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E-Book, Deutsch, 188 Seiten
Cede / Janik Auslaufmodell Neutralität?
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7107-6835-4
Verlag: Michael Wagner Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Geschichte und Gegenwart eines österreichischen Mythos
E-Book, Deutsch, 188 Seiten
ISBN: 978-3-7107-6835-4
Verlag: Michael Wagner Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Franz Cede, 1945 geboren, ist Diplomat und Rechtswissenschaftler. Er promovierte an der Universität Innsbruck, wo er anschließend als Universitätsassistent am Institut für Politikwissenschaft und Öffentliches Recht tätig war. Nachdem er 1972 in den Staatsdienst des österreichischen Außenministeriums eintrat, war er im Völkerrechtsbüro, in Paris, Rabat/Marokko, Kinshasa/Kongo sowie in Los Angeles tätig. Von 1999 bis 2003 war er österreichischer Botschafter in der Russischen Föderation und von 2003 bis 2007 österreichischer Botschafter im Königreich Belgien und bei der NATO. Seit 2007 betätigt sich Franz Cede als Senior Advisor am Austria Institut für Europa- und Sicherheitspolitik (AIES). Ralph Janik, 1985 geboren, promovierte in Rechtswissenschaften/internationalem Recht und ist Assistenzprofessor an der Sigmund Freud PrivatUniversität, Lehrbeauftragter an der Universität Wien, der Andrassy Universität in Budapest und der Universität der Bundeswehr in München. Er betätigt sich als Mitglied der European Society of International Law, der Ars Iuris Vienna, dem Advisory Board des International Institute for Peace, dem Strategie- und Sicherheitspolitischen Beirats im Bundesministerium für Landesverteidigung sowie als Affiliated Researcher am Österreichischen Institut für Internationale Politik. Er bloggt, spricht in seinem Podcast über aktuelle politische Themen und tritt als Science Slammer in Erscheinung.
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Die Neutralität in der Praxis
Lieber Leser, liebe Leserin!
Ich möchte Dir erzählen, wie ich die politische Entwicklung der Zweiten Republik und damit die Neutralität persönlich erlebt habe. Vielleicht möchtest Du wissen, wie Österreich nach der Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten und der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs 1945 wieder als selbständiger Staat erstanden ist. Vor allem könnte es Dich interessieren, wie es gelungen ist, den Staatsvertrag abzuschließen, der nach der zehnjährigen Besatzungszeit den Abzug der alliierten Truppen und die Wiederherstellung Österreichs als freier, ungeteilter und voll souveräner Staat ermöglichte. Diese bohrenden Fragen gelten auch dem Zusammenhang zwischen dem Abschluss des Staatsvertrags und der österreichischen Neutralitätserklärung, die am 26. Oktober 1955 in einem Verfassungsgesetz beschlossen wurde.
Diesem Bedarf möchte ich gerne entsprechen und ich sage Dir, warum. Wie zu Beginn des Vorworts erwähnt, begehen wir 2025 das besondere Jubiläum der „Fünferjahre“ unserer Republik. Sie bieten mir den willkommenen Anlass, auf mein Leben zurückzublicken und mit Dir persönliche Erinnerungen an die Schlüsseljahre der österreichischen Nachkriegsgeschichte zu teilen. Ich möchte Dir schildern, wie ich die Geschichte der „Zweiten Republik“ am eigenen Leib erlebt habe. Ich stütze mich auf meine eigenen Wahrnehmungen, zunächst als Kind und Volksschüler (1945–1955), dann auf meine Erinnerungen als Gymnasiast und Student in Innsbruck (1955–1968). Es folgte die Zeit als Universitätsassistent an der Universität Innsbruck (1968–1970) sowie anschließend mein Auslandsstudium an der Johns Hopkins University in Bologna und Washington, D.C. (1971–72). 1972 begann meine Laufbahn im Außenministerium in Wien, wo ich im Völkerrechtsbüro (unter Kollegen gerne als „VRB“ abgekürzt) jahrzehntelang an zentraler Stelle die Entwicklung der österreichischen Außen- und Neutralitätspolitik von innen wahrnehmen konnte. Ich schreibe gewissermaßen eine persönliche „Homestory“ der Neutralität, die über lapidare Aufzählungen von Jahreszahlen, großen Namen, Verträgen und Zitaten hinausgehen und Dich zum Nachdenken anregen soll. Es wäre schön, wenn es mir gelingt, ein wenig zu Deinem besseren Verständnis der Neutralität und mit ihr der österreichischen Nachkriegszeit beizutragen.
