E-Book, Deutsch, 416 Seiten
Cebeni Die Blütenmädchen
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-641-21894-2
Verlag: Penguin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 416 Seiten
ISBN: 978-3-641-21894-2
Verlag: Penguin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mit gebrochenem Herzen kehrt Dafne in ihr Heimatdorf in der Toskana zurück. Dort will sie über eine verlorene Liebe hinwegkommen und ihr Leben wieder selbst in die Hand nehmen. Als sie die Werkstatt ihres Großvaters betritt, hat sie eine Idee: Sie wird diese neu eröffnen, um geliebte, aber ausgediente Gegenstände zu restaurieren und ihnen zu neuem Leben zu verhelfen. Der junge Handwerker Milan unterstützt sie dabei. Doch dann fällt Dafne eine alte Taschenuhr in die Hände, die derjenigen Milans zum Verwechseln ähnlich sieht. Sie ahnt plötzlich, dass er nicht zufällig in ihr Dorf gekommen ist …
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2
Oktober 2005
Dafne war gerade aus dem Bus gestiegen, ihren Koffer in der einen, die Plastiktüte vom Supermarkt in der anderen Hand. Hinter ihr lagen hundertzwanzig Stunden nahezu ununterbrochener Arbeit. Sie schwankte ein wenig auf ihren hochhackigen Manolo-Blahnik-Schuhen, und ihr Körper steckte in einem hautengen Kleid, in dem sie kaum Luft bekam. Aber nur noch eine Ecke, dann hatte sie es geschafft.
Seit ein paar Jahren wohnte sie bereits in dieser Straße. Vor der Haustür stellte sie den Koffer ab und nestelte die Schlüssel aus der Tasche. Wie jeden Tag streckte die Romni, die an der Hauswand ihren Stammplatz hatte, die Hand in der Hoffnung auf die Barmherzigkeit vorübergehender Passanten aus, die ihr ein paar Münzen gaben.
»Hast du Hunger?«, erkundigte Dafne sich, warf dabei einen Blick in ihre Tüte, aus der eine Flasche Chianti herausschaute, außerdem eine Schachtel mit Briekäse, deren blaues Etikett zwei Engelsköpfe zierten. »Viel habe ich nicht, aber ein Stück Brot und etwas Käse gebe ich dir gerne ab.«
Die Frau wandte den Kopf ab wie jedes Mal, wenn sie ihr etwas anbot.
»Wie du willst.« Dafne schüttelte den Kopf, steckte den Schlüssel ins Türschloss und betrat den hellen Marmorfußboden des Hausflurs, als sie die Frau hinter sich rufen hörte.
»Was ist?«
»Gib mir deine Hand.«
Zweifelnd schaute Dafne sie an. »Du willst mir aus der Hand lesen? Ist das dein Ernst?«
»Seitdem ich hier vor diesem Haus sitze, bist du die einzige Bewohnerin, die mich überhaupt bemerkt. Gib mir deine Hand«, beharrte die Frau mit slawischem Akzent.
Gehorsam stellte Dafne Koffer und Einkaufstüte ab und streckte der Frau die Hand entgegen. Sie hatte schon Dutzende Geschichten über Roma mit angeblich übersinnlichen Kräften gelesen und glaubte keine einzige. In ihren Augen war das Schicksal eine Mischung aus bewusst getroffenen Entscheidungen und Unvorhersehbarem. Und selbst wenn eine Voraussage eintreten sollte, blieb das Zufall, sonst nichts.
»Du bist unglücklich.«
Dafne lächelte. »Auf die Idee hätte ich genauso gut allein kommen können.«
»Schweig«, wies die Romni sie an und studierte konzentriert die kaum sichtbaren Linien ihrer Handinnenfläche, die ineinander übergingen und sich wieder trennten, als würde es sich bei ihnen um eine Schatzkarte in Geheimschrift handeln. »Du lebst ein Leben, das nicht dein eigenes ist. Ein trauriges Leben. Du bist allein, sehr allein«, urteilte sie und sah Dafne mit einem wissenden Blick an. Dann hielt sie plötzlich inne. »Was ist das?«
Dafne folgte ihrem Blick, der sich auf eine Narbe neben ihrer Pulsader heftete. »Keine Ahnung, die war immer schon da.«
»Hm«, nickte die Frau, fuhr mit der Fingerspitze über die feine Linie und drückte dann fest zu.
