E-Book, Deutsch, 200 Seiten
Reihe: dtv- premium
Chalandon Die Legende unserer Väter
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-423-41135-6
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 200 Seiten
Reihe: dtv- premium
ISBN: 978-3-423-41135-6
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sorj Chalandon, geboren 1952 in Tunis, gilt als einer der bedeutendsten Journalisten und Schriftsteller Frankreichs. Viele Jahre lang schrieb er für die Zeitung >Libération<, seit 2009 ist er Journalist bei der Wochenzeitung >Le Canard enchaîné<. Für seine Reportagen über Nordirland und den Prozess gegen Klaus Barbie wurde er mit dem Albert-Londres-Preis ausgezeichnet. Auch sein schriftstellerisches Schaffen wurde mit zahlreichen Literaturpreisen gewürdigt, unter anderen dem Prix Médicis und dem großen Romanpreis der Académie française.
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1
Neun Personen und drei Fahnen waren beim Begräbnis meines Vaters. Es fand am 17.November 1983 statt, da war ich siebenundzwanzig Jahre alt. Lupuline war auch da, ich aber sah zu den Fahnen hin. Schlappe Standarten, müde, fast grau. Die erste trug schwer an ihren Medaillen wie ein alter Soldat. Die zweite war eine Trikolore ohne Troddeln und Galonen mit der Aufschrift: . Auf der dritten sah man einen schwarzen Stern und einen lauernden roten Panther.
Mamas Hand berührte meine. Mein Bruder Lucas, zehn Jahre älter als ich und blind, stand mit verschränkten Armen am offenen Grab. Ich suchte den Himmel nach Regen ab. Mein Vater hatte Gewitter geliebt. Er sagte immer »Wetter« statt »Regen«. Die Abwesenheit von Wolken stimmte ihn traurig. Sonnenschein machte ihn unruhig. An schönen Tagen erging es ihm wie mir in diesem Moment an seinem Grab: Er blickte zum Himmel und fragte sich, wo das Wetter blieb.
Als mein Vater beerdigt wurde, war er schon acht Jahre so gut wie tot. Lucas’ Unfall hatte ihn aus der Bahn geworfen, geschwächt und schließlich umgebracht. Sein Krebs komme vom Kummer, sagte er. Er ging ins Spital. Kam wieder heraus. Wollte die weißen Kittel nicht mehr sehen, den Geruch des Schweigens nicht mehr in der Nase haben, nichts mehr im Mund, im Hintern, in den Venen. Er war nicht krank, nur erschöpft. Von uns, von seiner Vergangenheit, von seinem Leben. Also kam er im April 1975 nach Hause und legte sich hin.
Er starb an seinem sechsundsechzigsten Geburtstag. Mama hatte das Geschenk im Wohnzimmerschrank versteckt. Eine Meerschaumpfeife mit einem Zuavenkopf, in blaues Papier eingeschlagen. Niemand hat je daran gerührt. Heute liegt sie samt Verpackung und Geschenkbändchen zwischen zwei Büchern in meinem Regal.
Zuerst wollte mein Vater seinen Leichnam der Wissenschaft vermachen. Den ganzen Körper, nichts sollte übrig bleiben. Meine Mutter protestierte schwach. Weinte heimlich. Er wusste es. Er ahnte ihre leisesten Regungen. Dann sprach er von Einäscherung, die Asche sollte auf einem Gedächtnisrasen in der Nähe des Friedhofs verstreut werden. Das machte Mama genauso traurig. Eines Tages gab sie es zu. Dass sie sich ein Stückchen Erde wünschte, für ihn, also für sich. Einen Ort der Erinnerung, zu dem man zurückkehren könnte, weggehen, schlafen und wieder hingehen. Da nahm mein Vater meine Mutter in die Arme. Das machte er sonst nie. Ich kam gerade aus der Küche, war noch ein Kind damals. Fand meine Eltern in einer Ecke des Flurs. »Du willst doch auch, dass wir vereint sind?«, fragte mein Vater. Vereint, wiedervereint. Auf ewig. Also doch ein Leichenbegängnis. »Zug der Heuchler«, hatte Papa das immer genannt. Für Mama und uns würde er seinen Platz einnehmen.
