E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Censebrunn-Benz Stiefkinder der Republik
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-451-82721-1
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Das Heimsystem der DDR und die Folgen
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-451-82721-1
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Einfühlsame Porträts von ehemaligen DDR-Heimkindern Von den Eltern im Stich gelassen oder vernachlässigt. An den Rand gedrängt, weil sie politisch oder sozial nicht angepasst waren – knapp 500.000 Kinder und Jugendliche haben das Heimsystem der DDR durchlaufen. Ihre Erfahrungen sind oftmals von Gewalt und Unterdrückung geprägt. Angelika Censebrunn-Benz befasst sich seit Jahren mit der Geschichte der Jugendhilfe in der DDR. Sie hat zahlreiche ehemalige Heimkinder getroffen und interviewt. In ihrem Buch gibt sie einen Überblick über die Geschichte der Zwangserziehung in der DDR und zeichnet in einfühlsamen Porträts Lebenswege ehemaliger Heimkinder nach.
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Einleitung
Als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Büro von Wolfgang Thierse erreicht mich der Anruf einer aufgebrachten Bürgerin. Wütend keift sie ins Telefon, beschimpft die Politiker, die Wessis, die keine Ahnung haben, die Ossis, die alles vertuschen, die Mitmenschen, die sie verurteilen, und alle, die sich an den Heimkindern bereichern. Sie hat soeben von einer Studie gehört, die sich mit Heimkindern in der DDR beschäftigt und ist erbost. Das Geld, so schreit sie mir ins Ohr, solle doch den Heimkindern gegeben werden, für die interessiere sich nämlich niemand. Da ich bereits ein Jahr zuvor auf das Thema aufmerksam wurde und in der Gedenkstätte Geschlossener Jugendwerkhof Torgau auf einem Heimkindertreffen einige Betroffene kennengelernt habe, ist mir das Thema Heimkinder in der DDR nicht unbekannt. Der Anruf trifft mich dennoch überraschend, und die Aggressivität, mit der Heike G. mich angeht, erwischt mich kalt. Nach über einer Stunde verabschiedet sich Heike G. freundlich von mir – ich konnte sie davon überzeugen, dass weder ich noch Wolfgang Thierse oder die Auftraggeber der Studie ihre Feinde sind oder sich an ihrem Leid bereichern. Binnen eines Jahres ruft sie noch zwei weitere Male an, immer in der gleichen erbosten Gemütsverfassung, doch auch zunehmend freundlich mir gegenüber, das letzte Telefonat beendete sie mit dem Satz: »Vielleicht rufe ich Sie ja auch mal an, wenn etwas Positives passiert.« Für mich sind diese Telefonate gleichermaßen spannend wie anrührend, zeigen sie doch, dass die Betroffenen voll des Misstrauens gegenüber anderen sind und oft sehr aggressiv ihr Anliegen vertreten. Aber auch, wie schnell die wütende Fassade fällt und was für freundliche Menschen dahinterstecken, die nur eines brauchen: Respekt und das Gefühl, wirklich ernst genommen zu werden. Etwas, das wir in unserer Kindheit erfahren, das diesen Menschen aber systematisch verwehrt wurde. Anderthalb Jahre später, während meiner Arbeit für die Thüringer Bundestagsabgeordnete und Ostbeauftragte der Bundesregierung Iris Gleicke, erhalte ich mehrfach Anrufe der gleichen Art. Heute arbeite ich in einem Projekt zur Aufarbeitung der Heimerziehung in den Spezialheimen der DDR und führe lebensgeschichtliche Interviews mit ehemaligen Heimkindern. Es sind ganz unterschiedliche Menschen und Schicksale. Doch eines ist allen gemein: Sie tragen die Narben ihrer Kindheit und sind bis heute geprägt durch