E-Book, Deutsch, 128 Seiten
Ceric Gärten in Zeiten des Krieges
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-95438-179-1
Verlag: Liebeskind
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Reiseberichte aus Europa
E-Book, Deutsch, 128 Seiten
ISBN: 978-3-95438-179-1
Verlag: Liebeskind
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Im Frühjahr 1992, als die serbische Armee mit der Blockade Sarajevos beginnt, gelingt dem damaligen Literaturstudenten Teodor Ceri? die Flucht aus seiner Heimatstadt. Er reist ohne festes Ziel quer durch Europa, seinen Lebensunterhalt verdient er sich mit Gelegenheitsarbeiten. So findet er Anstellung als Hilfsgärtner auf einem Anwesen im englischen Surrey, wo einst ein Schmuckeremit lebte, der sich zu bestimmten Tageszeiten zeigen musste, um die Gäste des Parks mit seinem Anblick zu erfreuen. In der Nähe von Paris besucht er den Garten Samuel Becketts, der auch von Godot hätte stammen können: einfach, streng, traurig, aufopferungsvoll verteidigt gegen jeden einzelnen Maulwurf. In Rom findet er einen einsamen Park namens Monte Caprino, wo die Römer einst Verräter in den Tod stürzten und der heute nur nachts seinen Zauber entfaltet ... Auf seinen Reisen durch Europa erfährt Teodor Ceri?, dass Gärten die Menschen Demut und Treue lehren. Sie verlangen ständige Aufmerksamkeit von ihrem Besitzer, ihre Schönheit jedoch ist für alle und jeden bestimmt.
Der Herausgeber Marco Martella, 1962 in Rom geboren, ist Schriftsteller und Gartenhistoriker. Seit 2010 leitet er die Revue »Jardins«, die sich dem Verhältnis des Menschen zur Natur widmet. Er ist zudem Mitglied des wissenschaftlichen Rates am Europäischen Institut für Gärten und Landschaftsräume. Als Autor hat er Werke zur Kunst und Geschichte des Gartenbaus veröffentlicht, die in mehrere Sprachen übersetzt und mit vielen Preisen ausgezeichnet worden sind. Marco Martella lebt in der Nähe von Paris.
Weitere Infos & Material
1
Eden und Gethsemane
Alles begann vor etwa zwanzig Jahren, 1994, als ich schon einige Zeit den europäischen Kontinent durchreiste. Damals wohnte ich in London und arbeitete im Hafen als Lagerarbeiter. Eines Abends sah ich in einem Programmkino einen seltsamen Film mit dem Titel The Garden, der drei oder vier Jahre zuvor in die Kinos gekommen war. Über den Filmemacher, Derek Jarman, wusste ich nichts, abgesehen davon, dass er gerade an Aids gestorben war. Die Krankheit, die damals noch in peinliches Schweigen gehüllt wurde, war Thema des Spielfilms, den ein Filmkritiker als »filmisches Testament« bezeichnet hatte. Der fragliche Garten war eine Art idyllische Welt, ein ideales Eden, ein goldenes Zeitalter der Erotik und Liebe, dem die beiden männlichen Hauptfiguren durch die Krankheit entrissen worden waren. Von Zeit zu Zeit tauchten im Film Bilder eines realen Gartens auf – ein mitten in einer verlassenen Heidelandschaft angelegtes Karree, das vor allem bei Nacht gefilmt wurde –, erschreckende, fast halluzinierte, elektrische Bilder. »Ich glaube, das ist Jarmans Garten«, hatte mir die junge Frau, die mich begleitete, ins Ohr geflüstert. Am nächsten Tag ging ich in die Bibliothek des Stadtteils, in dem ich wohnte, um Filmzeitschriften durchzusehen, und las ein paar Artikel, die sich mit den letzten Lebensjahren Jarmans beschäftigten. Ich erfuhr, dass sich sein Garten, Prospect Cottage, in Kent befand, etwa hundert Kilometer von London entfernt, in einem Ort namens Dungeness. Beim Betrachten der Fotos von dem Flecken überkam mich der Wunsch, ihn mit eigenen Augen zu sehen. Als spürte ich, dass