Buch, Deutsch, 424 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 212 mm, Gewicht: 507 g
Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts
Buch, Deutsch, 424 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 212 mm, Gewicht: 507 g
ISBN: 978-3-593-38732-1
Verlag: Campus
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Soziale Gruppen/Soziale Themen Soziale Fragen & Probleme
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Spezielle Soziologie Soziale Ungleichheit, Armut, Rassismus
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politische Kultur Politische Soziologie und Psychologie
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Spezielle Soziologie Politische Soziologie
Weitere Infos & Material
Vorwort
Robert Castel/Klaus Dörre 9
Einleitung
Robert Castel/Klaus Dörre 11
Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts - Theoriefolien, Begriffe, Zeitdiagnosen
Die Wiederkehr der sozialen Unsicherheit
Robert Castel 21
Prekarität im Finanzmarkt-Kapitalismus
Klaus Dörre 35
Die soziale Frage neu gestellt - Gesellschaftsanalysen
der Prekarisierungs- und Geschlechterforschung
Brigitte Aulenbacher 65
Die "Überzähligen" - Ausschluss aus dem Erwerbssystem, räumliche und soziale Ausgrenzung
Zur Einführung
Peter Bescherer 81
Die Wiederkehr des Verdrängten - Unruhen, "Rasse" und
soziale Spaltung in drei fortgeschrittenen Gesellschaften
Loïc Wacquant 85
Räumliche Segregation und innerstädtisches Getto
Hartmut Häussermann/Martin Kronauer 113
Warum Erwerbsausschluss kein Zustand ist
Peter Bartelheimer 131
Eigensinnige "Kunden" - Wie Hartz IV wirkt … und wie nicht
Peter Bescherer/Silke Röbenack/Karen Schierhorn 145
Die Überzähligen - Teil der Arbeitsgesellschaft
Ariadne Sondermann/Wolfgang Ludwig-Mayerhofer/Olaf Behrend 157
Die "Prekarier" -
Verstetigung unsicherer Beschäftigungs- und Lebensformen
Zur Einführung
Michael Behr 171
Die Herausforderung der organischen Solidarität
durch die Prekarisierung von Arbeit und Beschäftigung
Serge Paugam 175
Das Prekariat - eine neue soziale Lage?
Berthold Vogel 197
Die "Prekarier" - eine soziologische Kategorie?
Anmerkungen aus einer geschlechtersoziologischen Perspektive
Hildegard Maria Nickel 209
Entsicherte Verhältnisse -
veränderte Dynamiken sozialer Ein- und Entbindung
Susanne Völker 219
Verstetigung prekärer Lebensformen -
ein Fall aus der Kinder- und Jugendhilfe
Karl Friedrich Bohler 229
Prekarisierung - jenseits von Stand und Klasse?
Klaus Kraemer 241
Die "Absteiger" -
Verunsicherung im Zentrum der Gesellschaft
Zur Einführung
Ingo Singe 255
"Neue Mitte": Das Ende der Planwirtschaft
Stephan Lessenich 259
"Abstiegssorgen der Mitte" - Flexibilität benötigt Sicherheiten
Olaf Struck 269
Unsicherheit und kreative Arbeit -
Stellungskämpfe von Soloselbständigen in der Kulturwirtschaft
Alexandra Manske 283
Prekarisierung von Lernverhältnissen
Ines Langemeyer 297
Prekarität und verunsicherte Gesellschaftsmitte -
Konsequenzen für die Ungleichheitstheorie
Nicole Burzan 307
Die (Un-)Solidarischen -
Partizipation und Selbstorganisation der Unorganisierbaren
Zur Einführung
Michael Hofmann 319
Politische Verarbeitungsformen gefühlter sozialer Unsicherheit:
"Attraktion Rechtspopulismus"
Jörg Flecker/Manfred Krenn 323
Solidarisierung im Feld der Kulturberufe?
