E-Book, Deutsch, 541 Seiten
Cesco Die Tochter der Tibeterin
16001. Auflage 2016
ISBN: 978-3-96048-024-2
Verlag: Econ
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Spannende Fortsetzung des erfolgreichen Romans «Die Tibeterin»
E-Book, Deutsch, 541 Seiten
Reihe: Ullstein-Bücher, Allgemeine Reihe
ISBN: 978-3-96048-024-2
Verlag: Econ
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Federica de Cesco, Tochter einer Deutschen und eines Italieners, wuchs in verschiedenen Ländern mehrsprachig auf. Mit fünfzehn Jahren schrieb sie ihr erstes Buch, den Jugendbestseller DerroteSeidenschal. In Liège, Belgien, studierte sie Kunstgeschichte und Psychologie. Sie hat über fünfzig Bücher für Kinder und Jugendliche geschrieben, als ihr mit Silbermuschel ein aufsehenerregendes Debüt in der Belletristik gelang. Weitere große und erfolgreiche Romane folgten (u.a. Die Tibeterin, Wüstenmond). Heute lebt sie mit ihrem Mann, dem japanischen Fotografen Kazuyuki Kitamura, in der Schweiz.
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2. Kapitel
Wie war es gewesen, als wir uns wiedersahen, Atan und ich? Kritisch und aus der Distanz betrachtet, war jene Zeit im Tashi-Pakhiel-Camp, in der ich mich verzweifelt in meine tägliche Arbeit stürzte, für mich keine verlorene Zeit. Meine Gedanken waren andauernd beschäftigt, für unerfüllte Träume blieb nicht der kleinste Raum. War Atan am Leben, würde er es wohl versuchen, mich wiederzusehen. Aber nichts war sicher. Mit Karma sprach ich wenig darüber. Ich erinnerte mich an ihre Worte damals: »Du wirst seinetwegen leiden, Tara«, und hielt lieber den Mund. Ärzte haben keine Zeit für Neurosen. Liebeskummer? Seelenleid? Im Bett 4 liegt eine Frau, der du das Bein amputieren musst! Doch nachts, als ich mir meines Körpers und der Einsamkeit bewusst wurde, fühlte ich mich heimgesucht von seiner Gegenwart, hörte ich wieder seine Stimme und die Worte, die er damals beim Abschied gesprochen hatte: »Willst du auf mich warten, Tara? Ich komme zu dir. Du musst nur Geduld haben, es kann ziemlich lange dauern.«
Und ich? Was hatte ich geantwortet? Im Grunde genommen war ich keineswegs romantisch veranlagt. Aber damals war mir, als ob eine höhere Macht mir einen Verstand gegeben hatte, der mir ein klares und tiefes Gewissen verlieh. Und so hörte ich mich sagen:
»Ich warte auf dich. Wenn es sein muss, mein Leben lang.«
Einfach gesagt, wenn ich’s bedenke. Die Worte waren mir leicht über die Lippen gekommen. Heute schien mir, als sagten sie im Grunde nicht viel aus; ich war durch Erfahrung abgebrüht geworden. Inzwischen lief mein Leben routiniert ab. Ich arbeitete mit Karma in der Krankenstation, und Kunsang ging zur Schule. Von rascher Auffassungsgabe, zog sie aus den Unterrichtsstunden größeren Nutzen als ihre Mitschüler. Beliebt war sie nicht; sie hielt sich abseits. Dass sie Halbchinesin war, hatte sich bald herumgesprochen. Irgendwie hatte sie gelernt, ihr Gesicht ausdruckslos zu halten; mich jedoch täuschte sie nicht. Sie hatte Schweres durchgemacht, den Tod ihrer Mutter nicht überwunden, und vielleicht auch nicht ihre gewaltsame Trennung von Sun Li. Ihre Haltung war kühl, aber der Klang ihrer Stimme entzückte. Ohne es zu wollen, übte sie auf alle, die mit ihr in Berührung kamen, einen seltsamen Zauber aus. Gelegentlich bemerkte ich, dass sie gedankenverloren vor sich hin summte. Ihr Gesicht war nicht glücklich dabei; sie schien sich nicht einmal bewusst zu sein, dass sie sang. Eines Tages, als sie am Tisch saß und malte, fiel es mir besonders auf. Dass sie gerne und gut malte, wusste ich von Atan. Ihre Farben waren von großer Leuchtkraft, obwohl die Darstellung kindlich blieb. Ihre Bilder zu deuten war nicht einfach, denn in dem, was Kinder malen, liegt das Wesentliche im Nichtdargestellten. Trotz der Vielfalt und Schönheit der Farben zeigte die Strichführung Unsicherheit: Die Figuren strebten von der Bildmitte fort, als ob sie sich auflösen und verschwinden wollten. Es ist für jeden Menschen schwer, mit der Unausweichlichkeit seiner Einsamkeit fertig zu werden, aber ein Kind leidet mehr darunter. Es kann nichts anderes erreichen, als dass es seine Einsamkeit erkennt, anerkennt und sich daraus entwickelt. Kunsangs Mutter war tot, die alte Ani Wangmo und Sun Li, der sie legal adoptiert hatte, waren aus ihrem Leben verschwunden. Und Atan? Gab es ihn wirklich? Er kam und er ging. Mit dem feinen Instinkt des Kindes spürte Kunsang meine eigene Unsicherheit.
