E-Book, Deutsch, 296 Seiten
Casimir / Harrison Gut Hermannsheide
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-7494-6124-0
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 296 Seiten
ISBN: 978-3-7494-6124-0
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Leiche im Moor, ein undurchsichtiger schottischer Pensionär und der Gründer des Musterguts sind die Hauptdarsteller der zweiten Erzählung aus der Grafschafter Trilogie. Angestoßen durch den Leichenfund verfolgen wir den Lebensweg des eigenwilligen Industriellensohns Victor van Vals durch zwei Weltkriege und erleben das Entstehen des fiktiven Guts Hermannsheide. Schauplätze sind neben seiner Heimat das angrenzende Emsland, die niederländische Region Twente sowie Münster und Berlin. Seine zwanzigjährige Tochter Marie erlebt die britische Besatzung der Grafschaft Bentheim, bis sie in den Nachkriegswirren spurlos verschwindet. Warum wird der Schotte mit ihrem Verschwinden in Zusammenhang gebracht, welches Rätsel umgibt ihn und seine Familie? Erst knapp siebzig Jahre nach Kriegsende werden die Geschehnisse aufgelöst und offenbaren spektakuläre Familiengeheimnisse. "Gut Hermannsheide ist die zweite Erzählung aus der Trilogie um das Gut in der Grafschaft Bentheim. Bisher erschienen ist Band 1 "Das Dilemma".
Roswitha Casimir, geboren 1952 in Koblenz. Die gelernte Betriebswirtin war zunächst in einer Anwaltskanzlei und seit 1984 in einer internationalen Behörde in München, Berlin, Wien und Den Haag tätig. 2005 wurde sie aus gesundheitlichen Gründen in den vorzeitigen Ruhestand versetzt.
Autoren/Hrsg.
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1
Déjà-Vu
Erneut überfiel Alexander McGregor ein merkwürdiges Vertrautheitsgefühl, als er vor dem ehemaligen Herrenhaus der Gutsanlage von Hermannsheide stand. In den letzten beiden Jahren grundsaniert und wieder aufgebaut, beherbergte es einen Landgasthof mit Biergarten, einen altmodischen Kolonialwarenladen, eine Reihe von Wohnungen sowie im gesamten linken Flügel eine »Tagesbetreuung für Senioren und Kinder«. Alexander erlebte ein Déjà-vu – das Gefühl, schon einmal hier gewesen zu sein und viel über diese Örtlichkeit zu wissen. Dabei sah er sich jedoch vor den Ruinen dieses Herrenhauses stehen, so wie es vor seiner Sanierung ausgesehen haben mochte. Gleichzeitig war er sich sicher, zum ersten Mal in seinem Leben hier oder in der näheren Umgebung zu sein. Ein solches Erlebnis war ihm nicht vollständig neu, doch frühere Vorfälle angeblicher Erinnerungen waren flüchtig und entlarvten sich rasch als Täuschung, eine Art Fehlschaltung des Gehirns. So war es ihm bereits kurz gegangen, als sie das Forsthaus besichtigten. Die Auffahrt zum Haus durch ein Wäldchen, der Anblick von außen, waren ihm seltsam vertraut erschienen. Doch sobald sie das Haus betraten, verging diese Empfindung. Nun allerdings war das Phänomen auffallend stark und intensiv. Aus einer vagen Intuition wurde nahezu Gewissheit. Sein Blick fiel auf den modernen Eingangsbereich des Hauses, doch gleichzeitig meinte er, vor einer eingefallenen und zerstörten Freitreppe mit steinernen Balustraden zu stehen. Erstaunlich. Paradox und rätselhaft. Zweifelsohne war Alexander ein fantasiebegabter Mensch, schließlich hatte er bis zu seiner kürzlichen Pensionierung sein Auskommen als Computerspiele-Entwickler bestritten und war in seiner Freizeit begeisterter Rollenspieler. Hinzu kam, dass er sich mit Kryptozoologie beschäftigte, einem Gebiet der Zoologie, das verborgene