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E-Book

E-Book, Deutsch, 432 Seiten

Chambers Kleine Freuden

Roman
21001. Auflage 2021
ISBN: 978-3-96161-127-0
Verlag: Econ
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 432 Seiten

ISBN: 978-3-96161-127-0
Verlag: Econ
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



'Ein investigativer Plot, eine Geschichte von Begehren und Versagung und nicht zuletzt das Porträt einer zwischen Pflichtgefühl und dem Recht auf Glück ringenden Frau.' Brigitte Woman 1957, im Südwesten von London. Jean Swinney ist Redakteurin bei einer lokalen Tageszeitung und geht auf die Vierzig zu. Von der Liebe enttäuscht, lebt sie mit ihrer halsstarrigen Mutter zusammen.  Als sich eine junge Frau, Gretchen Tilbury, mit einer ungeheuerlichen Behauptung an die Zeitung wendet, macht sich Jean daran, dem Fall auf den Grund zu gehen.  Ihre Recherchen bringen sie nicht nur Gretchen Tilbury näher, sondern auch deren zehnjähriger Tochter und ihrem Mann.  Jeans neue Rolle als Freundin und Ermittlerin stellt Ihr einst ruhiges Leben auf den Kopf und eröffnet ihr nach langer Zeit wieder eine Chance auf Freundschaft, Glück und vielleicht sogar Liebe.  Nominiert für den Women's Prize for Fiction

Clare Chambers wurde 1966 in London geboren. Sie unterrichtete Englische Literatur in Oxford, bevor sie für die bedeutende Verlegerin Diana Athill erst als Sekretärin, später als Lektorin zu arbeiten begann. Nach acht Romanen und einer Schreibpause von zehn Jahren wurde Kleine Freuden ein durch Mundpropaganda erzeugter Überraschungsbestseller und erschien auf Deutsch im Eisele Verlag. Die Mutter dreier erwachsener Kinder lebt mit ihrem Mann im Südosten Londons.
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2

Burdett Road 7 in Sidcup war eine Doppelhaushälfte aus den 1930ern in etwas besserem Zustand als Jeans eigene. Im Vorgarten blühte eine symmetrische Anordnung von Ringelblumen und Begonien, an drei Seiten unkrautfrei gesäumt von sauberen Rasenrechtecken. An beiden Enden der niedrigen Gartenmauer gedieh ein Zwillingspaar gestutzter Hortensien. Der Briefkasten und der Türklopfer aus Messing waren auf Hochglanz poliert. Jean blieb vor der Tür einen Moment stehen, um sich zu sammeln, bevor sie klingelte, und beschloss, auf dem Heimweg Brasso Metallpolitur zu kaufen. Allzu leicht vernachlässigte sie die Arbeiten in den Teilen des Hauses, die ihre Mutter nicht sah.

Kurz darauf zeichnete sich ein Schatten hinter der Buntglasscheibe ab, und eine schlanke Frau von ungefähr dreißig Jahren mit dunkelbraunen Locken, die von einer Schildpattspange aus dem Gesicht gehalten wurden, öffnete die Tür. In der Hand hielt sie ein zusammengeknülltes Staubtuch und ein Paar Gummihandschuhe, die sie verunsichert von einer Hand in die andere wechselte, bevor sie sie auf der Garderobenablage neben sich deponierte.

»Mrs Tilbury? Ich bin Jean Swinney vom North Kent Echo

»Ja, kommen Sie rein, kommen Sie rein«, sagte die Frau, die gleichzeitig die Hand zum Schütteln ausstreckte und zur Seite trat, um Jean hereinzulassen, womit sie jetzt außer Reichweite war.

Nachdem sie diese ziemlich verpfuschte Begrüßung bewältigt hatten, wurde Jean ins Empfangszimmer gebeten, das nach Wachspolitur roch und die makellose, tote Atmosphäre eines Raumes besaß, der für besondere Gelegenheiten geschont wurde.

Mrs Tilbury bot Jean den bequemeren von zwei Sesseln am Fenster an, die mit einem kleinen Tisch dazwischen einander gegenüber angeordnet waren.

»Ich dachte, Sie möchten sich vielleicht Notizen machen«, sagte sie. Es war weniger ihr Akzent als der leicht stakkatohafte Duktus, der sie als Ausländerin kennzeichnete.

»Danke – das tue ich normalerweise«, sagte Jean, zog ihren Spiralblock und den Stift aus ihrer Tasche und legte sie auf den Tisch.