Doch bevor wir anfangen, habe ich eine kleine Bitte an Dich. Wenn Du diesen Brief liest, bitte schalte Dein Handy und Deinen Computer aus. Lass meine Erzählung einfach ungestört auf Dich wirken.
Erinnerungen an die Besatzungszeit
Ich beginne mit einigen Streiflichtern auf meine Kindheit und frühe Jugend als Volks- und Mittelschüler. Ich verbinde meine ersten Lebenserinnerungen mit meinem Wissen von heute, das ich durch eigene Wahrnehmungen, durch die Schilderungen anderer Menschen und später durch meine Lektüre und beruflichen Erfahrungen erworben habe.
Ich wurde am 24. Feber 1945 als fünftes Kind einer Gärtnerfamilie geboren. Mein Vater war der Direktor des Innsbrucker Hofgartens. Wegen der alliierten Bombenangriffe ab 1943 wurden die Gebärstationen in Innsbruck geschlossen. Ich bin daher in Feldkirch auf die Welt gekommen. Das Kriegsende wurde damals in Tirol, wie wohl im übrigen Österreich, je nach Geisteshaltung von den meisten als „Zusammenbruch“ oder als Kapitulation und vorerst nur von wenigen als „Befreiung“ bezeichnet. Plötzlich bekannten viele, dass sie schon immer bei der Widerstandsbewegung waren. Herr Karl – der Prototyp des österreichischen Opportunisten, dargestellt von Helmut Qualtinger, 1961 erstmals im damals noch neuen öffentlich-rechtlichen Fernsehen gezeigt – lässt grüßen. Der Ambivalenz politischer Begriffe wirst Du in meinem Kapitel noch öfters begegnen. In Tirol ging die Befreiung durch die Alliierten relativ unblutig vonstatten. Nach kurzer US-amerikanischer Besetzung installierte sich das französische Militär als Besatzungsmacht in Tirol und Vorarlberg. In der Biedermeiervilla im Innsbrucker Hofgarten, wo wir aufwuchsen, quartierte sich ein französischer Besatzungso?zier im schönsten Zimmer ein, wo er zum Entsetzen meiner Mutter häufig parfümierte Damen empfing. Ansonsten litten wir wenig unter der Anwesenheit der französischen Streitkräfte. Der französische General Marie Émile Antoine Béthouart, der als Oberkommandierender der französischen Besatzungstruppen in Innsbruck stationiert war und später zum französischen Hochkommissar für Österreich bestellt wurde, trug durch seine weitsichtige Politik wesentlich zur Versöhnung zwischen Frankreich und Österreich bei. Für ihn war das befreite Österreich ein befreundetes Land (), dessen Wiederherstellung als unabhängiger Staat er nachdrücklich unterstützte.
Viel beunruhigender waren die Nachrichten, die uns aus der sowjetischen Besatzungszone in Niederösterreich erreichten. Meine aus Neunkirchen stammenden Großeltern väterlicherseits waren aus Angst vor den Russen – die übrigen Völker der Sowjetunion wurden damals gerne unterschlagen – nach dem Krieg sogar kurzzeitig zu uns nach Innsbruck geflohen. Ich selbst erinnere mich sehr deutlich an mehrere Reisen, die wir Kinder mit unseren Eltern nach Wien und zu den Großeltern nach Niederösterreich unternahmen. So erlebte ich die Grenze zwischen der amerikanischen und der sowjetischen Besatzungszone an der Enns ebenso wie den Übergang zwischen der britischen und der sowjetischen auf dem Semmering. Die bedrohlichen Maschinengewehrposten der Rotarmisten an den Zonengrenzen gehören zu meinen bleibenden Erinnerungen. Das Wien der Besatzungszeit erlebte ich als graue und düstere Stadt – genauso, wie sie im genialen Schwarz-Weiß-Film „Der dritte Mann“ aus dem Jahr 1949 beschrieben wurde. Der Ostblock begann in meiner frühen Wahrnehmung also bereits beim Übertritt in die „russische“ Besatzungszone und nicht erst am Eisernen Vorhang an der östlichen Staatsgrenze.