»Wo ist Onkel Atan? Wann kommt er endlich?«, fragte sie mich eines Tages.
Ich wandte den Blick ab und antwortete heiter:
»Bald. Er kommt bald. Er hat doch versprochen, dir das Reiten beizubringen.«
Sie wurde nachdenklich.
»Wird er reiten können? Mit seinem schlimmen Bein?«
»Aber sicher«, erwiderte ich. »Du warst doch dabei, als ich die Kugel entfernte.«
Sie nickte, mit starrem Gesicht.
»Er hat schrecklich geblutet.«
Mein Herz zog sich schmerzvoll zusammen.
»Das wird ihm wenig ausmachen. Er wurde schon oft verletzt, weißt du.«
Sie blickte sinnend vor sich hin.
»Ich werde ihm sagen, dass ich auf ihn warte«, meinte sie.
»Sie hat viel Phantasie«, sagte ich später zu Karma.
»Ich weiß nicht«, antwortete Karma, »da ist etwas anderes.«
»Wie meinst du das?«
»Kinder stellen sich Menschen vor, als stünden sie wirklich vor ihnen.«
Kunsang malte stundenlang, selbstvergessen und wie aus einem inneren Zwang heraus. Dabei sang sie die ganze Zeit vor sich hin. Wie lässt sich eine Stimme beschreiben? Damals, in Karmas kleinem Steinhaus, hörte ich sie zum erstenmal. Kunsang sang völlig unbefangen, wie ein Vögel mit den Flügeln schlägt. Ihre Stimme war kindlich, und sie sang auch ohne Worte; es war eher eine Modulation, und ich erkannte in ihr verschiedene Ansätze von tibetischen Volksliedern, die ineinander übergingen. Sie trug diese Melodien, so schien mir, unbewusst mit sich herum; womöglich waren sie für sie unbedeutend. Doch während sie malte, meldeten sie sich in ihrem Gedächtnis zu Wort. Es waren verschiedene Erinnerungen und Gefühle, denen sie sich unbefangen überließ, wie Kinder das zu tun pflegen. Mir fiel auf, wie mühelos, rein und klar ihre Stimme auch die schwierigsten Melodien wiedergab. Wir leben in einer rationalen Welt, und sobald ein Wesen unverfälscht seine Gefühle preisgibt, geraten wir in Verlegenheit.
Ging sie ihren Tätigkeiten nach, vermied ich es, über ihre Schulter zu blicken; ich wäre mir zudringlich vorgekommen. Umso erstaunter war ich, als Kunsang mir ein paar Tage später mit einem kleinen Lächeln auf dem Gesicht das fertige Bild hinhielt.
