Chalandon | Am Tag davor | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 368 Seiten

Chalandon Am Tag davor

Roman
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-423-43533-8
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 368 Seiten

ISBN: 978-3-423-43533-8
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



»Ein großes Buch von einer unglaublichen erzählerischen Kraft.« Volker Weidermann in >Das Literarische Quartett< (ZDF) Der Tag vor der Katastrophe: Der 16-jährige Michel fährt gemeinsam mit seinem geliebten großen Bruder Joseph auf dem Moped durch die Straßen seiner französischen Heimatstadt. Gemeinsam fühlen sie sich unbesiegbar. Am Tag darauf kommen bei einem Grubenunglück 42 Bergmänner ums Leben, aufgrund eines fatalen Fehlers der Werksleitung. Joseph erliegt seinen Verletzungen. Michel flüchtet sich nach Paris, auch um die Worte des Vaters zu vergessen: »Du musst uns rächen!« Doch der Schmerz vergeht nicht, und so beginnt Michel Jahre später seinen Rachefeldzug. Noch weiß er nicht, dass die Nacht vor dem Unglück anders war, als er sie in Erinnerung hat.

Sorj Chalandon, geboren 1952 in Tunis, gilt als einer der bedeutendsten Journalisten und Schriftsteller Frankreichs. Viele Jahre lang schrieb er für die Zeitung >Libération<, seit 2009 ist er Journalist bei der Wochenzeitung >Le Canard enchaîné<. Für seine Reportagen über Nordirland und den Prozess gegen Klaus Barbie wurde er mit dem Albert-Londres-Preis ausgezeichnet. Auch sein schriftstellerisches Schaffen wurde mit zahlreichen Literaturpreisen gewürdigt, unter anderen dem Prix Médicis und dem großen Romanpreis der Académie française.
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1 Joseph, mein Bruder



Joseph, eng an mich geschmiegt. Er auf dem Gepäckträger, breitbeinig über den Satteltaschen wie ein Cowboy beim Rodeo. Ich über den Lenker gebeugt, die rechte Hand auf dem Gashebel. Er wirft die Arme hoch. Singt laut. Eigene Lieder ohne Text und Melodie, schräge, bierselige Worte.

Der röhrende Motor weckt die schlafende Stadt.

»So ist das Leben!«, schreit mein Bruder.

Noch nie war ich so stolz.

*

Vor dieser Nacht hatte ich Jojos Moped nur ein einziges Mal gefahren. Immer rundherum bei uns auf dem Bauernhof, wie ein Zirkuspferd an der Longe. Er hatte das Motobécane gekauft, um den alten Renault zu ersetzen, den er nicht mehr benutzte. Das Auto war nicht mehr zu reparieren, nur noch zu reanimieren. Irgendwann ließ er es am Straßenrand stehen.

»Das fahren wir sonntags.«

Mit siebenundzwanzig gab mein Bruder auch sein altes Fahrrad für das Moped auf.

Den »Rolls der Anständigen« nannte er es.

Für ein paar Münzen polierte ich die Chromteile, machte den Dreck weg, der an der Gabel klebte, putzte die Scheinwerfer und schmierte das Radlager. Ich durfte auch das Werkzeug unter dem Sattel verstauen. Allgemein hieß es »das Blaue«. Mein Bruder sagte auch »Gulf« dazu, weil es die gleiche Farbe hatte wie Steve McQueens Porsche in »Le Mans«, einem Film, den ich mit Jojo auf Französisch im »Majestic« gesehen hatte.

Steve McQueen spielt darin den Rennfahrer Michael Delaney.

»Bei uns spricht man das Michel Delanet aus«, erklärte mein Bruder.

Ich war verblüfft: Delanet und ich hatten denselben Vornamen.