Eine intensive Wärme stieg in Dafne auf, strahlte bis ins Herz aus. Als die Romni schließlich aufhörte, ihre Handinnenfläche zu pressen, tupfte auch sie sich den Schweiß von der Stirn.
»Du hast eine Gabe, ich konnte sie spüren«, sagte sie. »Sie war lange Zeit vergraben, jetzt kehrt sie zurück.«
»Von welcher Gabe sprichst du?«, fragte Dafne misstrauisch und wollte die Hand zurückziehen, doch die Romni hielt sie fest, presste sie erneut und zeichnete dann mit dem Zeigefinger die unregelmäßige Linie nach.
Plötzlich stieg in Dafne eine Erinnerung auf, die sie schon lange verloren geglaubt hatte.
Damals war sie neun gewesen und hatte in der Werkstatt ihres Großvaters herumgestöbert, der mit alten Sachen handelte, mit Antiquitäten ebenso wie mit allerlei Trödel. Dabei war ihr Blick an einer Kiste hängen geblieben, in der vergilbte Fotos, elegante Lederhandschuhe und eine Haarbürste mit silbernem Griff lagen.
Neugierig hatte sie die Hand danach ausgestreckt und mit einem Mal die Frau auf den Fotos vor sich gesehen. Wie sie mit gelockten kurzen Haaren im Stil der Zwanzigerjahre, eine Fuchsstola um die Schultern gelegt, vor einem matt erleuchteten Spiegel allein in ihrer Garderobe saß, nachdem der donnernde Applaus verebbt war. Sie machte einen irgendwie melancholischen Eindruck, trotz der roten Rosen auf dem kleinen Tisch. Plötzlich aber leuchtete ihr Gesicht auf, als hätte jemand an die Tür geklopft. Nicht irgendjemand, sondern er, der Geliebte. Sie hatte die Handschuhe übergestreift und war nach draußen gegangen, in die kalte Abendluft einer Stadt irgendwo in Europa, die Dafne nicht kannte. Bereit für eine Nacht voller Jazzmusik und Tanz, die ein tragisches Ende finden sollte. Dafne hatte sich vorgestellt, wie ein Polizist im karamellfarbenen Trenchcoat und mit einer vom Alkohol rauen Stimme auf das blutverschmierte Engelsgesicht mit den erloschenen Augen blickte. Sie war die Liebe seines Lebens gewesen, ohne dass sie es jemals erfahren hatte.
Mit einem Mal fiel Dafne wieder ein, wie oft sie den Erinnerungen nachgespürt hatte, die sich in der Werkstatt des Großvaters verbargen. Sie liebte es, die Gegenstände in die Hand zu nehmen, an ihnen zu riechen und die Schicksale dahinter zu entdecken.
Schätze für die Ewigkeit, Requisiten aus fernen Zeiten, Überbleibsel aus fremden Leben.
Sie hatte die Leidenschaft des Großvaters für solche Dinge geteilt, und der alte Levante hatte sie bereits als ideale Nachfolgerin für sein Geschäft gesehen. Clelia hingegen hatte sich sehr über die Fragen ihrer Enkelin aufgeregt. Was sollte dieses Interesse an der Vergangenheit, an den Geschichten anderer Menschen? Warum beschäftigte sich ein Mädchen von neun Jahren mit so etwas?
»Um meine Geschichte zu finden«, hatte Dafne ihr damals altklug erklärt.
Dieser Satz hatte das Blut in Clelias Adern gefrieren lassen. Lange überlegte sie, der Enkelin den Besuch der großväterlichen Werkstatt einfach zu verbieten. Doch obwohl Dafne weiterhin dort herumkramte, fand sie nie eine Antwort auf ihre Fragen. Bis heute nicht.
»Okay, das genügt.« Dafne zog die Hand weg und gab der Romni zwanzig Euro, den einzigen Schein, den sie bei sich hatte. Zu ihrem Erstaunen lehnte die Frau ab.