Mein Vater hieß Pierre, aber die Jungs hatten »Brumaire« in seinen Grabstein gravieren lassen. Der stand verkehrt neben der Grube, dunkel leuchtend vor Neuheit. Da war kein Priester, da würde kein Kreuz sein. Nur ein grauer Granitblock, roh und rau, wie dem Felsen entrissen.
Wir waren nicht viele. Meine Mutter Haut an Haut mit ihren Kindern. Onkel Veurnes. Ein Cousin, eine allzu traurige Freundin und die Jungs von der Résistance. Mein Vater nannte sie immer so, »die Jungs«. Am Loch standen nur drei.
»Lille ist zu weit weg«, sagte meine Mutter entschuldigend. »Außerdem ist eine Beerdigung unter der Woche unpraktisch.«
Aber ich wusste, dass die Entfernung nicht das Problem war. Auch der Wochentag nicht. Es waren nur drei, weil es nur noch drei waren.
Als der Sarg an den Stricken hinabsank, entfuhr meiner Mutter ein animalischer Laut, ein Hauch von Klage, wie ausströmende Luft. Ich nahm sie am Arm. Lucas schluchzte, ohne etwas zu sehen. Die anderen senkten den Kopf. Die Freundin weinte laut. Die Jungs salutierten vor dem Sarg mit hocherhobenem Kopf und der Hand an der Schläfe. Ich sah ihre zitternden Hände, ihr bebendes Kinn und die alten Fahnen, die sich zum Grab hin neigten.
»Wir haben keine außergewöhnlichen Ehrungen erwartet, keinen besonderen Lohn, keine Vorzugsbehandlung. Wir waren nicht darauf vorbereitet, die Rolle von Nationalhelden zu übernehmen…«
Das sagte einer der Jungs am offenen Grab. Der Einzige, den mein Vater »Genosse« nannte. Sie hatten gemeinsam gekämpft, erst in einem Abschnitt des Loiret, dann in der Region Paris. Wurden gemeinsam verhaftet und deportiert. Und als sie aus dem Lager kamen, waren sie müde geworden. »Brumaire« und »Tristan«. Seinen wahren Namen habe ich nie erfahren. Er war Tristan, sonst nichts. Und für immer. Der Krieg hatte ihn so getauft und der Frieden keinen Widerspruch gewagt.
Tristan würdigte Brumaire als Letzter, das Manuskript lag offen vor ihm. Der erste Tropfen fiel auf seine Worte. Dann ein zweiter. Mein Vater hätte nach oben geblickt und gesagt: »Endlich geht das Wetter los.« Vorbei. Wir wussten nicht, wohin mit unserem Schweigen. Ein steif gekleideter Mann bedeutete uns mit ausgestreckten Armen, wir müssten Platz für die Erde machen. Lucas fuhr mit einer knappen Bewegung seinen Stock aus und hängte sich bei Mama ein. Die trauernden Angehörigen gingen. Dann die Veteranen. Nur Tristan rührte sich nicht vom Fleck. Er las seine Rede von dem Manuskript ab, das er sich nun vor die Brille hielt, Regentropfen flossen als Tintentränen über das Blatt.
Neun Personen und drei Fahnen. Das war das Begräbnis meines Vaters.
Als wir die Allee entlanggingen, sah ich Lupuline. Sie musste in meinem Alter sein. Blonder Pagenkopf, sehr blasses Gesicht, gerade Nase, feingezeichneter Mund. Später bemerkte ich, dass sie beim Lächeln Grübchen in den Wangen hatte.
Ein Mann stand neben ihr. Knapp sechzig, auf einen Krückstock gestützt, überragte er uns alle. Sie hatten sich abseits gehalten. Nicht bei den Trauernden, nicht bei den Fahnen. Etwas dahinter, zwischen zwei grasbewachsenen Gräbern. Sie hatten kein Wort gesagt. Keine Rose auf den feuchten Sarg geworfen. Die Jungs umarmten meine Mutter, Lucas und mich. Lupuline und dieser Mann gaben uns nicht einmal die Hand. Sie standen nur da. Gingen allein zum Ausgang. Und entfernten sich, während wir den Trauerzug auflösten.