»Ich habe Tee gemacht. Ich hole ihn schnell.«

Mrs Tilbury eilte hinaus, und Jean hörte sie in der Küche herumklappern. Sie nutzte diese kurze Abwesenheit, um mit geübtem Auge ihre Umgebung zu begutachten. Nackte Dielen, müde aussehender Läufer, gefliester Kamin, der Rost leer und sauber gekehrt. Auf dem Klavier im Alkoven standen ein halbes Dutzend Fotografien in silbernen Rahmen. Eine war ein Gruppenbild mit Familie, alle mit ernsten Mienen und edwardianischer Strenge, der Patriarch stehend, seine Frau sitzend mit einem Baby im Taufkleid auf dem Schoß, ein Mädchen im Trägerkleid, das mit glasigem Blick in die Kamera sah. Ein anderes war ein Studioporträt von einem neun- oder zehnjährigen Mädchen mit dunklem Lockenkopf – vielleicht Mrs Tilbury selbst –, das nach oben sah, als bestaunte es etwas direkt außerhalb der Aufnahme. Usambaraveilchen und ein Weihnachtskaktus auf dem Fensterbrett, ein Wandteppich mit der Darstellung einer alpinen Landschaft mit schneebedeckten Berggipfeln und einer Holzhütte in einer Wildblumenwiese, ein Stickbild mit der Aufschrift »Home Sweet Home«.

Mrs Tilbury kam mit einem Tablett mit zwei zarten Porzellantassen, Milchkännchen, Zuckerschale und Teekanne mit gehäkeltem Wärmer zurück. Während sie den Tee eingoss, zitterte ihre Hand ein bisschen, der Schnabel der Teekanne klirrte an den Tassenrand. Vielleicht nervös, dachte Jean. Oder nur ungeschickt mit dem besten Porzellan.

Jetzt, wo sie sie richtig betrachten konnte, sah Jean, dass Mrs Tilbury eine dieser von der Natur gesegneten Frauen war. Sie hatte reine, schimmernde Haut, eine winzige, gerade Nase und schräg stehende blaue Augen, die ihrem Gesicht eine unenglische Art von Schönheit verliehen. Sie trug ein Oberteil mit rundem Ausschnitt, das sie in einen eng anliegenden Rock gesteckt hatte.

Jean ertappte sich bei einer Mischung aus Bewunderung und Neid. Sie hätte diesen Stil mit der betonten Taille selbst gern getragen, aber da war keine Taille, die sie hätte betonen können. Schon als junges Mädchen war sie kräftig gebaut gewesen. Nicht direkt fett – dafür waren Teile von ihr nie üppig genug gewesen –, sondern mit einer geraden, wenig kurvigen Figur ausgestattet, viel eher Standuhr als Sanduhr.

»Sie sind keine Engländerin?« Jean versuchte, es nicht wie einen Vorwurf klingen zu lassen.

»Nein. Ich bin Schweizerin. Aus dem deutschsprachigen Teil, um genau zu sein. Aber ich lebe hier, seit ich neun war.«

Sie lächelten einander über ihre Teetassen hinweg an, und Schweigen senkte sich herab, während Jean überlegte, ob sie weiter Konversation über Mrs Tilburys Herkunft machen oder direkt zum Thema kommen sollte.

»Wir fanden Ihren Brief alle sehr interessant«, sagte sie schließlich. »Sie haben nicht viel verraten, aber es war höchst faszinierend.«

»Ich nehme an, Sie haben eine Menge Fragen. Sie können mich alles fragen. Es macht mir nichts aus.«

»Na ja, vielleicht könnten Sie damit anfangen, mir von der Geburt Ihrer Tochter zu erzählen.«

Mrs Tilbury verknotete die Hände auf dem Schoß und fingerte an ihrem Ehering herum. »Vielleicht sollte ich vorausschicken, dass ich als Heranwachsende zwar ein sehr unschuldiges Mädchen war, dass ich aber durchaus wusste, wo die Babys herkommen. Meine Mutter war ziemlich streng – sie war eine sehr religiöse Frau –, und natürlich gab es keine festen Freunde oder dergleichen; aber ich wurde nicht im Dunkeln gelassen. Als ich also nicht lange vor meinem neunzehnten Geburtstag zum Arzt ging, weil ich immer müde war und meine Brüste schmerzten, konnte ich es nicht glauben, als er mir sagte, ich würde ein Baby bekommen. Denn ich wusste, das war nicht möglich – ich hatte noch nicht einmal einen Mann auch nur geküsst.«

»Das muss ein furchtbarer Schock gewesen sein.«

»Ja, das war es«, sagte Mrs Tilbury. »Aber ich dachte wirklich, das kann nicht stimmen. Ihnen wird gleich auffallen, dass sie einen Fehler gemacht haben.«

»Vermutlich haben Sie das dem Arzt, der Sie untersucht hatte, alles erklärt?«

»Ja, natürlich. Er sagte, die Art und Weise der Empfängnis sei nicht seine Sorge, und meine Überraschung ändere nichts an der Tatsache, dass ich ganz eindeutig ein Baby erwarte.«

»Mit anderen Worten, er glaubte Ihnen nicht.«

»Ich denke nicht. Er sagte, er habe viele Mädchen in meinen Umständen kennengelernt, die genauso bestürzt waren, als sie erfuhren, schwanger zu sein. Aber sie hätten sich schnell an den Gedanken gewöhnt, als ihnen klar wurde, dass ihr Leugnen nichts am Ergebnis ändern würde, und er hoffte, ich würde das ebenfalls tun.«

»Was für ein schrecklicher Mann«, sagte Jean mit mehr Wucht, als sie vorgehabt hatte. »Ich hasse Ärzte.«

Falls Mrs Tilbury überrascht war, dann war sie zu höflich, es zu zeigen.

