Buch, Deutsch, 184 Seiten, GEKL, Format (B × H): 100 mm x 148 mm, Gewicht: 200 g
Buch, Deutsch, 184 Seiten, GEKL, Format (B × H): 100 mm x 148 mm, Gewicht: 200 g
ISBN: 978-3-943866-39-1
Verlag: Schiermeier, Franz
Veduten der Normalstadt
Aus seiner Sammlung von Darstellungen zur Alltagsarchitektur des 20. Jahrhunderts hat Matthias Castorph, Professor an der Technischen Universität Kaiserslautern, „Veduten der Normalstadt“ publiziert.
Sie entstanden als Bearbeitungen von Lehrillustrationen von Vorlagen für Führerscheinprüfungen. „Die entsprechenden Bilder hat er nur ein wenig bearbeitet – die Autos wegretuschiert und damit … den Blick auf das gelenkt, was in der Regel völlig übersehen wird – den Hintergrund, den Bordstein, das Normale.“
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Julian Müller
Normal Stadt beobachten – Bevor man etwas dazu sagen kann, wie sich Normalstadt beobachten lässt, muss man sich vielleicht erst einmal deutlich machen, was man eigentlich unter Beobachten verstehen kann und was eine Normalbeobachtung der Stadt ist.
Wie so oft in Fragen des Beobachtens muss man dazu ein wenig zurückgehen, nach Florenz, wo Filippo Brunelleschi und Leon Battista Alberti bekanntlich vor knapp 600 Jahren die Entdeckung der Zentralperspektive gemacht und die Welt dadurch ein wenig aus den Angeln gehoben haben. Denn sie haben ja nicht einfach nur die perspektivische Darstellung mathematisiert und dadurch technisch verfeinert, nein, sie haben die Perspektive tatsächlich erfunden. Man muss es so deutlich formulieren: Erst durch sie verfügt der Mensch über eine eigene Perspektive auf die Welt. Zuvor gab es schließlich überhaupt nur eine einzige Perspektive – und diese zeichnete sich auch noch dadurch aus, dass sie streng genommen gar nicht perspektivisch war. Gott war Alles-Sehender (quasi cuncta circumspiciat), er verfügte über ein vollkommenes, also unverschränktes Sehen. Der Mensch tauchte in dieser Anordnung, wenn überhaupt, nur als Beobachtetes auf. Den Menschen aber als selbsttätigen Beobachter installiert zu haben, ist der Verdienst dieser beiden Künstler-Ingenieure. Wer die Zeichnung etwa der Taufkirche San Giovanni zu Hand nimmt, wird vom selben Punkt aus genau dasselbe sehen wie schon Brunelleschi selbst – und das galt nicht nur zu Zeiten seiner öffentlichen Demonstrationen dieser neuen Wissenschaft der systematischen Vergrößerung und Verkleinerung, das gilt bis heute.
Brunelleschi und Alberti haben also nicht weniger geleistet, als unser Sehen zu berechnen und umzuformatieren und zu Beginn des 15. Jahrhunderts so etwas wie die Demokratisierung des Blicks in Gang zu setzen. Und wie alle Demokratisierungsprozesse hatte auch dieser Prozess der Demokratisierung des Blicks eine emanzipatorische, aber eben auch eine normalisier-ende Dimension. Emanzipatorisch kann man ihn insofern nennen, als er den Menschen aus der Rolle des bloß Beobachteten befreit und somit zum Subjekt „seiner“ Beobachtung gemacht hat. Normalisierend aber wirkte er insofern auch, als dieser freie Blick sogleich domestiziert und allem Subjektiven entledigt wurde.
Das moderne Subjekt musste aushalten können, dass sein eigener Blick bereits immer schon ein standardisierter ist. Prinzipiell jeder wird von derselben Position aus dasselbe sehen können – das ist gewissermaßen Segen und Fluch der Zentralperspektive als Format. Sie hat den Beobachter aufgewertet, da sie ihn zum integralen Bestandteil eines jeden Bildes gemacht hat – und hat ihn gleichzeitig auch abgewertet, da dieser nun als konkrete Person austauschbar geworden ist.
