E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Casper Unterbrochene Schienen
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-88769-575-0
Verlag: konkursbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Erzählungen
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-88769-575-0
Verlag: konkursbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Die autobiografischen Erzählungen (mit einigen Abbildungen) und Momentaufnahmen handeln aus Sicht des Mädchens Sieglinde vom Krieg, von der Begegnung mit einem Agenten in Ost- und Besuchen bei Tante Tilde in Westberlin; später arbeitet sie in der Deutschen Bücherstube, dorthin kamen Kunden wie Anna Seghers, Helene Weigel, Arnold Zweig und seine Frau, aber auch Schnäppchenjäger aus dem Westen und amerikanische Studenten. Aus Sicht der jungen Erwachsenen wird nun vom überraschenden Mauerbau erzählt, vom Pressecafé und die Geschichte ihrer Flucht. „Wie sich diese Flucht im Detail abgespielt hat, liest sich spannend wie ein Krimi.“ (Tagesspiegel) Es folgen Momentaufnahmen, Sigrun Caspers Westostwestblicke sind voller Selbstironie und sehr unterhaltsam zu lesen, aus der Zeit der Teilung, zum Mauerfall bis in die Gegenwart hinein – in genau beobachteten Details wird Zeitgeschichte lebendig. "Hautnah erzählt." (dag, Berliner Morgenpost, 45. Woche, 10.11.14). Auch fünfundzwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer berühren diese individuellen Fluchtgeschichten, weil sie zeigen, mit welchem Einfallsreichtum Menschen versuchten, dem real existierenden Sozialismus zu entkommen. Ob beim ersten Versuch, Jahre nach der Flucht, wieder nach Ostberlin einzureisen oder auf einer Reise in die USA oder bei den Schienen mit Blick auf die Grenzbeamten – in genau beobachteten Details wird Zeitgeschichte lebendig. Sieglinde macht sich zum Beispiel Gedanken darüber, was sie anzieht, um nicht als Westtussi vor der Ost-Verwandtschaft zu erscheinen.
Unterbrochene Schienen – manche bis heute.
Doris Pareike, Protagonistin der Erzählung „Der Durchbruch“, erlebte den Mauerfall anders als viele andere (für diese Geschichte erhielt die Autorin den Walter-Serner-Preis.). In der Erzählung „Trude“ wird mit einer Biografie in sieben Wochentagen quer durch die Jahrzehnte (von Sieglindes Tante Gertrud) deutsche Geschichte pointiert sichtbar.
„Ihre Sprache ist alles andere als wehmütig, sondern ohne Schnörkel und Nostalgie. Casper ruft Erinnerungsbilder wach von Orten, die es heute nicht mehr gibt. Ein Buch, das die kleinen Geschichten der Teilung schildert; und ganz nebenbei eine wunderbare Hommage an die Stadt Berlin ist.“ (Marina Himmer, Main-Echo) „So, als säße man mittendrin, beschreibt sie auch die weltoffene bunte Atmosphäre im legendären Pressecafé. In den Geschichten werden die Risse und Brüche deutlich, die von der Teilung herrühren. Um Notlügen geht es, um Versteckspiele, um Trotz und Trauer. Auch darum, dass der Westen keineswegs nur golden war. Ihre sensiblen Beobachtungen kleidet die Autorin in klare schöne Sätze.“ (Tagesspiegel)
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Mein Krieg
Ich kannte viele Wörter. Von den meisten wusste ich, was sie bedeuten. »Mutter« und »unser Haus« waren die wichtigsten Wörter. Ich konnte unser Haus nicht anfassen und umklammern wie meine Mutter. Mutter gehörte zu mir. Das Haus gehörte zu uns und wir zum Haus. Ohne unser Haus waren wir verloren. Unten in der Diele stand die Eckbank mit dem Tisch davor. Das war der wichtigste Platz im Haus. Auf dem Eckbord über der Bank stand der Volksempfänger, ein Kasten aus Holz, ein kleines sprechendes Haus mit rund gebogenem Dach. Durch das Fenster, das mir grobem Stoff bespannt war, kamen die Wörter, die zum Krieg gehörten. Sie fielen wie abgehackt heraus und schnarrten. Plötzlich schnelle Musik, dann hackte es weiter. Feind. Front. Deutsch. Wir Deutsche. Sieg. Helden. Niederlage. Angriff. Endsieg. Ich hatte die Wörter schon so oft gehört. Keiner von uns durfte etwas sagen. Ich wartete auf ein Wort, das ich noch nie gehört hatte. Wir standen vor der Haustür und sahen in den Himmel. Meine Mutter trug eine blaue Schürzemit Rüsche und rotem Zickzacksaum. Die Schürzentasche war mit einer dicken roten Blume bestickt. Ich drückte mich