Christiane Schnell 333
Gewinne der Selbstorganisierung? Das Beispiel Frauenbewegung
Iris Nowak 345
Gewerkschaften und Prekarität - neue Wege des Organizing
Catharina Schmalstieg/Hae-Lin Choi 357
Von der Anomie zur Organisierung: Die Pariser Banlieue
Mario Candeias 369
Schlussbemerkung
Robert Castel/Klaus Dörre 381
Literatur 387
Autorinnen und Autoren 421
Die Wiederkehr der sozialen Unsicherheit
Robert Castel
Die Wiederkehr der sozialen Unsicherheit ist ein Hauptmerkmal gesellschaftlicher Entwicklung, an dem seit rund dreißig Jahren die Länder Westeuropas kranken, Deutschland ebenso wie Frankreich. Von einer "Wiederkehr" zu sprechen bedeutet, im Vergleich zu einem vorhergehenden Zustand eine Verschlechterung zu diagnostizieren. Bis Mitte der 1970er Jahre profitierten die Lohnabhängigen der genannten Länder tatsächlich von dem, was ich an anderer Stelle als "den sozialen Kompromiss des Industriekapitalismus" bezeichnet habe, von einem Kompromiss also, der sich in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg herausgebildet hatte. Er gewährleistete einen gewissen Ausgleich zwischen Marktinteressen einesteils, das heißt den Erwartungen der Unternehmen in Hinblick auf Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit, und den Interessen der Welt der Arbeitenden anderenteils, was den Schutz und die Absicherung der großen Mehrheit der Arbeitnehmer anbelangt. Durchgesetzt wurde, mit anderen Worten, eine allgemeine soziale Absicherung, das so genannte soziale Netz, das die Mehrheit der Bevölkerung in den genannten Ländern vor den wichtigsten gesellschaftlichen Risiken schützte. Das ist der Zusammenhang, vor dessen Hintergrund nun die Wiederkehr der sozialen Unsicherheit zu beurteilen ist.
Nachfolgend sollen in aller Kürze die wesentlichen Elemente des genannten Zusammenhangs in Erinnerung gerufen werden, um dann zu fragen, was in den vergangenen dreißig Jahren passiert ist. Welche neue Dynamik hat uns da erfasst, die sich als eine der Verunsicherung, der Prekarisierung zeigt, die früher vorhandene Strukturen in ihr Gegenteil verkehrt und bewirkt, dass Menschen heute in wachsender Zahl von neuem auf sich selbst gestellt sind, dazu verdammt, "von der Hand in den Mund zu leben", wie es ehedem hieß, und einer ungewissen Zukunft entgegenzusehen?
Was den Gang des erwähnten Transformationsprozesses in seinen allgemeinen Zügen angeht, besteht in der sozialwissenschaftlichen Debatte relative Einigkeit. Prekarisierungsprozesse durchziehen unsere Gesellschaften auf breiter Front und destabilisieren die sozialen Sicherungssysteme, die sich im Verlauf der Entwicklung des industriellen Kapitalismus herausgebildet hatten. Schwieriger hingegen sind die Folgen dieser Transformationen für die Sozialstruktur abzuschätzen. Welche Individuen und Gruppen sind besonders betroffen? Bilden sie eine neue gesellschaftliche Klasse, und wenn ja, welche Stellung kommt einer solchen Klasse in der Gesellschaft insgesamt zu? Lässt sich von einem neuen Proletariat oder Subproletariat sprechen, das sich aus den Opfern der augenblicklichen Veränderungen zusammensetzen würde? Das scheint zumindest teilweise der tiefere Sinn der bedeutsamen Debatte zu sein, die in Deutschland um den Ausdruck "neue Unterschicht" stattfand und noch immer stattfindet. Ich bin unglücklicherweise nicht ausreichend vertraut mit den deutschen Verhältnissen, um in dieser Kontroverse direkt Stellung beziehen zu können. Ich kann allerdings versuchen, etwas über die Art und Weise zu sagen, in der die Frage in Frankreich formuliert wird, wo die Terminologie ein wenig anders ist oder anders eingesetzt wird. Man spricht dort vom Ausschluss, von der Prekarität und der Pauperisierung der Arbeitenden, doch sind das Ausdrücke, die auf die gleichen Probleme zielen - und dabei die gleichen Schwierigkeiten mit sich bringen. Denn darum ist es mir vor allem zu tun: die Komplexität der Fragestellung hervorzuheben, ohne zu behaupten, fertige Antworten zu haben. Tatsächlich scheint es mir gegenwärtig das Beste, die Bedeutung der Probleme hervorzuheben, die durch die Verschlechterung der sozialen Lage in Frankreich und in Deutschland aufgeworfen werden und die Herausforderungen für die Gesellschaft zu klären. Im günstigsten Fall wird es darum gehen, einer meiner Meinung nach weiterhin offenen Debatte über die Auswirkungen der anhaltenden sozioökonomischen Veränderungen ein paar Aspekte hinzuzufügen.