mich von dort etwas rief und ich eine Antwort bekommen würde, eine Antwort auf Fragen, die ich noch nicht formulieren konnte. So fasste ich eines Frühlingsmorgens einen Entschluss. Ich begab mich zur Victoria Station und nahm einen Zug nach Kent. Was würde ich dort vorfinden? Was war aus dem Garten geworden, jetzt, wo sein Gärtner gestorben war? Ein schlichter Erinnerungsort? Ein Grabmal? O nein, Prospect Cottage war alles andere als das. Der Garten quoll über von Leben und der Tod war allgegenwärtig. * In der letzten Stadt vor Dungeness hatte ich ein Fahrrad geliehen. Während ich auf der leeren Landstraße dahinradelte, erkannte ich nach ein oder zwei Stunden, kurz nachdem ich an einem gewaltigen Kernkraftwerk vorbeigekommen war, das sich inmitten der Heidelandschaft erhob und das ich meiner Erinnerung nach im Film nicht gesehen hatte, von Weitem den Garten. Ein Fleck aus kräftig leuchtenden Farben, eine Blütenfülle, die selbst unter dem grauen Himmel erstrahlte und die sich um ein teergeschwärztes Holzhaus zog. Ich ließ mein Fahrrad am Straßenrand zurück, hoffte, dass niemand im Haus wäre, und trat näher. Keine Menschenseele zu sehen. Das Tosen des Windes mischte sich mit dem des Meeres, das unsichtbar jenseits der Dünen lag. Fasziniert ging ich um das Anwesen herum, ohne zu wagen, in den Garten einzudringen, den keine Mauer, keine Hecke vor ungebetenen Gästen schützte. Ich kannte mich mit Gärten nicht sonderlich gut aus, aber spürte vage, dass in diesem Fehlen einer Umzäunung etwas Regelwidriges lag, eine Abweichung. Wer diese wenigen Dutzend Quadratmeter Erde bepflanzt hatte, hatte nicht einmal den Versuch unternommen, die unschöne Aussicht auf die Umgebung zu verbergen. Etwa den Blick auf das Kernkraftwerk, dessen graue Masse immer noch zu sehen war, oder auf die trübselige Weite der öden Heide von Dungeness, die nur von ein paar ärmlichen Fischerbungalows durchsetzt war. Und welcher Gärtner hätte nicht damit begonnen, eine Mauer zu errichten, um den Garten vor dem Wind zu schützen? Soweit ich verstanden hatte, war Derek Jarman als Künstler wie als Mensch für seinen ikonoklastischen Charakter bekannt. Genau wie er gern cineastische Regeln umstürzte, muss er Freude daran gehabt haben, gegen die Usancen der Gartenarbeit zu verstoßen … Aber nein, in jener totalen Öffnung des Gartens auf die umgebende Landschaft hin lag etwas Tieferes, das mich berührte, ohne dass ich hätte sagen können, warum. Mir schien, dass dieser allen Winden ausgesetzte Ort ein Geheimnis verbarg, wie ein Gedicht, das wir nicht ganz verstehen, bei dessen Lektüre wir aber spüren, dass es gerade unser Leben verändert. Das Fehlen einer Umzäunung war nicht das einzig Sonderbare dieses Ortes. Prospect Cottage ähnelte keinem anderen Garten, den ich bis dahin gesehen hatte. Aufgerichtete Feuersteine schufen geometrische Figuren, Vierecke und vor allem Kreise, die seltsame Steinbeete bildeten. Die Fläche war mit unzähligen Pfählen aus Treibholz übersät, sicher am nahe gelegenen Strand gesammelt, die mit Kieselsteinen, verrosteten Eisenstücken oder Muscheln verziert worden waren. In mein Notizbuch schrieb ich: »Wie die Kreuze auf einem Friedhof …« Die Blumen aber waren überall, standen in üppigen Beeten oder einzeln, inmitten der Kiesel. Sie umringten das Haus, wie um es zu schützen, schwach, bereit, sich unter dem Wind zu biegen, aber entschlossen. Und sie linderten das Gefühl der Angst, das die Kreuze und das ganze Altmetall hervorriefen, wandelten es in Freude. Ich hatte den Eindruck, dass die Feuersteine und das Treibholz das Skelett