an meine Mutter und hielt mich an ihrer Schürze fest, so fest, dass meine Hand feucht wurde und der Stoff zerknautschte. Tante Gertrud faltete ihre Hände vor und nach dem Essen, dabei murmelte sie und sah zur Zimmerdecke. Dort suchte sie den lieben Gott. Der hatte aber die Kartoffeln weder geputzt noch gekocht. Sollte das stimmen, was Tante Gertrud über den lieben Gott sagte, musste er trotzdem sehr mächtig sein. Wenn meine Mutter und ich zum Himmel blickten, suchten wir den lieben Gott nicht. Mutter hielt eine Hand über die Augen. Ich hielt meine freie Hand auch über die Augen. Wir suchten den Krieg. Der Krieg hatte etwas mit dem Himmel zu tun, aber nicht mit dem lieben Gott. Die Bomben wurden vom Himmel herabgeworfen. Der Krieg war noch etwas anderes, größeres als Bomben und Granaten, etwas anderes als die Scheinwerfer, die nachts über den Himmel jagten. Der Krieg war immer da, auch wenn die Luft nicht dröhnte und der Himmel seine Ruhe hatte. Nie war es wirklich still um mich, so, dass ich mal einfach nur so in die Luft gucken konnte. Immer war etwas in der Nähe, das mich bei allem störte, was ich auch anfing. Auch wenn die Sonne schien, war Krieg. Meine Mutter saß auf der Dielenbank. Sie stützte den Kopf in die Hände und starrte auf den Tisch. Ich stand am Tisch und sah sie an und wusste nicht, was ich machen sollte. Beim Gutenachtsagen drückte sie mich an sich und wollte mich nicht loslassen. Ich wollte nicht, dass sie mich so ansah. Aber mir fiel nichts ein, was sie froher machte. Ich tat so, als schliefe ich schon. In meinem Bauch war ein Seil, das mich von innen zusammenschnürte. Das war der Krieg. Der Krieg war in mir drin und überall, ich konnte mich nirgends vor ihm verstecken. Selbst das Bilderbuch vom Kater Murr, der über die Dächer spazierte, scheuchte den Krieg nicht weg. Immer kam mir der Reim in die Quere. Heute Krieg, morgen Sieg. Kater Murr lachte mich aus. Der Reim quälte mich. Heute Krieg, morgen Sieg. Mein Teddybär war bei mir. Er war schon kahl, ein Ohr fehlte ihm. Tante Gertrud fand ihn unappetitlich. Der Teddy hielt still, wenn ich ihn streichelte. Beim Schlafengehen wusste ich schon, dass ich bald geweckt wurde. Ich faltete die Hände wie Tante Gertrud. Zur Zimmerdecke brauchte ich nicht zu sehen, denn es war verdunkelt. Unter meinen Händen legte ich die Pfoten meines Teddys aneinander und sagte, wie ich es oft von Tante Gertrud hörte: »Lieber Gott, lass unsere Mauern stehen.« Zum Frühstück musste ich Pfefferminztee oder Milch trinken und die Wörter aus dem Volksempfänger hören und still sein. Es gab auch wenig zum Erzählen. Ich stand viel herum und achtete darauf, wo meine Mutter war. Die Sirene war weit weg und doch ganz nah. Ihr Heulen weckte den Himmel und den Krieg. Meine Mutter stand vor meinem Bett und trieb mich an. Ungeduldig zeigte sie mit dem Strahl der Taschenlampe auf meine Schuhe. Das Zimmer war von Fauchen und Brüllen angefüllt. Ich verkroch mich unter der warmen Bettdecke, hielt den Teddy vor meinen Bauch. Meine Mutter wurde böse. Ein stummes Hetzen ging los. Ich war klein wie eine Maus. Auch meine Mutter und alle die huschenden Leute waren winzig und nicht mehr wichtig. Nur mein Kopf war viel zu groß, meine Augen. Bei jedem Aufheulen duckte ich mich noch im Rennen und zog den Kopf zwischen die Schultern. Die Sirene war ein Maul, das für den Krieg Fressen suchte. Unser Haus war hoch. Es müsste sich flach machen können. Rannten wir zum Bunker im übernächsten Garten, ließen wir es ganz allein zurück. Der Bunker befand sich im übernächsten Nachbargarten unter einem Hügel, der mit Gras bewachsen war. Seine Tür war so schmal und niedrig, dass nur eine Person hindurchpasste. Innen wurde die Tür mit einem schweren, langen Riegel verschlossen. Die Großen mussten sich bücken, um durch die Tür zu kommen. Im Bunker dachte ich immerzu an unser Haus. Trotzdem war ich lieber im Bunker als in unserem Keller. Im Bunker war der Krieg nicht so laut, und die Nachbarn und Kinder saßen beieinander. Meine Mutter und ich und alle anderen waren im Bunker besser versteckt vor dem Krieg. Komisch, dass da auch Stühle standen. Es war warm und roch. Wir saßen still, ich auf dem Schoß meiner Mutter. Wir blickten alle zur Decke. Eine Kerze