Steve McQueen war der amerikanische Held meiner Kindheit. Ich hatte ihn in den »Glorreichen Sieben« gesehen, in »Gesprengte Ketten« und in »Bullit«. Vor dem Spiegel übte ich sein Lächeln und sein Stirnrunzeln. Wenn mich einer in der Schule provozierte, presste ich die Lippen zusammen wie er. Ich borgte mir ein bisschen was von seinem Schmollen. Mein Bruder schwor, dass ich die gleichen Schatten im Gesicht hätte. Und das gleiche Schweigen.

»Verrückt«, murmelte er, »der hat deine Augen.«

»Le Mans« ist ein merkwürdiger Film. Kein Drehbuch, nervige Musik. Wirkt gar nicht wie Kino. Außer am Anfang. Diese eine Minute Stille vor dem Rennen.

Der Wagen mit der Nummer 20 stand am Start. Die Tür fiel zu. Kein Geräusch drang in die Kabine. Die Menge brodelte, aber wir hörten nichts. Michel Delanet zog sein weißes Tuch über Mund und Nase. Setzte den Helm auf, legte den Gurt an, verschloss seinen Blick. Die rechte Hand lag auf dem Lenkrad. Langsam entspannte er die Finger. Sein Herz klopfte. Wir hörten es. Zuerst weit entfernt, wie eine Marschtrommel. Dann immer stärker, immer näher, es hämmerte fast an unsere Schläfen. Ich hielt im Dunkeln die Hand meines Bruders. Daran erinnere ich mich. Diese Schreie des Herzens glichen meinen nächtlichen Schrecken.

In den Bergarbeitersiedlungen hatte Le Mans« nicht eingeschlagen. Eine Woche nach dem Anlaufen des Films nahm ihn das »Majestic« wieder aus dem Programm. Als die Platzanweiserin das Plakat aus dem Schaufenster holte, fragte mein Bruder, ob es zu verkaufen sei. Sie zögerte. Er lächelte. Ich pinnte es mit Reißzwecken über mein Bett. Bevor ich abends meine Lampe ausknipste, sah ich Michel Delanet mit seinem Helm in der Hand, meinen Lippen und meinen Augen. Ich schrieb »Gulf« auf ein Klebeband, das ich am Schutzblech des Mopeds befestigte.

*

Als Kind hatte Joseph davon geträumt, Rennfahrer zu werden. Erst Mechaniker in der Boxengasse, als Teil des Reifenwechslerballets. Dann Fahrer in einem großen Team. Und schließlich würde er uns als Champion vom Siegerpodest eine Champagnerdusche verpassen.

Aber mein Vater hatte nie daran geglaubt.

»Rennwagen haben in einem Stall nichts verloren, da gehört nur das Vieh rein«, sagte er gern.

In unserer Gegend wurde über den Boden und die Kohle geredet, nicht über Motorsport. Wie die anderen Bauern hoffte mein Vater, dass sein Sohn einmal den Hof übernehmen würde, und fürchtete, dass die Mine ihn entführen könnte.

Also absolvierte mein Bruder die Grundschule und ging nach der mittleren Reife auf eine Berufsschule, reparierte nachts unseren Traktor und stoppte dabei seine Zeit, als ob er in einer Boxengasse der Formel 1 arbeitete. Dann machte er eine Mechanikerlehre in einer Autowerkstatt in Lens. Ein verlorenes Jahr, wie er später sagen würde. Er setzte nie einen Fuß auf den Asphalt einer Rennstrecke. Und kam nicht einmal in die Nähe des Siegertreppchens. Unser Vater sollte recht behalten.

Am Ende wurde auch mein Bruder vom Schacht verschluckt, wie alle hier.