Tiere aufspürt und erforscht. Diese, allerdings noch nicht allgemein anerkannte Wissenschaft wurde um 1950 von dem Zoologen Bernard Heuvelmans begründet. Obwohl sich viele Scharlatane auf diesem Gebiet herumtrieben, gab es unter ihnen eine Reihe ernstzunehmender Forscher. Ihren Gedanken hatte er sich angeschlossen und ging mit ihnen davon aus, dass Drachen zu den Nachfahren der Dinosaurier zählten und die Berichte, die uns aus dem Altertum oder dem Mittelalter überliefert sind, einen wahren Kern enthielten. Nicht wenige Menschen bezeichneten ihn wegen seiner Hobbys und Leidenschaften als exzentrisch und ein wenig weltfremd. Doch er stand durchaus mit beiden Beinen fest auf der Erde, glaubte weder an Übersinnliches noch an Wahrsagerei. Daher konnte er sich die intensiven und überaus realistischen Gedanken- und Bilderfetzen nicht erklären, die ihn beim Anblick des Herrenhauses geradezu überfallen hatten. Vor dem Gebäude stehend, blieb ihm keine Zeit, sich diesem Phänomen weiter zu widmen, denn nun verlangte seine Frau Clara nach Aufmerksamkeit. »Was denkst du? Sollen wir kaufen? Ich finde vor allem die Lage und das Grundstück einfach wunderschön! Auch sonst habe ich nichts zu kritisieren. Wir werden viel renovieren müssen, aber finanziell hält sich das in Grenzen, wenn wir mit anpacken.« Natürlich sprach sie nicht über das Herrenhaus, sondern um das einige hundert Meter entfernt gelegene ehemalige Forsthaus, das sie zuvor besichtigt hatten und wo ihn eine erste Erinnerungstäuschung überrascht hatte. Sie wartete nicht, bis er antwortete. Im Grunde musste er keine Antwort geben, denn Claras Worte ließen erkennen, dass sie sich bereits für einen Kauf entschieden hatte. Alexander wies zwar gern von sich, unter ihrem Pantoffel zu stehen, musste aber zugeben, dass vorwiegend das getan wurde, was sie wollte. Ein Veto-Recht stand ihm prinzipiell zu – er verwendete es indes nur äußerst selten. Sie hatten überaus ähnliche Ansichten und einen ähnlichen Geschmack. Daher war sie meist in der Lage, ihn von ihrem Standpunkt zu überzeugen. Andererseits hatte sie sich die wenigen Male, wo er eine andere Meinung vertrat und partout ihre Sicht der Dinge nicht akzeptieren wollte, einsichtig und nachgiebig gezeigt. Der Immobilienmakler hatte erzählt, das bis vor kurzem ein altes Ehepaar im Forsthaus lebte. Als die Frau starb, habe sich der Witwer entschlossen, in ein Altersheim zu ziehen. Seither, es mochten zwei oder drei Monate her sein, stand das Haus zum Verkauf. »Sie könnten also sofort einziehen, wenn Sie möchten.« Zum Abschied hatte er ihnen noch ein ausführliches Exposé überreicht und einen Spaziergang sowohl durch die Ortschaft als auch zum Gutsgelände empfohlen. »Es wird viel getan, Sie werden überall Bauarbeiten sehen.« »Wir haben davon gelesen. Es ist einer der Gründe, warum wir überhaupt auf Hermannsheide aufmerksam geworden sind.« »Überdenken Sie Ihre Entscheidung ruhig gründlich, doch lassen Sie sich nicht allzu viel Zeit. Es gibt einige ernsthafte Interessenten für das Forsthaus. Es ist ja auch ein kleines Juwel. Und in der näheren Umgebung hätte ich sonst leider kein Objekt, das für Sie in Frage käme. Die Nachfrage ist hoch, seitdem in Hermannsheide so viel passiert.« Ähnliches verkündeten Immobilienmakler wohl bei jedem Verkaufsobjekt, doch in diesem Fall schien man ihm glauben zu können. Hermannsheide war zum beliebten Wohnort geworden und das Haus eine seltene und doch bezahlbare Gelegenheit. 2
Forsthaus