flackerte. Wenn auf ein Pfeifen ein kurzer, heller Krach folgte, war ein Haus getroffen. Wir zuckten zusammen. Meine Mutter hielt mich an sich gepresst. Entwarnung, sagte jemand. Mutters Arme lockerten sich. Alle standen auf und reckten sich. Ich rutschte von Mutters Schoß. Jemand schob die Bunkertür auf. Ob Tag oder Nacht, erst mal sah sich jeder um. Die Häuser waren zu sehen, auch unser Haus. Manchmal weinte meine Mutter. Ich verstand das. Auf einmal war mein Vater da. Er war ein großer, fremder Mann mit Uniform. Er kam aus dem Feld. Er zog seine Stiefel aus, wickelte Schichten von Lumpen von seinen Waden und Füßen ab und schlüpfte in Pantoffeln. Er roch muffig wie die alten Winterkartoffeln im Keller. Meine Mutter lachte, ich glaubte ihr das Lachen nicht. Ich sah sie dann nicht an. Der Vater griff mich und meine Brüder, setzte uns auf seine Knie und meine Mutter fotografierte. Die Stiefel standen immer im Weg. Der Vater zeigte uns, wie man sie mit Spucke und einem Lappen wienerte, bis sie glänzten. Es waren zwei hohe, schwarze Röhren mit Tatzen. Sie waren böse. Sie konnten mich verschlingen. Irgendwas hatten sie mit mir vor, sie taten nur so, als ständen sie still beieinander. Sie kamen aus dem Feld und es stank faulig aus ihnen, auch wenn sie noch so glänzten. Sie hatten etwas mit mir vor. Was hatte ich ihnen getan? Immer mussten sie da stehen, wo ich gerade vorbei wollte. Die Stiefel lauerten mir auf. Ich wollte so tun, als wären sie nicht da, aber sie zwangen mich, zu ihnen hinzusehen. Aus schwarzen Löchern glotzten sie zurück, gleich würden sie losspringen und mich fressen. Ich schrie, als sie auf mich zugestapft kamen. Festgeklebt am Boden starrte ich auf die Ungeheuer. Mit Armen und Händen stieß ich sie von mir weg, aber ihre Glotzaugen drückten sich in mich rein. Da standen die anderen um mich herum und lachten. Je lauter das Lachen der Brüder, der Mutter, der Tante, des großen Mannes, desto mächtiger wurden die schwarzen Viecher. Das Lachen spornte sie an. Schon hob eines mit seinen Pranken vom Boden ab und langte nach mir. Wegrennen, abhauen, den schallenden Kreis durchbrechen. Die dunklen Röhren bannten mich. Schreien, das konnten sie nicht verhindern. Ich schüttelte die Tränen vom Gesicht. Ich war schwach. Ich knirschte mit den Zähnen. Jemand nahm mich in die Arme. »Ist ja gut.« Jemand sagte, ich sei niedlich. War der Vater da, traute ich mich nicht an meine Mutter heran. Am liebsten wäre ich unter den Dielentisch gekrochen. Vater lauschte den Wörtern aus dem Volksempfänger anders als Mutter und Tante Gertrud, er sah nicht besorgt aus, er sah streng aus. Gehörte zu der Stimme aus dem Volksempfänger ein Gesicht, dann sähe das aus wie Vater, dem alle gehorchten. Auch ich war gehorsam. Ich wünschte mir, dass er wieder fortging, ins Feld, mit seiner Uniform, den Stiefeln und dem kleinen Koffer. Nach der Entwarnung stieg mein Vater als Erster die Kellertreppe hoch. Wir durften erst nach oben, wenn er sein »Alles in Ordnung!« zu uns heruntergerufen hatte. Einmal war es anders als sonst. Er rief: »Los, raus!« Es war Vormittag, durch die Kellerfenster kam Licht. Wir sahen uns an, Mutter und Tante Gertrud schüttelten die Köpfe. »Raus aus dem Keller!«, befahl der Vater. »Was ist denn?«, fragte meine Mutter. »Keine Fragen, verschwinden!« Er stand oben auf der Kellertreppe, sein Gesicht war verzerrt. »Wird’s bald!« Ich mochte ihn nicht. Was hatte der zu kommandieren? Mutter nahm mich bei der Hand, wir gingen an ihm vorbei, er stieß und schubste uns. »Beeilt euch, zum Kuckuck nochmal!« Er trieb uns den Torweg entlang bis auf die Straße. »Raus aus den Häusern!«, rief er aufgeregt nach allen Seiten. Eine Bombe war in unsere Veranda gefallen. Sie war auf einen Eisenträger des Daches geprallt, hatte sich dabei gedreht und war so auf den Boden aufgetroffen, dass sie nicht explodieren konnte. Ein Blindgänger. Ich drehte das Wort in Gedanken hin und her, rollte mit den Augen. Blindgänger. Ein neues Wort. Aber es sagte mir nichts. Im Umkreis von zweihundert Metern mussten die Leute aus ihren Häusern raus. Sie drängten sich an der Straßenecke zusammen, redeten. Ich mit Mutter und Vater allein unter ihnen. Zweihundert Meter. So viele Leute passten auf...




