E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Reihe: dtv- premium
Chalandon Rückkehr nach Killybegs
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-423-41774-7
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Reihe: dtv- premium
ISBN: 978-3-423-41774-7
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sorj Chalandon, geboren 1952 in Tunis, gilt als einer der bedeutendsten Journalisten und Schriftsteller Frankreichs. Viele Jahre lang schrieb er für die Zeitung >Libération<, seit 2009 ist er Journalist bei der Wochenzeitung >Le Canard enchaîné<. Für seine Reportagen über Nordirland und den Prozess gegen Klaus Barbie wurde er mit dem Albert-Londres-Preis ausgezeichnet. Auch sein schriftstellerisches Schaffen wurde mit zahlreichen Literaturpreisen gewürdigt, unter anderen dem Prix Médicis und dem großen Romanpreis der Académie française.
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1
Wenn mein Vater mich schlug, schrie er Wörter aus der englischen Soldatensprache, als wollte er unsere Sprache heraushalten. Mit verzerrtem Mund brüllend prügelte er auf mich ein. Wenn mein Vater mich schlug, war er nicht mehr mein Vater, sondern nur Patraig Meehan. Meehan mit dem zerbeulten Gesicht und dem gefrorenen Blick, ein böser Wind, dem man am besten auswich, indem man die Straßenseite wechselte. Wenn mein Vater betrunken war, zertrampelte er den Boden, zerriss er die Luft, malträtierte er die Worte. Wenn er mein Zimmer betrat, zuckte das Dunkel zusammen. Er zündete keine Kerze an. Schnaufte wie ein altes Tier, und ich machte mich auf seine Fäuste gefasst.
Wenn mein Vater betrunken war, fiel er über Irland her wie unser Feind. Er war der Feind, und er war überall. Unter unserem Dach, auf der Schwelle unseres Hauses, auf den Wegen von Killybegs, in der Heide, am Waldrand, bei Tag und bei Nacht. Mit groben Bewegungen besetzte er jeden Ort. Man konnte ihn schon von Weitem sehen. Und hören. Die stolpernden Wörter, den schwankenden Körper. Im »Mullin’s«, unserem Dorfpub, rutschte er vom Hocker, ging zu den Tischen hin und haute mit der flachen Hand zwischen die Gläser. Er war anderer Meinung? Das sagte er auch so. Ohne Worte, die Finger im Bier, mit seinem Blick. Die anderen schwiegen mit gesenkter Mütze und abgewandten Augen. Dann richtete er sich wieder auf und forderte mit verschränkten Armen den ganzen Saal heraus. Wartete auf Widerspruch. Wenn mein Vater betrunken war, war er zum Fürchten.
Einmal schlug er auf dem Weg zum Hafen George, den Esel des alten McGarrigle, mit der Faust. Der Kohlenhändler hatte sein Tier nach dem König von England benannt, um ihm in den Arsch treten zu können. Ich war dabei. Mein Vater schwankte und stolperte nach dem morgendlichen Besäufnis, ich trottete hinter ihm her. An einer Straßenecke gegenüber der Kirche plagte sich der alte McGarrigle. Zog an seinem störrischen Esel, die eine Hand auf dem Sattel, die andere am Halfter, und drohte mit allen Heiligen. Mein Vater blieb stehen. Beobachtete den alten Mann, das bockende Tier, die Hilflosigkeit des einen, die Halsstarrigkeit des anderen, und ging über die Straße. Er stieß McGarrigle weg, stellte sich vor den Esel und beschimpfte ihn wüst, als spräche er mit dem englischen König. Ob er eine Ahnung habe, wer Patraig Meehan sei. Ob er überhaupt wisse, wem er sich da widersetze. Drohend vorgeneigt, Stirn an Stirn mit dem Esel, erwartete er eine Antwort, seine Kapitulation. Und dann schlug er zu, ein schrecklicher Hieb zwischen Augen und Nüstern. George schwankte, fiel auf die Flanke, und der Kohlenkarren kippte um. »Éirinn go Brách!«, schrie mein Vater und zog mich am Arm hinter sich her. »Gälisch sprechen heißt Widerstand leisten«, murmelte er noch. Dann gingen wir weiter.