»Geschenkt ist geschenkt«, sagte sie, hob abwehrend die Hände.
»Wie du meinst. Einen schönen Abend noch«, erwiderte Dafne, nahm Koffer und Tüte, ging zum Aufzug und fuhr zu ihrer Wohnung hinauf.
Dort zog sie sich um, aß etwas und setzte sich anschließend im Wohnzimmer auf den Boden, den Rücken gegen das Sofa gelehnt, ein Glas Wein neben und die ganze Nacht vor sich.
Da die Luft des römischen Oktoberabends noch recht lau war, stand das Fenster offen, um den vielleicht letzten sanften Herbstgruß hereinzulassen. Bald würde der Winter Einzug halten mit schneidend kaltem Wind und ätzendem Rauch aus den Schornsteinen, der die Luft verpestete.
Von draußen drangen die Stimmen der Studenten an ihr Ohr, die laut auf der Piazza unten plauderten. Grinsend dachte sie daran, dass der eine oder andere Nachbar sich wahrscheinlich wieder beschweren würde. Sie selbst hatte nichts gegen diesen unbeschwerten Ausdruck von Lebenslust – noch vor wenigen Jahren wäre sie selbst eine von ihnen gewesen. Dafne hatte das Studentenleben geliebt, dieses Gefühl, tun und lassen zu können, was man wollte. Diese scheinbar grenzenlose Freiheit. Ohne Verpflichtungen zu haben, ohne Kompromisse eingehen zu müssen. Die ganze Welt schien ihr offenzustehen.
Es waren verrückte Jahre gewesen.
Sie hatte schließlich ihr Journalismus-Studium abgebrochen und sich der Innenarchitektur zugewandt, ihrer wahren Leidenschaft. Es war eine gute Entscheidung gewesen, denn mit einem Mal war es ihr vorgekommen, als würde sie nach einer langen Zeit der Orientierungslosigkeit endlich wieder durchblicken. Sie bekam einen Job in einem angesehenen Architekturbüro, trug eng anliegende Prada-Kleider und hatte plötzlich eine Affäre mit einem verheirateten Mann, der sie mit auf Kongresse nahm, um seiner Ehe zu entfliehen.
Jene Dafne, die Emily Dickinson gelesen und literweise Orangenblüten- und Vanilletee getrunken hatte, war Vergangenheit. Die Flügel hatte sie abgestreift, die Narben, die das Leben hinterließ, verdeckte sie.
Das Klirren von Glas riss sie aus ihren Gedanken. Bestimmt hatte einer der Studenten eine Bierflasche fallen lassen. Versonnen fuhr sie mit dem Zeigefinger über die sinnliche Form der Chianti-Flasche. Wein, kein Bier mehr. Sie war eindeutig erwachsen geworden – was allerdings zugleich bedeutete, dass die Zeit unerbittlich und stetig dahinfloss, Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr.
Auch dieses Jahr neigte sich schon wieder dem Ende zu. Die majestätischen Platanen, die die Piazza umrahmten, kündigten mit ihrem Rauschen die stille Jahreszeit an, und erst im Frühjahr würde alles wieder zu neuem Leben erwachen. Und welche Zukunft gab es für sie? Durfte sie ebenfalls auf einen tröstlichen Neubeginn hoffen?
Seufzend drehte sie sich zur Seite, ihre Hand tastete nach dem Smartphone, um erneut die letzte Nachricht abzuhören, die Ettore ihr hinterlassen hatte.
Meine Liebste, ich kann nicht. Ich kann Giada nicht verlassen. Nicht jetzt, wo wir ein Kind erwarten und alles gut aussieht nach der Tragödie vor zwei Jahren. Du weißt, wie sehr sie damals gelitten hat. Es wäre ungerecht, sie so zu verletzen, gerade jetzt, wo sie so glücklich ist. Verzeih mir, verzeih mir, meine Liebste.
Noch ein letzter Schluck, und die Flasche war leer. Ihr Mund verzog sich zu einem gequälten Lächeln. In diesen vier Wänden hatten sich Szenen eines erbittert geführten Krieges abgespielt, der nicht selten die Spielregeln eines fairen Miteinanders verletzt hatte, das wusste...