Chalandon | Mein fremder Vater | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, Französisch, 336 Seiten

Chalandon Mein fremder Vater

Roman
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-423-43183-5
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, Französisch, 336 Seiten

ISBN: 978-3-423-43183-5
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die Hölle, das war mein Vater Was er nicht alles gewesen sein will, dieser Vater: Fallschirmjäger, Prediger, Sänger, Judolehrer, Profi fußballer, Berater von Charles de Gaulle. Und nicht zuletzt: Geheimagent. André Choulans, der Anfang der 60er-Jahre mit seiner Familie in Lyon lebt, ist kein normaler Vater, er ist ein Aufschneider und Tyrann. Er terrorisiert seinen Sohn Emile, verhängt absurde Strafen und bedrängt ihn mit seinen verqueren politischen Ansichten. Ein ergreifender Roman über eine schreckliche Kindheit, in der sich absurde wie tragikomische Szenen abwechseln - auf dem berührenden Weg eines Sohnes weit weg von einer Familie, die nie eine war.

Sorj Chalandon, geboren 1952 in Tunis, gilt als einer der bedeutendsten Journalisten und Schriftsteller Frankreichs. Viele Jahre lang schrieb er für die Zeitung >Libération<, seit 2009 ist er Journalist bei der Wochenzeitung >Le Canard enchaîné<. Für seine Reportagen über Nordirland und den Prozess gegen Klaus Barbie wurde er mit dem Albert-Londres-Preis ausgezeichnet. Auch sein schriftstellerisches Schaffen wurde mit zahlreichen Literaturpreisen gewürdigt, unter anderen dem Prix Médicis und dem großen Romanpreis der Académie française.
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2

DER PUTSCH


(Sonntag, 23. April 1961)

»Jetzt ist Krieg!«

Mein Vater knallte die Eingangstür zu. »Krieg!«, schrie er, ohne den Mantel abzulegen. Schrie es von der Schwelle in jeden Raum hinein. Wohnzimmer, Schlafzimmer, mein Zimmer. Mama und ich saßen in der Küche.

»Jetzt ist Krieg!«

Riesig stand er da, füllte den ganzen Türrahmen aus.

Ich schälte drei Karotten, meine Mutter putzte eine Stange Lauch.

»Was erzählst du da?«, fragte sie.

Er sah sie stirnrunzelnd an. Meine Mutter mit ihrem Gemüse! Das passte ihm nicht. Er rief den Krieg aus, und wir hatten nichts zu bieten außer einer läppischen Suppe.

»Was ich erzähle?«

Er schmiss die Zeitung auf den Tisch, mitten in die Gemüseschalen.

»Militärputsch in Algier«, titelte über den Fotos dreier Soldaten. »Aufständische rufen Belagerungszustand aus.«

Ich betrachtete die Überschrift mit den schwarzen Lettern, meinen Vater und meine Mutter.

»Ist jetzt Krieg, Mama?«

Meine Mutter faltete die Zeitung zusammen und legte sie auf die Spüle. »Mach du mal die Karotten fertig!«

»Genau, mach die Karotten fertig!«, höhnte mein Vater.

Meine Mutter kratzte die Erde vom Lauch, knipste die Wurzeln ab und schnitt das Weiße in feine Scheiben. Ich schabte mit einem Sparschäler die Karotten. Mein Vater beobachtete uns.

»Ist das alles, was du deinem Sohn beibringen kannst? Kochen?«

Ich war noch ein Kind, zwölf Jahre, einen Monat und sechs Tage vor diesem Sonntag, dem 23. April 1961, geboren. Ich kochte mit meiner Mutter die Suppe für die Woche und senkte den Kopf vor meinem Vater.

Was da in Algier los sei, fand sie, gehe mich nichts an. Politikzeugs, Männerkram.

Er seufzte tief. Ging aus der Küche, aber nicht aus dem Haus.

Das machte er sonst, wenn er in Rage war. Marschierte mit großen Schritten wie ein Soldat bis Saint-Irénée. Kam wieder, ohne ein Wort zu sagen. Warf die Tür ins Schloss. Ging ins Schlafzimmer, um Ruhe zu finden. Aber an diesem Abend blieb er. Tigerte durch die Wohnung wie ein Gefangener auf Hofgang. Meine Mutter horchte auf die Wut in seinen Schritten.

»Das Dreckschwein hält um acht eine Rede!«, schrie mein Vater.

Er kam wieder in die Küche, goss sich ein Glas Wasser ein. Inspizierte durchs Fenster die Stadt. Wartete auf etwas, was, wusste ich nicht.

»Der Junge soll das sehen. Hier wird Geschichte geschrieben.«

Er nahm mir die Karotte ab. Beugte sich über den Tisch.

»Weißt du, was ein Schwur ist?«

Ich verstand kein Wort. Schützte mit dem abgewinkelten Arm mein Gesicht.

»Du machst ihm Angst«, warf meine Mutter ein.

»Der Saukerl hat nämlich seinen Schwur gebrochen«, sagte mein Vater. Seine Stimme klang böse.