*
Als Kind schickte mich meine Mutter manchmal in den Pub, ihn holen. Nachts. Ich traute mich nicht hinein. Ging vor der Tür und den geschlossenen Vorhängen des »Mullin’s« auf und ab. Wartete, bis wer herauskam, und drückte mich dann in den Raum mit dem scharfen Geruch nach Bier, Schweiß, feuchten Mänteln und kaltem Tabak.
»Pat? Zeit für die Suppe«, lachten seine Freunde.
Wenn es keiner sah, erhob er die Hand gegen mich, wenn ich jedoch seine Welt betrat, nahm er mich mit offenen Armen auf. Ich war sieben. Stand mit gesenktem Kopf an der Theke, bis sein Lied zu Ende war. Er hatte die Augen geschlossen, die Hand auf dem Herzen und klagte um sein zerrissenes Land, die toten Helden,den verlorenen Krieg,rief die großen Ahnen zu Hilfe, die Rebellen von 1916, die traurige Schar unserer und aller früheren Besiegten, die Chefs der gälischen Clans und auch noch Saint Patrick mit seinem Krummstab, um die englische Schlange zu verjagen. Ich sah zu ihm hoch. Hörte ihm zu. Sah die anderen schweigen und war stolz auf ihn. Trotz alledem. Stolz auf Pat Meehan, stolz auf diesen Vater, trotz der braunen Striemen auf meinem Rücken und der ausgerissenen Haarbüschel.Wenn er unser Land besang,hatten alle die Stirn erhoben und die Augen voller Tränen.Bevor er gemein wurde, war mein Vater ein irischer Dichter, und ich wurde als Sohn dieses Dichters empfangen. Kaum trat ich durch die Tür, gab es obendrauf Wärme. Klapse auf den Rücken, Schulterklopfen, Augenzwinkern von Mann zu Mann, obwohl ich doch noch ein Kind war. Jemand ließ mich die Lippen in den ockerfarbenen Schaum eines Bieres tauchen. Daher meine Bitterkeit. Ich genoss es. Trank dieses starke, schwarze Gebräu aus Erde und Blut, das mein Lebenselixier werden sollte.
»Wir trinken unsere Erde. Wir sind keine Männer mehr. Wir sind Bäume«, sang mein Vater, wenn er glücklich war.
Die anderen stellten die Gläser hin, setzten die Mützen auf und verließen den Pub. Er nicht. Bevor er aus der Tür trat, erzählte er immer noch eine Geschichte. Nahm noch ein letztes Mal die Aufmerksamkeit in Beschlag. Dann erst stand er auf und zog seinen Mantel an.
Schließlich gingen wir beide nach Hause. Er schwankend, ich in dem Glauben, ihn zu stützen. Er zeigte auf den Mond, den hellen Weg: »Das Licht der Toten.«
Im Schein des Mondes bewegten wir selbst uns schon wie Gespenster. In einer nebligen Nacht nahm er mich an der Schulter. Versprach mir vor den umflorten Hügeln, dass nach dem Leben alles so wäre, still und schön. Dass ich mich vor nichts mehr fürchten müsse. Als wir am Dorfende das Schild mit dem durchgestrichenen NA CEALLA BEAGA passierten, versicherte er mir, dass im Paradies Gälisch gesprochen werde. Dass der Regen dort so fein sei wie heute Abend, aber wärmer, und dass er nach Honig schmecke. Er lachte. Schlug mir den Jackenkragen hoch, um mich vor der Kälte zu schützen. Einmal nahm er mich auf dem Rückweg sogar bei der Hand. Und ich – war traurig. Ich wusste, dass diese Hand wieder zur Faust werden würde, die Zärtlichkeit zur Eisenhärte. In einer Stunde oder morgen und ohne dass ich wüsste, warum. Aus Gemeinheit, Stolz, Ärger, Gewohnheit. Ich war in seiner Hand, ein Gefangener. In jener Nacht aber, als meine Finger sich mit seinen verschränkten, nutzte ich seine Wärme.