des Gartens bildeten, und die Blumen waren sein Fleisch. Ein gemartertes, aber widerstandsfähiges Fleisch, das in der Jugend des Frühlings voller Leben war. * Hier nun die Geschichte von Prospect Cottage. Ich habe sie mithilfe der in Filmzeitschriften gesammelten Artikel und später durch die Lektüre der Passagen rekonstruiert, die Derek Jarman in seinen letzten Werken * seinem Garten widmete, aber auch durch ständiges Mich-Zurückversetzen an diesen so unwahrscheinlichen Ort. Tatsächlich habe ich nach meinem Besuch in Dungeness in den Jahren meines Umherziehens durch Europa häufig an diesen Mann gedacht, den ich nie kennengelernt habe und der mir schließlich vertraut wurde. So vertraut wie ein alter Freund oder ein älterer Bruder, der mir immer viel beibringen könnte, denn was ich erlebte, hatte er schon lange vor mir erlebt. Jarman kaufte das Cottage, das er bei einer Autoreise durch Südengland zufällig entdeckt hatte, 1986, als er erfuhr, dass er HIV-positiv ist. Das karge Heideland eignete sich kaum für das Anlegen eines Gartens. Der Boden bestand fast ausschließlich aus Steinen und Schutt. Nur ein paar Gräser, die eigensinniger waren als alle anderen und denen sehr wenig Erde genügte, überlebten in dieser unwirtlichen Umgebung. Und dann war da die Krankheit, Jarmans Bewusstsein, dass er nur noch eine Schonfrist hatte. Man muss kein Fachmann sein, um zu wissen, dass ein Garten Zeit braucht, dass Bäume Dutzende von Jahren brauchen, um zu wachsen. Aber Jarman wusste auch, dass das Gärtnern ein Bekenntnis zur Zukunft ist, blind wie jedes Glaubensbekenntnis. Warum es nicht versuchen? Dann eben keine Bäume. Und es gab eine ganze Palette von Pflanzen, die in der Lage waren, die Rauheit des Ortes zu überleben. Zum Beispiel diejenigen, die es an Ort und Stelle bereits gab, wie der Meerkohl, der sich im Juni mit Hunderten weißer, nach Honig duftender Blüten überzog. Im Wissen, dass ihm nur wenig Zeit blieb, begann er also zu gärtnern, mit der Gartenschere und der Pflanzschaufel seiner Jugend, die er zufällig in einer Kiste in seiner Londoner Wohnung gefunden hatte. Wenn er mit den Händen wieder in der Erde wühlte, würde er vielleicht die Glückseligkeit seiner ersten Gärten wiederfinden, deren Erinnerung ihn nie verlassen hatte. Als Gärtner würde er auch die Zeit hinterfragen, hartnäckiger noch, als er es als Künstler tat. Er würde das Geheimnis jener äußersten Grenze des Lebens erkunden, die man gewöhnlich Tod nennt und die nur eine Facette jenes anderen, noch größeren Geheimnisses ist: die der Abfolge der Jahreszeiten, die mit unabwendbarer Regelmäßigkeit voraussieht, dass der Frühling auf den Winter folgt, dass die Pflanzen erblühen, um danach zu vergehen. Und dass danach alles wieder von vorn beginnt. Er wird sich gesagt haben, dass vielleicht Antworten kommen würden. * Soweit ich verstanden habe, entstand der Garten, als Jarman mithilfe von Feuersteinen und Kieseln ein erstes Steinbeet vor der Eingangstür des Cottage zusammenstellte. »Hinter dem Haus pflanzte ich noch eine Hundsrose. Dann fand ich ein eigenartig aussehendes Stück Treibholz. Ich benutzte es – ebenso wie eine Kette aus durchlöcherten Steinen, die ich an der Wand befestigte – als Stütze für die Rose. Der Garten entstand.« Im Garten wurde Dünger ausgebracht. Die Pflanzen begannen zu wachsen, einschließlich der Wildlinge, die Jarman ebenso liebte wie die raffinierten Gartenzüchtungen, von denen englische Gärtnereien voll sind, wenn nicht noch mehr. Nach einigen Monaten füllte sich der kleine Garten mit einer erstaunlichen Vielfalt von...