Die Malerei hat mit diesem Zusammenspiel aus Besonderheit und Allgemeinheit des Sehens seit jeher gespielt. Von den frühen perspektivischen Studien eines Paolo Uccello oder eines Piero della Francesca bis hin zur Hochphase der Vedutenmalerei im 17. und 18. Jahrhundert hat sie den Betrachter vor die Aufgabe gestellt, im Bild selbst sein eigenes Sehen als ein verallgemeinerbares mitsehen zu können. Die berühmten realistischen Darstellungen etwa des Campo di Rialto in Venedig oder der Augustusbrücke in Dresden sind daher so etwas wie Experimente mit den Mitteln der Malerei, die darauf abgezielt haben, eben jene Konvergenz aus Besonderheit und Allgemeinheit des Sehens vor Augen zu führen. Der Betrachter wird an ihnen merken, dass er insofern Teil des Bildes ist, als es auf ihn selbst, auf die Augendistanz und seine Position im Raum ankommt, ob das Kunstwerk perspektivisch stimmt oder nicht. Er wird also zum nicht sichtbaren Bestandteil des Kunstwerks, zu einer Leerstelle, die immer wieder gefüllt werden kann, zum eingeschlossen-ausgeschlossenen Beobachter.
Gleichzeitig wird der Betrachter aber auch einsehen müssen, dass womöglich hinter ihm schon der nächste wartet, der dieses Experiment ebenfalls durchführen möchte und zu exakt denselben Ergebnissen kommen wird, wie er selbst auch. Der moderne Beobachter ist also immer auch ein standardisierter Normalbeobachter. Die normale Null eben.
Darin liegt natürlich eine tiefe Kränkung, die das moderne Subjekt irgendwie verarbeiten musste. Nach einem halben Jahrtausend Training in perspektivischem Sehen und einer damit einhergehenden Normalisierung und Nivellierung des Blicks verwundern all jene gegenwärtigen Versuche nicht, wieder vermeintliche Freiheiten im Beobachten einzubauen. Wer heute im Italienurlaub mit dem Klappschemel perspektivisch exakte Stadtansichten anfertigt, der macht sich fast verdächtig, werden heute doch Fotos gemacht, in die nachträglich Tiefenschärfe, perspektivische Verzerrungen und Effekte eingebaut werden. Instagram und Photoshop, Telezoom- und Makroobjektive sind so etwas wie Analgetika, die den Schmerz der Kränkung der Normalisierung des Blicks zumindest dadurch ein wenig lindern sollen, dass sie dem eigenen standardisierten Sehen den Anschein von Nichtverallgemeinerbarkeit geben. Schaut her, so sehe nur ich die Welt, in Earlybird- oder X-Pro II-Filter.
Ob es daher heute noch so etwas wie Veduten gibt oder überhaupt das Bedürfnis danach, ist eine Frage, die gar nicht so leicht zu beantworten ist. Denn obwohl wir über eine derartige Menge an Bildern von Städten verfügen, wie noch keine Generation vor uns, ein funktionales Äquivalent für die Veduten des 17. und 18. Jahrhunderts gibt es scheinbar nicht.
Oder etwa doch? Vielleicht muss man ja einfach nur an ganz anderen Stellen nach ihnen suchen. Nicht in den Akademien, den Galerien und Museen, sondern in den Kellern von Fahrschulen. Also dort, wo die Standardisierung und Normalisierung des Sehens nicht nur gar nicht weiter schlimm, sondern geradezu überlebensnotwendig ist.
In den Lehrbüchern zur Führerscheinprüfung stößt Matthias Castorph daher auf Veduten der Normalstadt. Die entsprechenden Bilder hat er nur ein wenig bearbeitet – die Autos wegretuschiert und damit nicht nur den Blick auf das gelenkt, was in der Regel völlig übersehen wird – den Hintergrund, den Bordstein, das Normale – sondern auch all die öden Theoriestunden in der Fahrschule nachträglich in Diavorträge zur modernen Vedutenmalerei verwandelt, gehalten von ausgebildeten Kunsthistorikern, die sich „Fahrlehrer“ nennen.
Wie bei jeder Vedute kann der Betrachter auch hier die Probe aufs Exempel machen und die entsprechenden Bilder an der Wirklichkeit überprüfen. Es ist zwar nicht Urbino und auch nicht Dresden oder Venedig, das er hier zu sehen bekommt, sehr wohl aber sind es Orte, die er bereits immer schon gesehen hat irgendwo, gekennzeichnet durch deren Unauffälligkeit, Unaufdringlichkeit und Unaufsässigkeit.