Er ging ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein.

»Denise, Picasso! Es geht los!«

Mein Vater hatte sich wie immer auf dem Sofa breitgemacht.

»Das ist mein Sofa«, pflegte er zu sagen.

Einmal hatte ich beim Kehren die Schlafzimmerwand beschädigt. Mit dem Besenstiel einen Kratzer im Gips gemacht. Er ohrfeigte mich dafür, weil es seine Wand war und sein Besen.

»Nichts gehört dir hier, verstanden? Dir nicht und deiner Mutter auch nicht.«

Breitbeinig saß er da, die Ellbogen auf der Rückenlehne, die Arme ausgestreckt, und ließ meiner Mutter nur ein kleines Eckchen am Rand frei.

»Du hast ja deinen Sessel!«

Ich hatte mich auf den Boden gesetzt und an den Couchtisch gelehnt.

Aber an diesem Abend klopfte er mit der Hand neben sich auf das Sofa, ich sollte zu ihm kommen. Er wollte die Seinen um sich scharen. Familie Choulans lauscht dem Verräter.

sagte de Gaulle in Uniform.

Ich sah zu meinem Vater hin. Verschlossene Miene, vor Abscheu verzerrte Lippen.

»Ich geb’s dir gleich mit deiner Handvoll Generäle!«

Es wurde dunkel. Mein Vater beantwortete jeden Satz de Gaulles mit einer Beschimpfung.

»Die Katastrophe bist du selber, Idiot!«

»Ich schlag dich gleich nieder! Du bist tot, du Dreckskerl!«

Mein Vater sprang vom Sofa auf.

sagte de Gaulle.

Mein Vater marschierte im Stechschritt durchs Wohnzimmer.

Mein Vater räusperte sich, zog seine Hose hoch und klackte mit den Pantoffeln aufs Parkett.

Mein Vater lachte hämisch. »Hörst du, was dieser Abschaum von sich gibt? Hörst du das?«

Meine Mutter nickte. Sie machte ein Gesicht, wie wenn wir, bedrückt von meinen schlechten Noten, am Abend nach dem Zeugnis auf ihn warteten.

»Ja, wir helfen dir gleich beim Krepieren!«

Er machte den Fernseher aus, ging aus dem Zimmer und schaltete das Transistorradio ein. Lief durch die Wohnung, das Radio ans Ohr gepresst, und sagte immer wieder, dass dieser Dreckskerl sich selbst die Generalvollmacht erteilt habe. Er wartete auf die nächsten Nachrichten.

Édith Piaf sang:

Meine Mutter schaute mich an. Ich saß auf dem Boden und schlief fast ein.

»Komm schon, ich bring dich ins Bett.«

Sie ging mit mir in mein Zimmer. Zog mit matter Hand die Vorhänge zu. Beugte sich über mich, gab mir aber keinen Kuss. Nur einen Blick. Mach dir nichts draus, murmelte sie mir zu. So ist Papa eben. In Wirklichkeit ist es lang nicht so schlimm. Und morgen ist alles vorbei.

Meine Mutter summte das Chanson mit und lächelte in die Nacht.

Ich erschrak. Legte ihr schnell die Hand auf den Mund. Warf ihr einen flehenden Blick zu. Noch vom Balkon aus hätte mein Vater sie hören können. Er hasste es, wenn Mama sang. Die Sänger hatten ihm schon zu viel angetan.

*

Im Juni 1958 war meine Mutter zu einem Konzert der Compagnons de la Chanson ins Amphitheater eingeladen worden. Da war ich neun. Es war das erste Mal, dass sie allein ausgehen wollte. Schon bevor ich auf die Welt kam, war mein Vater immer dagegen gewesen. Sie hatte noch nie einen Künstler auf der Bühne gesehen. Madame Labarrès, eine Kollegin meiner Mutter aus dem Büro des Verkehrsverbundes, hatte im Gewinnspiel »Radio Théâtre« von Radio Luxembourg zwei Karten für die Vorstellung gewonnen. Sie war allein und hatte keine Kinder. Und sie hatte es geschafft, meine Mutter dazu zu überreden, mit ihr dorthin zu gehen.

Das war an einem Samstag. Meine Mutter hatte meinen Vater um Erlaubnis gefragt, aber keine Antwort erhalten. Kein Wort, keinen Wink. Was denn daran so schlimm sei, wenn sie mal bis neun wegbliebe? Außerdem kenne er doch Madame Labarrès. Sie würde mit ihr in das Konzert gehen, und anschließend würde sie sie nach Hause bringen. Was sollte daran gefährlich sein?