*
Mein Vater war Mitglied der Irisch-Republikanischen Armee. Ein volunteer, gälisch óglach, einfacher Soldat der IRA-Brigade von Donegal. 1921 widersetzte er sich mit ein paar Kameraden dem mit den Briten ausgehandelten Waffenstillstand. Er lehnte die Grenzziehung, die Schaffung Nordirlands, die Zweiteilung unserer Heimat ab. Er wollte bis zur letzten Patrone kämpfen und die Engländer aus dem ganzen Land vertreiben. Nach dem Unabhängigkeitskrieg gegen die Briten brach bei uns der Bürgerkrieg aus.
»Verräter, Feiglinge, alle bestochen!«, schäumte mein Vater gegen seine früheren Waffenbrüder, die sich hinter den Burgfrieden stellten.
Diese Fahnenflüchtlinge seien von den Engländern bewaffnet und uniformiert worden, um auf ihre Kameraden zu schießen. Sie hätten nichts Irisches mehr an sich außer unserem Blut an ihren Händen.
Mein Vater wurde von den Briten ohne Urteil interniert, zum Tode verurteilt und begnadigt. 1922 wurde er erneut verhaftet, diesmal von den Iren, die sich auf die Seite des Kompromisses geschlagen hatten. Das hat er mir nie erzählt, aber ich wusste es. Nach sechs Jahren saß er wieder im selben Gefängnis, in der gleichen Zelle. Und wurde von seinen ehemaligen Gefährten genauso misshandelt wie zuvor vom Feind. Sie schlugen ihn eine Woche lang. Die Soldaten des neuen Freistaats Irland wollten wissen, wo sich die letzten IRA-Kämpfer versteckten, die Aufsässigen, die Ungehorsamen. Wollten die geheimen Waffenlager der Rebellen finden. In diesen Stunden, Tagen, Nächten der Gewalt quälten diese Schweine meinen Vater auf Englisch, die Stimme mit dem Stahl des Feindes gerüstet. Als wollten sie unsere Sprache heraushalten.
»Sind Sie Engländer?«, hatte ihn einmal eine alte Amerikanerin gefragt.
»Nein, im Gegenteil«, hatte mein Vater darauf geantwortet.
Wenn mein Vater mich schlug, war er sein Gegenteil.
Im Mai 1923 legten die letzten óglachs der IRA ihre Waffen nieder, und Papa wurde alt. Unser Volk war getrennt. Irland in zwei Teile zerrissen. Pat Meehan hatte den Krieg verloren. Er war kein Mann mehr, nur noch ein Verlierer. Er begann zu viel zu trinken, herumzubrüllen, sich zu prügeln. Seine Kinder zu schlagen. Als seine Armee sich ergab, waren es drei. Am 8. März 1925 gesellte ich mich zu Séanna, Róisín und Mary hinzu, die kreuz und quer in dem großen Bett schliefen. Sieben weitere sollten noch aus dem Bauch meiner Mutter kommen. Zwei haben nicht überlebt.
*
Im November 1936 habe ich den Mut meines Vaters zum letzten Mal aufflackern sehen. Er kam aus Sligo zurück. Dort hatte er mit anderen IRA-Veteranen eine öffentliche Versammlung der »Blauhemden« angegriffen, der irischen Faschisten, die in Spanien an der Seite von General Franco kämpfen wollten. Nach der Auseinandersetzung, die mit Fäusten und Stühlen ausgetragen worden war, hatten mein Vater und seine Kameraden beschlossen, der spanischen Republik zu Hilfe zu kommen. Mehrere Tage lang sprach er nur noch davon, wieder in den Krieg zu ziehen. Schön, aufrecht, aufgeregt marschierte er mit großen Schritten durch unsere Küche wie ein Soldat. Er wollte die Männer der Connolly-Kolonne mit den internationalen Brigaden vereinigen. Irland, sagte er, habe eine Schlacht verloren, der Krieg spiele sich jetzt anderswo ab. Mein Vater war nicht bloß Republikaner. Als Katholik aus Nachlässigkeit hatte er sein Leben lang für die soziale Revolution gekämpft. Die IRA sollte seiner Meinung nach...