Nachdem Alexander sein sechzigstes Lebensjahr überschritten hatte – Clara war nur ein Jahr jünger –, hatten sie begonnen, nach einem Ort zu suchen, wo sie ein Haus kaufen und sich nach dem Ende ihrer Berufstätigkeit dauerhaft niederlassen könnten. Damals lebten sie in den Niederlanden, in Den Haag, um genau zu sein, wo Clara in einer europäischen Behörde tätig war, während Alexander als Informatiker und Spieleentwickler von zuhause arbeitete. Clara, Tochter eines deutschen Diplomaten, der alle vier Jahre in ein anderes Land versetzt worden war und später als Europäische Beamtin selbst von häufigem Wohnsitzwechsel betroffen, hatte nie ein Heimatgefühl entwickelt. Alexander hingegen liebte seine Heimat Schottland und fühlte sich dem Land im Innersten tief verwurzelt; es hatte ihn aber beruflich jahrzehntelang in andere Länder verschlagen, so dass er sich im Alter ein Leben in den Highlands oder einer der abgelegenen Inseln nicht mehr vorstellen konnte. Sie fuhren regelmäßig nach Schottland in Urlaub, doch dauerhaft dort leben – nein, das konnten sich beide nicht vorstellen. Daher fasste das Paar zunächst den Gedanken, ihren Lebensabend in den Niederlanden und am Meer zu verbringen, gab diesen Plan jedoch schnell und desillusioniert auf, als sie die Immobilienpreise kannten und sich eingestehen mussten, dass sie sich dort ein Haus nach ihrem Geschmack nicht würden leisten können. Clara las ihrem Mann eines Morgens aus einer der deutschen Zeitungen vor, die sie abonniert hatte. Die Rede war von einem aufsehenerregenden Projekt an der niederländisch-deutschen Grenze im Nordwesten, das die frühere Landarbeitersiedlung Hermannsheide zu neuem Leben erweckte, die sich in den letzten Jahrzehnten – wie so viele andere ländliche Siedlungen nicht nur in Deutschland – zu einem leblosen Schlafdorf ohne Infrastruktur zurückentwickelt hatte. Es hatte sich anscheinend ein potenter, geheimnisumwitterter Investor gefunden, der die im zweiten Weltkrieg bombardierte und seither im Dornröschenschlaf liegende Gutsanlage wieder aufgebaut hatte. Angefangen habe alles vor wenigen Jahren mit einer kleinen Anlage für altersgerechte Wohnungen. Sowohl auf dem weitläufigen Gutsbezirk mit dem herrschaftlichen Gutshaus als Mittelpunkt als auch dem angrenzenden Dorf hätten mittlerweile zahlreiche Bauvorhaben lebendige Arbeits-, Einkaufs-, Dienstleistungs- und Freizeitbereiche zwischen Generationenwohnanlagen, Pflegeheim, Grundschule und Kindertagesstätte entstehen lassen. Dazu habe man das frühere Ortszentrum neu gestaltet und den Dorfplatz zu neuem Leben zu erweckt, wo der alte Dorfgasthof nach jahrelangem Leerstand renoviert und um einen Anbau für einen Dorfladen erweitert wurde. Nun seien die Pläne weitgehend verwirklicht, abschließend würden noch einige Außenanlagen entstehen. Das alles hörte sich spannend und beeindruckend an, zumal das Projekt wegen seiner einzigartigen und mutigen Ansätze in- und ausländische Medienaufmerksamkeit erregte und sogar für den Deutschen Städtebaupreis und andere Auszeichnungen nominiert war. Die Neugierde des Ehepaars war geweckt. »Vielleicht finden wir dort unsere Heimat. Ich werde gleich die Immobilienseiten durchforsten und ein paar Makler anrufen. Was denkst du?« »Hm.« Clara war es gewöhnt, dass Alexander sich in solchen Situationen nicht weiter äußerte, sondern abwartete, was sie plante. Damit war er in all den Jahren ihrer Ehe gut gefahren. Es hatte ihm nicht nur viel Energie erspart, sondern auch entscheidend dazu beigetragen, dass...