Er schaute aus dem Wohnzimmerfenster, Mama stand hinter ihm. Dann schickte sie mich in mein Zimmer. Ich hatte, wie sie gesagt hatte, meine Tür geschlossen und mich hinter meinem Zeichenheft verkrochen, wie ich es immer tat, wenn ich mich fürchtete. Auf dem Bett sitzend, kolorierte ich hingebungsvoll die Hälfte der Seite: einen Strand, gelb und orange mit weißen Reflexen, dann das Blau des Meeres, bewegte Wellen mit Schaumkronen drauf. Anschließend zeichnete ich sehr hoch im Regenhimmel einen Jungen: grüne Hose, weißes Hemd, zerzauste Haare. Gab ihm ein Lächeln. Mit geschlossenen Augen schwebte er zwischen den Wolken im Wind, einen roten Luftballon in jeder Hand. Dann machte ich ihn mit einer Schnur um die Knöchel zu einem Drachen. Ich hatte mir einmal einen aus einer Plastiktüte und Kirschzweigen gebastelt, der nie flog. Weil es keinen Wind gab, keinen Sand, kein Meer und keinen Arm um meine Schulter, der meine Hände zum Himmel lenkte. Die Zeichnung war fertig. Ich signierte sie mit Picasso.

Das machte ich schon, seit ich klein war. In der Vorschule hatte uns die Lehrerin einmal erzählt, Picasso sei der größte Maler der Welt, und ein Clownsposter in den Unterricht mitgebracht. Picasso hatte seinen Sohn Paul als Harlekin mit Torerohut, gelb-blau kariertem Kostüm, Halskrause und Spitzenmanschetten porträtiert, aber das Lächeln vergessen. Er sah mir ähnlich mit seinen glatten Haaren und traurigen Augen. Man merkte das Zögern des Stifts, die Pompons und Fransen des Sessels waren nur skizziert. Auch die Schuhe waren nicht fertig, nur mit einem schlichten Strich als Umriss angedeutet.

Ich legte Heft und Stifte auf mein Bett. Hielt mir die Ohren zu und schloss die Augen. Wartete auf das Gebrüll meines Vaters, aber es kam nichts. Stille. Nur in meinen Ohren rauschte es wie vom Atem einer Meeresmuschel.

Meine Mutter kam herein. Lächelnd. Verwandelt. Roter Rock, weiße Bluse, leichte Jacke. Sie ging aus. Sie hatte gewonnen. Zum Abendessen gebe es Schinken und Frischkäse. Ob ich mich nicht freute, einmal mit meinem Vater allein zu Abend zu essen? Keine Ahnung. Es war noch nie vorgekommen, dass wir zu zweit am Tisch saßen.

»Räumst du dann...


Große, Brigitte
Brigitte Große, 1957 in Wien geboren, studierte Philosophie, Musikwissenschaft, Soziologie und Psychologie in Wien und Hamburg. Anschließend war sie als Lektorin und Redakteurin tätig. Sie lebt heute als Übersetzerin aus dem Französischen in Hamburg. Sie überträgt unter anderem Amélie Nothomb,  Wilfried N’Sondé und Gaël Faye ins Deutsche. 1994 und 2015 erhielt Brigitte Große den Hamburger Förderpreis für Literatur und literarische Übersetzungen. Sie war Trägerin des Hieronymusrings und wurde 2017 mit dem Österreichischen Staatspreis für literarische Übersetzung ausgezeichnet.

Chalandon, Sorj
Sorj Chalandon, geboren 1952 in Tunis, gilt als einer der bedeutendsten Journalisten und Schriftsteller Frankreichs. Viele Jahre lang schrieb er für die Zeitung ›Libération‹, seit 2009 ist er Journalist bei der Wochenzeitung ›Le Canard enchaîné‹. Für seine Reportagen über Nordirland und den Prozess gegen Klaus Barbie wurde er mit dem Albert-Londres-Preis ausgezeichnet. Auch sein schriftstellerisches Schaffen wurde mit zahlreichen Literaturpreisen gewürdigt, unter anderen dem Prix Médicis und dem großen Romanpreis der Académie française.

Sorj Chalandon, geboren 1952 in Tunis, gilt als einer der bedeutendsten Journalisten und Schriftsteller Frankreichs. Viele Jahre lang schrieb er für die Zeitung ›Libération‹, seit 2009 ist er Journalist bei der Wochenzeitung ›Le Canard enchaîné‹. Für seine Reportagen über Nordirland und den Prozess gegen Klaus Barbie wurde er mit dem Albert-Londres-Preis ausgezeichnet. Auch sein schriftstellerisches Schaffen wurde mit zahlreichen Literaturpreisen gewürdigt, unter anderen dem Prix Médicis und dem großen Romanpreis der Académie française.

Sorj Chalandon, geboren 1952 in Tunis, gilt als einer der bedeutendsten Journalisten und Schriftsteller Frankreichs. Viele Jahre lang schrieb er für die Zeitung ›Libération‹, seit 2009 ist er Journalist bei der Wochenzeitung ›Le Canard enchaîné‹. Für seine Reportagen über Nordirland und den Prozess gegen Klaus Barbie wurde er mit dem Albert-Londres-Preis ausgezeichnet. Auch sein schriftstellerisches Schaffen wurde mit zahlreichen Literaturpreisen gewürdigt, unter anderen dem Prix Médicis und dem großen Romanpreis der Académie française.



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