»Da! Ich habe Onkel Atan gemalt.«
Eine plötzliche Unruhe überkam mich; mein Herz schlug schneller. Aufgewühlt, wie ich war, vermochte ich das Bild nur mit einem Seitenblick zu streifen. Kunsang hatte Atan als riesenhafte, nahezu animalische Erscheinung gemalt, in einem groben Fellumhang. Die Hosen steckten in verschnürten Gamaschen. Das bronzefarbene Gesicht war von rabenschwarzen Flechten umrahmt, aus den großen Augen blickten ebenfalls schwarze Pupillen. Von der Darstellung ging etwas Wildes, Gebieterisches aus. Wenn man den Bildern ein eigenes Wesen zuspricht, ist das nicht anders als mit Worten: Sie werden lebendig, entfalten ihre Kraft. Ich staunte, dass Kunsang, so jung sie war, die Weite der Welt in ihrem Bild schon miteinbezogen hatte. Das kleine Mädchen hatte in Lhasa ein nüchternes, phantasieloses Leben gekannt. Die Chinesen dachten praktisch; die Regierung lockte die Siedler mit Geld und Vorteilen nach Tibet. Viele Neuankömmlinge sahen sich hier plötzlich in einen Lebensstandard versetzt, der unvergleichlich viel höher lag als der, den sie im Mutterland gekannt hatten. Alle wollten schnell Geld verdienen, für Gefühle hatten sie wenig übrig, und nur manche waren ehrlich davon überzeugt, auf ihre Art an der Vervollkommnung der Welt beteiligt zu sein. Einheimische und Chinesen begegneten sich gleichgültig, beinahe freundlich. Die älteren Tibeter lebten in großen Sehnsüchten; eine ungeheure Zäsur hatte ihr Leben gespalten. Die junge Generation war geschmeidiger, widersprüchlicher in ihrer ganzen Art. Kritischer? Ich vermochte mir kein gültiges Urteil zu bilden.
»Er wird bald da sein«, sagte Kunsang im Tonfall einer großen Befriedigung.
Im Tashi-Pakhiel-Camp ging ich im Kreis und kam trotzdem vorwärts. Alles, was hier geschah, war provisorisch, anregend, erregend. Hier konnte alles mögliche passieren. Ich hatte die Siedlung schon immer als überraschend gepflegt empfunden, eine Oase der Ruhe in einem Land, das Touristen ein willkommenes exotisches Chaos bot. Als ob die Flüchtlinge sich hier einen Ort der Besinnung einrichteten, eine Art Filmkulisse. Der massive, gelbgetünchte Klosterbau bildete den Mittelpunkt des Dorfes; Stoffbahnen mit Segenssprüchen flatterten vor dem Eingangsportal. Auch dies war nicht »stilecht«, denn Klöster wurden ursprünglich an abgelegenen Orten errichtet: Die Mönche (oder die Nonnen) sollten nicht abgelenkt werden. Aber hier war das Kloster ein Wahr- und Erkennungszeichen, ein stetig schlagendes Herz. Regelmäßig stieg der Rhythmus der Trommeln aus dem Inneren der Mauern auf, kreiste über die Siedlung, ein gewaltiges Vibrieren. Die Menschen, die Angst und Schmerz erlebt hatten und nachts schreckerfüllt aufwachten, hörten den Rhythmus wie der Fötus im Mutterleib das Pulsieren des Blutes. Und schliefen beruhigt wieder ein.
Karmas kleines Reihenhaus, aus groben Steinen erbaut, befand sich unweit der Krankenstation. Hinter einer Hecke lag eine kleine Rasenfläche. Tausendschön imd kleine bunte Nelken, die wenig Pflege bedurften, blühten in Töpfen. Im Wohnzimmer befand sich, wie in allen tibetischen Häusern, eine Altarwand mit dem vergilbten Porträt des Dalai Lama, sieben Silberschalen und zwei schöne alte Butterlampen. Täglich füllte Karma frische Blumen in die Vasen. Die Möbel bestanden aus einer Sitzbank mit Kissenrollen und dunkelblauen, verstaubten Teppichen. Nachts schlief Kunsang dort, weil im winzigen Schlafzimmer kein Platz mehr war. Karma und ich teilten uns ein enges Sofabett. Zu der Wohnung gehörte eine Kochnische, die ständig in größter Unordnung war, und ein dürftig eingerichteter Waschraum. Der Duschkopf war in die Wand montiert, und der Lehmboden mit einem Abflussrohr versehen.
Hier lebte ich nun beinahe zwei Jahre, arbeitete in der Krankenstation und nahm Unterricht bei Karma. Ihre Unterweisung zog mich in ein ganzes Netz von Verwandlungen und Geheimnissen; gleichwohl empfand ich selten ein wirkliches Gefühl der Fremdartigkeit. Karmas Wissen offenbarte mir Dinge, die schon in mir waren, vielleicht seit Jahrhunderten; es galt...