Er hieß Tescelin Beuzaboc. Sie war seine Tochter. Doch ihre Namen sollte ich erst sehr viel später erfahren. Damals waren sie bloß ein seltsames, schweigendes Paar, Gespenster, anwesend und abwesend zugleich.
Es war meine dritte Begegnung mit ihnen.
Das erste Mal hatte ich sie auf einem Bürgersteig in Valenciennes gesehen. Das Mädchen an der Hand seines Vaters. Bei einem Fackelzug zur Feier des Waffenstillstands. Da war ich achtzehn und Papa noch auf den Beinen. Schweigend führte er die Jungs an. Keine Fahne, nur ihre Schritte. Im Licht meiner Fackel sah ich Tescelin. Reglos, das Gesicht verschattet, zerfurcht wie ein Stück Rinde. Weiße Mähne, buschige Brauen, blaue Augen. Schwer auf seinen Stock gestützt, aber hoch aufgerichtet. Wie bereit zum Kampf oder zum Appell. Die Schultern, der Hals, der Kopf. Kinn und Blick erhoben.
Das zweite Mal bei der Beerdigung von »Fournel«, drei Jahre vor dem Tod meines Vaters. Fournel hieß eigentlich Maujean, er war einer von den , zweimal im Kampf verwundet und in seinem Treppenhaus gestorben. Er hatte unter dem Kommando von Capitaine Duchartre in Loir-et-Cher gekämpft. Bestattet wurde er in Arras, an der Seite seiner Frau. Mein Vater verließ sein Zimmer nicht, um Fournel zu begleiten. Und wir begriffen, dass er nie mehr aufstehen würde. Mama ging für ihn zum Begräbnis. Mit Lucas und mir. Ich hatte Lucas meinen Arm um die Schulter gelegt. Er weigerte sich, die schwarze Brille tragen. Weil die Leute dann den Blick abwandten. Lupuline und Tescelin standen wieder etwas weiter weg, hinter einem Mäuerchen. Und gingen vor der Beisetzung. Grußlos, wortlos. Nur ihre Schritte auf dem Kies. Einmal drehte Lupuline sich kurz um. Betrachtete meinen Bruder und mich, die klägliche Besetzung. Ernst und seltsam. Ihr Blick war schrecklich. Irritierend stählern. Ein helles, fast weißes Blau, wie bei ihrem Vater. Ihre Schuhe aber waren einzigartig. Im Fackelschein auf dem Bürgersteig, beim Begräbnis von Fournel und zur Beerdigung meines Vaters trug Lupuline rote Schuhe. So war sie mir zum ersten Mal aufgefallen. So hatte ich sie beim zweiten Mal wiedererkannt. Und als der Sarg meines Vaters hinabsank und ich den Blick von der Lehmhalde hob, sah ich die roten Schuhe zum dritten Mal.
***
Mein Vater war am 14.November 1907 zur Welt gekommen. Deshalb nannten seine Kameraden ihn »Brumaire«. Er sprach selten vom Krieg. Nie vor einem Mikrofon, nie auf einer Bühne, nur ab und zu in ruhigen Worten für einen Freund, einen Verwandten, einen Veteranen der .
»Mein Name ist Pierre Frémaux«, sagte er dann.
Nicht »Brumaire«. Er erzählte keine Geschichte, ließ nicht die Vergangenheit Revue passieren. Er war heimgekehrt. Hatte zwei Söhne. Ich aber war lange davon überzeugt, es gebe für ihn nur einen. Lucas war sein Großer, sein Liebling, sein Sohn. Zehn Jahre lagen zwischen uns, eine Welt. Mit Lucas hat er geredet, mit mir nur gespielt. Lucas lehrte er das Leben. Für mich machte er Schattenspiele an der Wand. Ich hing an seinen Lippen. Lucas las in seinen Augen. Ihm erzählte mein Vater vom Widerstand. Von ungeahnten Gefahren, vom Kampf, von seinem Spaß daran. »Manchmal spielten wir auch Krieg«, sagte er lächelnd. war für ihn ein Ort für Freunde. Man ging hin, ging wieder weg, flüsterte, wenn man dort war, und kam nie ganz davon los. Einmal, als er etwas getrunken hatte, erklärte er Lucas, wie das mit dem...