zu »Danny« gekürzt wurde. Ich habe meine Eltern nie gefragt, wie sie auf unsere Namen gekommen waren – und später war niemand mehr da, den ich hätte fragen können. Mein Vater, Feivel Shraga Chanoch, wurde in Žasliai – oder, wie die Litvaks sagen: »Zosleh« – geboren, einem pittoresken kleinen Dorf nahe Kaunas, mit einem rechteckigen Platz in der Dorfmitte. Zwei kleine tiefblaue Seen liegen in der Nähe, und Wälder mit Nadelbäumen. Unsere Familie lebte dort seit über 150 Jahren und seit Ende des 17. Jahrhunderts ist der Name Chanoch im Geburtenbuch der nahe gelegenen Stadt verzeichnet. Mein Nachname Chanoch lässt mich vermuten, dass meine Ahnen sich nach ihrer Vertreibung aus Spanien zur Zeit der Inquisition in Litauen ansiedelten, nachdem sie zunächst Zuflucht in Italien oder der Türkei gefunden hatten, von wo aus sie nach Norden weiterzogen. Meine mediterrane Herkunft ist am Familiennamen Chanoch ersichtlich, der sich von den Familiennamen nordeuropäischer Juden unterscheidet; diese erhielten erst im 19. Jahrhundert Familiennamen, welche üblicherweise auf ihre Berufe oder Tätigkeiten verwiesen. Mein nahöstlicher Hintergrund zeigt sich zudem in meiner Hautfarbe, die davon zeugt, von der Sonne verwöhnt zu sein, und vielleicht auch an meinem Temperament. Wenn ich wütend werde, dann werde ich richtig wütend … Die Verwandten väterlicherseits lebten alle in Zosleh: meine Großmutter Sara Leah, mein Großvater Moshe und ihre anderen beiden Söhne, Abraham und Israel, sowie Vaters Onkel. Es gab noch weitere jüdische Familien im Dorf, die sephardische Namen wie Shamash oder Don Yechiya trugen. Ich nehme an, dass viele spanische Juden Zuflucht in Litauen fanden. Vater, der im Alter von 20 Jahren nach Kaunas umzog, war Holzhändler, oft reiste er hinaus aufs Land, von Zeit zu Zeit sogar bis nach Rumänien. Dort wählte er seine Ware aus dem, was in den Wäldern gefällt wurde. Er importierte nach Litauen und darüber hinaus auch ins Land Israel (das damals noch britisches Mandatsgebiet war), wohin er in den 30ern zweimal reiste, da er die »Nur«-Streichholzfabrik mit Holz belieferte, die der Familie Weizman gehörte, einer litauischen Familie, die ihre Streichhölzer in Akko herstellte. Von einem seiner Besuche im Land Israel brachte mein Vater einen großen Wandbehang aus Stoff mit, der die Klagemauer zeigte: eine äußerst enge Gasse und eine hohe Mauer aus massiven Steinen, gegen die sich ein paar Juden im Gebet neigten, gekleidet in Schwarz, orientalische Kopfbedeckungen auf den Häuptern. Der Wandbehang hing in unserem Wohnzimmer. Es war ein trauriges Bild, doch ich habe es immer sehr gern betrachtet und mir vorgestellt, dass ich eines Tages nach Jerusalem reisen und die Klagemauer besuchen würde. Frida und Feivel Shraga Chanoch, Uri Chanochs Eltern, Anfang der 1920er-Jahre in Kaunas Ich weiß nicht, von woher die Familie Ipp nach Litauen kam. Das war die Familie meiner Mutter. Ich vermute, sie lebten seit Generationen in Kaunas, doch nach dem Ersten Weltkrieg wanderten alle Brüder meiner Mutter nach Südafrika und in die Vereinigten Staaten von Amerika aus. Meine Mutter wurde in Kaunas geboren und arbeitete, als sie jung war, als Sekretärin für die Zeitung »Die Jiddische Stimme«4. Sie verließ das Blatt erst, als Miriam, meine große Schwester, zur Welt kam. Mutter und Vater waren beide groß und gut aussehend. Mein Vater maß gut 1 Meter 80, und auch Mutter war groß und schlank. Während damals die meisten Frauen ihre Haare lang trugen, waren Mutters dunkelbraune Haare kurz geschnitten. Vielleicht lag es daran, dass sie so gern im Fluss nahe unserem Haus schwamm und kurze Haare dafür bequemer waren. Ich erinnere mich, dass sie im Winter mit ihren Freundinnen zum Fluss ging, wo sie eine Art Kanal ins Eis schnitten, sodass sie, selbst wenn der Fluss zugefroren war, ihrer Leidenschaft frönen konnten. Wir lebten in einer großen, geräumigen Wohnung nahe dem Rathaus. Meine erste Kindheitserinnerung ist die an die Feuerwehr. Es war an einem Sommertag, ich war drei Jahre alt und kletterte auf einen Stuhl, um von dort aus durch das offene Fenster hinauszusteigen auf den Mauerabsatz, der das ganze Gebäude umzog und auf dem ich nun zu balancieren begann. Vermutlich blieben Passanten wie versteinert stehen, als sie den Knirps da oben auf dem schmalen Absatz im zweiten Stock spazieren sahen. Irgendjemand muss die Feuerwehr gerufen haben. Die Feuerwehrleute stiegen auf eine Leiter und holten mich unversehrt herunter. Nie vergesse ich den Anblick der Menschen da unten auf der Straße, die zu mir hoch starrten. Wahrscheinlich war dies das erste Mal, dass ich eine Gefahrensituation erlebte und dabei feststellte, überhaupt kein Gefühl der Angst zu verspüren. Meine zweite Erinnerung ist...