ihre Erfahrungen, viele sind in therapeutischer Behandlung, fast alle tun sich schwer mit zwischenmenschlichen Beziehungen, haben Schlafstörungen, sind seelisch und körperlich gezeichnet. Ich treffe Menschen, die voller Misstrauen sind, ängstliche Menschen, die sich nach Respekt und Vertrauen sehnen, aggressive Menschen, die mit der ganzen Welt hadern. Vor allem aber kämpfen sie alle für ein normales Leben. Ich höre Geschichten von Grausamkeiten und Unterdrückung, aber auch von Widerstand und Selbstbehauptung. Einige berichten von ihrem langen, schweren Weg zu einem selbstbestimmten Leben, davon, wie sie erst zu lieben und zu vertrauen lernen mussten. Es sind Geschichten der Einsamkeit, wie die von Tim1, der als Zehnjähriger im Kinderheim von seiner Erzieherin so schwer sexuell misshandelt wurde, dass irreparable Schäden zurückblieben. Als ich ihn treffe, ist er zunächst zurückhaltend, nach zwei Stunden Interview aber erzählt er mir, wie schlimm es für ihn ist, dass er keine Liebesbeziehung haben kann, obwohl seine Sehnsucht danach so groß ist. Und es sind Geschichten voller Angst, wie die von Jens*, der seiner Frau bis heute nicht alles über die sexuellen und seelischen Misshandlungen durch andere Heimkinder und seine Erzieher erzählt hat – aus Sorge, sie könnte ihn dann anders sehen oder gar verlassen. Es sind auch Geschichten, die zeigen, wie schwer die Spätfolgen der Heimerziehung wiegen. Lena* erzählt mir unter Tränen, dass sie es besser machen wollte mit ihren Kindern, aber einfach nicht konnte. Es quält sie, dass sie nicht immer die liebevolle Mutter war, die sie so gerne gewesen wäre – und die sie sich für sich selbst gewünscht hätte. Oft merken die Betroffenen gar nicht, wie sehr ihre Vergangenheit sie beeinflusst. So erzählt mir Regina*, sie sei sehr erschrocken, als ihre Söhne – beide beim Militär – auf ihre Frage, wie sie mit dem militärischen Drill und der Kommandosprache klarkämen, sagten: »Ach, das kennen wir doch von dir, Mutti«. Markus* kann weder den Fahrstuhl benutzen noch länger als ein paar Stationen in einem Bus mitfahren. Schweißausbrüche und Panikattacken überfallen ihn sonst. Seine Wohnungstür muss abgeschlossen sein, im Flur Licht brennen und er mit dem Rücken zur Wand im Bett liegen, sonst ist an Schlaf nicht zu denken. Eine Folge der nächtlichen Prügel im Kinderheim und während seiner Zeit im Arrest des Jugendwerkhofes. Die Interviews wühlen bei den Betroffenen alte Erinnerungen auf, manche melden sich Tage oder Wochen später und berichten mir noch Dinge, die ihnen eingefallen sind, erzählen aber auch, wie sehr die Erinnerung sie wieder eingeholt hat, wie schwer die Nächte waren oder dass sie krank geworden sind. Viele Interviews werden mehrfach verschoben, besonders dann, wenn Feiertage wie Weihnachten oder Ostern anstehen. Claudia* und Markus* erzählen mir, dass sie nach den jährlichen Heimkindertreffen in Torgau meist eine oder zwei Wochen krank seien und alle Kraft aus ihnen weiche. Volkmar steht nach einem Interview in Leipzig sehr langsam auf, seufzt und sagt: »Ja, Sie gehen jetzt nach Hause, ich schleppe das jetzt wieder eine Weile mit mir herum.