Was Unfreiheit und Diktatur unter sowjetischer Herrschaft bedeutet haben, möchte ich Dir kurz mit zwei Episoden illustrieren. Die erste Geschichte wurde mir schon früh im Familienkreis erzählt. Von der zweiten habe ich erst als Erwachsener erfahren.
Ich beginne mit der Geschichte Nummer eins. Wir schreiben das Jahr 1945. Da kehrt der Sohn aus der Nachbarsfamilie meiner Frau, der den Krieg als Wehrmachtssoldat überlebt hat, heim und ins Zivilleben zurück. Seine Eltern schicken den jun-gen Mann zum Studium nach Wien, wo er in die Fänge der sowjetischen Geheimdienste gerät. Diese kennen seine früheren Verwendungen als Soldat an der Ostfront und in Jugoslawien. Sie sperren den Studenten aus Tirol in ein Kellerloch und fol-tern ihn. Sie machen ihn mürbe und erpressen ihn mit der Drohung, dass er in die Sowjetunion (kurz UdSSR) verbracht würde, wenn er sich nicht bereit erklärt, eine namentlich genannte, von den Sowjets gesuchte Person von Tirol nach Wien zu bringen. Unser Freund, misshandelt und eingeschüchtert, wie er war, verspricht seinen Peinigern vorgeblich alles, was sie von ihm wünschen. Er fährt sogleich mit dem Zug nach Innsbruck und warnt den von der Roten Armee Gesuchten. Dieser verschwindet schnurstracks ins westliche Ausland. Der Freund unserer Familie fühlt sich in Österreich ebenfalls unsicher und lässt sich bis zum Ende der Besatzungszeit nicht mehr in Wien blicken. Sein Studium setzt er erfolgreich in der Schweiz fort.
Die zweite Geschichte betrifft die aufsehenerregende Affäre um Margarethe Ottillinger, die als hochbegabte junge Frau – promovierte Ökonomin – nach dem Kriegsende Beraterin von Peter Krauland wurde, der damals als Bundesminister für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung eine der wichtigsten Funktionen in der österreichischen Bundesregierung ausübte. Sie wurde am 5. November 1948 an der alliierten Zonengrenze bei der Ennsbrücke buchstäblich aus Kraulands Auto heraus wegen „antisowjetischer Aktivitäten“ festgenommen, in die Sowjetunion verschleppt und dort wegen „Spionage“ zu 25 Jahren Haft verurteilt. Sie verbüßte sieben Jahre im berüchtigten Gulag, in denen sie schwer erkrankte, bis sie nach Abschluss des Staatsvertrags auf einer Tragbahre nach Österreich zurückgebracht wurde. Das Bild dieser schwer gezeichneten Frau (es ist mit einer Google-Suche leicht zu finden) und ihr Schicksal hat mich damals tief erschüttert und bewegt mich heute noch. Was ging im Kopf von Minister Krauland vor, als er an diesem Tag im Dienstwagen seine Fahrt nach Wien ohne Margarethe Ottillinger fortsetzte? Wie, mein lieber Leser, meine liebe Leserin, hättest Du wohl in dieser Situation an seiner Stelle gehandelt? Wie hätte ich mich damals an der Ennsbrücke selbst verhalten? Ich bin dem langjährigen Direktor des Heeresgeschichtlichen Museums Manfried Rauchensteiner dankbar, dass er mich aufgrund seiner Recherchen in den National Archives (Washington) auf einen Aspekt aufmerksam gemacht hat, der mir bisher völlig unbekannt war: Die Amerikaner führten die Verhaftung von Frau Ottillinger durch die Sowjets offenbar auf deren Bekanntschaft mit einem...