Tag für Tag kam mein Bruder an der Zeche Saint-Amé vorbei. Auf dem Weg zur Werkstatt sah er Männer zu den Metalltoren der Grube eilen, hineingehen, herauskommen, schweigend nebeneinanderher marschieren. Wie ein eigenes Volk, dachte er. Eine Armee einfacher Menschen. Er baute Luftfilter aus und stellte Vergaser ein. Sie schürften in der Erde, um das Land zu beleuchten, für die Familien zu heizen, Zement und Beton zu produzieren und unsere Straßen zu asphaltieren. Er dichtete Öllecks ab, sie schufteten für unseren Komfort. Er hatte von Autorennen geträumt, stattdessen reparierte er Motoren. Das glorreiche Kind war tot. Der Held hatte abgedankt. Nicht einmal mehr beim Bremsscheibenwechseln spielte er den Mechaniker aus »Grand Prix«.

Abends stellte er mit ölbeschämten Händen sein Fahrrad vor dem Werkstor von Schacht 3b ab und hob den Blick zum Himmel. Die Seilscheiben in den Fördergerüsten drehten sich langsam. Sie erzählten vom Erz, das zu Tage gefördert wird, und von den Menschen, die in die Teufe fahren. Er hatte gelernt, das Singen der stählernen Türme nachzuahmen. Das hatte er geübt, den Blick auf die Räder geheftet. Dieses Geräusch, behauptete er, sei eines der am schwersten zu imitierenden. Und eines der schönsten.

»Das Lied des Hahns kann jeder krähen. Aber das Lied der Arbeit ist eine andere Geschichte«, sagte Jojo.

Monate vergingen, und seine Darbietung wurde immer vollkommener. Das war nicht das Stampfen, das man am Fuß der Maschinen hören konnte, sondern der Odem, der über der Stadt lag. So wie die Zeche von fern klang. Nicht ihr Ruf, sondern ihr Rumoren. Das dumpfe Grummeln über den Dächern, das zur Essenszeit, wenn der Mann heimkam, durch die geschlossenen Türen bis in die Küche drang. Es war die Melodie der geschichtslosen Tage, die an der Oberfläche summte, wenn unten alles gut lief. Das Schweigen der Seilscheiben war das Zeichen der Katastrophe, des Streiks. Es ging den Sirenen voraus, die die Nacht gefrieren ließen.

Jojo brachte mir seinen Trick bei. Geduldig zeigte er mir, wie man ein Kikeriki überbietet. Zuerst die Augen schließen. Ein wenig die Backen aufblasen. Dann mit Gurgel und Zähnen knarzen, um ein metallisches Jaulen, ein mechanisches Röcheln zu erzeugen. Es machte ihm Spaß, zwischen zwei Bierchen am Tresen von »Chez Madeleine« das Lied des Förderturms zum Besten zu geben wie einen guten Witz. Die Leute am Tresen applaudierten. Allmählich wurde seine Nummer zu einem Hit, sogar unter Bergleuten. Darauf war ich stolz.

Eines Sonntags fragten zwei Kumpel meinen Bruder, ob er auch anderes nachmachen könnte: das Rumpeln des Förderkorbs bei der Seilfahrt, das Knirschen der Zahngestänge, das Klirren der Keilhaue, das Dröhnen des Abbauhammers oder wie der Strebmeister sie anschreit, dass sie vor Schichtende noch einen Meter schaffen müssen.

Ich war dabei, zwischen den Beinen meines Bruders. Spielte mit den anderen Jungs, während die Väter würfelten. Jojo war gerade zwanzig geworden, ich sechs. Die Arbeiter machten sich nicht über ihn lustig. Sie kamen in seine Werkstatt und lachten am Tresen über seine Nummer. Sie verstanden nur nicht, warum ein solcher Kerl ihnen nicht dabei half, die Kohle aus dem Berg zu holen.

»So ist das Leben«, sagte mein Bruder.

Er wisse nichts von der Zeche, außer dass ein Verwandter vor sieben Jahren dort seine Jugend verloren habe. Gestorben am 16. März 1957 in Schacht 3 von Lens. In ihrer Grube. Gleich um die Ecke. Liévin, Lens, unser aller Grab.

»Ein Seemann kann auch im Meer ertrinken«, sagte der Ältere lächelnd.