« All diese Menschen zu treffen hat mich tief beeindruckt. Ihnen eine Stimme zu geben und auf ihr Leid aufmerksam zu machen, ist mir ein großes Anliegen. Dass Kindern und Jugendlichen Gewalt und Demütigung widerfahren sind, ist dabei kein alleiniges Problem der DDR. Auch viele Kinder in westdeutschen Heimen, von denen bis Mitte der 1970er Jahre über sechzig Prozent von der katholischen Caritas und der evangelischen Diakonie geführt wurden, haben Schlimmes erlebt. Prügelstrafen, entwürdigende Behandlung, eine auf das Funktionieren der Kinder und Jugendlichen ausgerichtete Erziehung und die Verweigerung von Nähe, Verständnis und Schutz sind in unzähligen Fällen dokumentiert. In den diakoniegeführten Heimen herrschte extreme Gewalt unter den Zöglingen, die durch tribale Strukturen und die Hausordnung, die einer »Entsolidarisierung Vorschub leisteten«2, bewusst gefördert wurde. Ein hierarchisch angelegtes System mit Rechten und Privilegien für einige der Zöglinge sorgte neben Kollektivstrafen bei Vergehen Einzelner, die wiederum eine Bestrafung des Verursachers durch die Gruppe nach sich zogen, für ein raues Klima. Auch seitens der Erzieher waren Gewalt und Demütigungen gängige Mittel. Durch die Arbeit der beiden Runden Tische »Heimerziehung« und »Sexueller Missbrauch« wurde 2009/10 das Ausmaß des Leids in katholischen Heimen deutlich. Besonders in den 1950er und 1960er Jahren bestimmten neben Unterwerfung, Misshandlung und Demütigung der Kinder auch sexuelle Übergriffe den Heimalltag von Minderjährigen. Die von der Deutschen Bischofskonferenz eingerichtete Telefonhotline für Betroffene zeigt, dass rund siebzig Prozent der Fünf- bis Siebzehnjährigen schwere Gewalterfahrungen in ihrer Heimzeit machen mussten, fünfundzwanzig Prozent berichten von sexuellen Übergriffen.3 Es ist seit langem bekannt, dass geschlossene Einrichtungen anfällig sind für Machtmissbrauch seitens der Erzieher und ebenso für sexuelle Übergriffe sowohl durch das Personal als auch durch Mitinsassen. In Einrichtungen entsteht auch immer eine eigene Dynamik, die Gewalt- und Machtmissbrauch fördert. Ein Blick auf die Haasenburg-Heime macht dies in erschreckender Weise deutlich und zeigt auch, wie wenig überwunden solche Maßnahmen sind. Die Haasenburg GmbH, gegründet von Christian Dietz, einem ehemaligen Mitarbeiter in der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Asklepios Fachklinikums Lübben, betrieb von 2002 bis Dezember 2013 drei Heime und zwei Außenstellen für die geschlossene Unterbringung von Kindern im Alter von zwölf bis sechzehn Jahren. Die Kinder stammten zumeist aus zerrütteten Familien, waren Gewalt, Missbrauch und Vernachlässigung gewohnt und beim Jugendamt als »schwere Fälle« bekannt. In den Haasenburg-Heimen in Jessern am Schwielochsee in Ostbrandenburg herrschte ein Drill, der erschreckende Parallelen zum Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau aufwies. Auch hier war das »Brechen und Aufbauen« Ziel. Bei der Ankunft mussten die Jugendlichen durch ein Spalier aus Erziehern laufen, sich vollständig entkleiden, es erfolgten Leibesvisitationen und die Einkleidung in heimeigene Jogginganzüge und Holzclogs. Die ersten Wochen verbrachten die Jugendlichen in ihren Zimmern, die außer einer Matratze und einem Tisch leer waren. Sie mussten dort die Hausregeln abschreiben, die unter anderem besagten: »6. Ich halte Distanz und habe keinen Körperkontakt! 7. Wenn die Jugendlichen in der Reihe stehen, ist der Mund geschlossen und der Blick nach vorne gerichtet. Es wird ca. eine Armlänge Abstand zum Vordermann gelassen! 8. Die Jugendlichen laufen erst los, wenn die Erzieher es sagen und nur so weit, wie es gesagt wird! 9. Die Jugendlichen laufen immer rechts neben dem Erzieher! 10. Während der Dienstzeit ist der Mund geschlossen.«4 Bei »Fehlverhalten«, dazu zählten lautes Lachen oder Widerworte, erfolgte unter anderem Fixierung durch drei bis...