»Aber natürlich hatte er ganz recht. Und er hat sich am Ende sehr gut um mich gekümmert«, gab sie zu.

»Als Ihnen also klar wurde, dass es kein Irrtum war, wie haben Sie es sich dann selbst erklärt? Ich meine, was glauben Sie, was passiert ist? Dachten Sie, es sei eine Heimsuchung durch den Heiligen Geist – oder irgendein medizinisches Phänomen, das die Wissenschaft nicht erklären kann? Oder was?«

Mrs Tilbury breitete in einer Geste der Hilflosigkeit die Hände aus. »Ich weiß es nicht. Ich bin keine Wissenschaftlerin. Ich bin nicht religiös wie meine Mutter. Ich weiß nur, was nicht passiert ist.«

»Und wie haben Ihre Eltern auf die Nachricht reagiert? Vermutlich mussten Sie es ihnen sagen.«

»Mein Vater war da schon tot, es war also nur meine Mutter.«

»Und sie glaubte Ihnen?«

»Natürlich.«

»Nicht alle Mütter wären so zugänglich.« Jean dachte an ihre eigene Mutter und musste ein plötzliches Aufwallen von Hass unterdrücken.

»Aber sie wusste, ich konnte keine Beziehung mit irgendeinem Mann gehabt haben. Sehen Sie, zur Zeit der vermuteten Empfängnis war ich in einer Privatklinik und wurde wegen schwerer rheumatischer Arthritis behandelt. Ich war vier Monate bettlägerig, in einem Krankensaal mit drei anderen jungen Frauen.«

»Oh.«

Jean konnte ihre Überraschung über diese Enthüllung nicht verbergen. Sie schien Mrs Tilburys Darstellung auf unerwartete Weise zu bekräftigen. Ihre Behauptung war plötzlich viel schwerer abzutun, und zu Jeans eigener Überraschung war sie froh darüber. Aus Gründen, die nicht nur mit dem journalistischen Hunger nach einer guten Story zu tun hatten, wollte sie, dass es wahr war.

»Ich nehme an, Sie wären froh, wenn ich alle Daten und so weiter überprüfe«, sagte sie.

»O ja. Ich war von Anfang Juni bis Ende September 1946 im Pflege- und Genesungsheim St. Cecilia. Am ersten November erfuhr ich, dass ich schwanger war, und Margaret wurde am 30. April 1947 geboren.«

»Sie war keine Frühgeburt oder so?«

»Nein. Eigentlich sogar zu spät. Sie mussten sie holen, weil mein Blutdruck zu hoch war.«

»Mrs Tilbury, macht es Ihnen etwas aus, wenn ich Ihnen eine persönliche Frage stelle? Ich fürchte, wenn wir damit weitermachen, werden Ihnen viele persönliche Fragen gestellt werden.«

»Ich verstehe«, erwiderte Mrs Tilbury, und leichte Röte stieg ihr in die Wangen.

»Hatten Sie, als Sie zum Arzt gingen, bemerkt, dass Sie nicht menstruierten? Hätten da nicht die Alarmglocken schrillen müssen?«

»Na ja, es war nicht das erste Mal, dass es eine Lücke gab. Ich war in der...


Chambers, Clare
Clare Chambers wurde 1966 in London geboren. Sie unterrichtete Englische Literatur in Oxford, bevor sie fu¨r die bedeutende Verlegerin Diana Athill erst als Sekretärin, später als Lektorin zu arbeiten begann. Nach acht Romanen und einer Schreibpause von zehn Jahren wurde Kleine Freuden ein durch Mundpropaganda erzeugter Überraschungsbestseller. Die Mutter dreier erwachsener Kinder lebt mit ihrem Mann im Südosten Londons.

Gerwig, Karen
Karen Gerwig studierte Angewandte Sprach- und Kulturwissenschaften in Germersheim und Rennes (Frankreich). Seit 2004 arbeitet sie hauptberuflich als Literaturübersetzerin für Französisch, Englisch und Portugiesisch, hat inzwischen weit über hundert Bücher verschiedener Genres übersetzt und wurde für ihre Arbeit mit mehreren Stipendien ausgezeichnet. Zu den von ihr übersetzten Autorinnen gehören Meena Kandasamy, Melissa Broder, Denise Mina und Hiromi Goto. Sie lebt in München und besitzt leider keinen Zweitwohnsitz in Frankreich.



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