Die Zeche brauche seine Arbeitskraft. Die Ausbildung könne er in seiner freien Zeit an der Bergschule machen. Dort würde ihm alles beigebracht: hobeln, schrämen, fördern. Ob das nichts für ihn wäre, Facharbeiter zu werden? Aufzusteigen? Dem Land nützlich zu sein?

Mein Bruder beobachtete den Bergmann. Und beaufsichtigte mich. Wir tobten über Straßen und Bürgersteige und mischten Kartenrunden auf. Störten die Dartspieler mit unserem kindischen Gekreisch. Mit einer Handbewegung rief er mich zu sich.

»Gehen wir?«, fragte ich.

Er trug seinen Sonntagsanzug und seine Montagsstirn.

Er legte mir die Hand auf die Schulter.

»Wir gehen.«

Dem alten Bergmann erklärte er, er habe nicht den Mumm, noch einmal ganz von vorn anzufangen. Den Gesang des Fördergerüsts nachzumachen sei etwas anderes als in den Schacht einzufahren. Außerdem wisse er nicht einmal, was man dort unten tue.

»Es ist schon spät«, sagte er schließlich.

Und dann sei ja auch ich noch da und warte auf ihn. Sein jüngerer Bruder, der sich bei einem Rest Pfefferminzsirup langweilte....


Chalandon, Sorj
Sorj Chalandon, geboren 1952 in Tunis, gilt als einer der bedeutendsten Journalisten und Schriftsteller Frankreichs. Viele Jahre lang schrieb er für die Zeitung ›Libération‹, seit 2009 ist er Journalist bei der Wochenzeitung ›Le Canard enchaîné‹. Für seine Reportagen über Nordirland und den Prozess gegen Klaus Barbie wurde er mit dem Albert-Londres-Preis ausgezeichnet. Auch sein schriftstellerisches Schaffen wurde mit zahlreichen Literaturpreisen gewürdigt, unter anderen dem Prix Médicis und dem großen Romanpreis der Académie française.

Große, Brigitte
Brigitte Große, 1957 in Wien geboren, studierte Philosophie, Musikwissenschaft, Soziologie und Psychologie in Wien und Hamburg. Anschließend war sie als Lektorin und Redakteurin tätig. Sie lebt heute als Übersetzerin aus dem Französischen in Hamburg. Sie überträgt unter anderem Amélie Nothomb,  Wilfried N’Sondé und Gaël Faye ins Deutsche. 1994 und 2015 erhielt Brigitte Große den Hamburger Förderpreis für Literatur und literarische Übersetzungen. Sie war Trägerin des Hieronymusrings und wurde 2017 mit dem Österreichischen Staatspreis für literarische Übersetzung ausgezeichnet.

Sorj Chalandon, geboren 1952 in Tunis, gilt als einer der bedeutendsten Journalisten und Schriftsteller Frankreichs. Viele Jahre lang schrieb er für die Zeitung ›Libération‹, seit 2009 ist er Journalist bei der Wochenzeitung ›Le Canard enchaîné‹. Für seine Reportagen über Nordirland und den Prozess gegen Klaus Barbie wurde er mit dem Albert-Londres-Preis ausgezeichnet. Auch sein schriftstellerisches Schaffen wurde mit zahlreichen Literaturpreisen gewürdigt, unter anderen dem Prix Médicis und dem großen Romanpreis der Académie française.

Sorj Chalandon, geboren 1952 in Tunis, gilt als einer der bedeutendsten Journalisten und Schriftsteller Frankreichs. Viele Jahre lang schrieb er für die Zeitung ›Libération‹, seit 2009 ist er Journalist bei der Wochenzeitung ›Le Canard enchaîné‹. Für seine Reportagen über Nordirland und den Prozess gegen Klaus Barbie wurde er mit dem Albert-Londres-Preis ausgezeichnet. Auch sein schriftstellerisches Schaffen wurde mit zahlreichen Literaturpreisen gewürdigt, unter anderen dem Prix Médicis und dem großen Romanpreis der Académie française.



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