E-Book, Deutsch, 341 Seiten
Carrère Yoga
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7518-0059-4
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 341 Seiten
ISBN: 978-3-7518-0059-4
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Alles beginnt gut: Emmanuel Carrère erfreut sich eines gelungenen Lebens und plant ein feinsinniges Büchlein über Yoga. Heiter und sachkundig will er seine Erkenntnisse über die »inneren Kampfkünste« darlegen, die er er seit einem Vierteljahrhundert praktiziert. Bei seinen Recherchen in einem Meditationszentrum läuftt noch alles bestens, doch dann wird er eingeholt: vom Tod eines Freundes beim Anschlag auf Charlie Hebdo, von unkontrollierbarer Leidenschaft , Trennung und Verzweiflung. Sein Leben kippt, eine bipolare Störung wird diagnostiziert und Carrère verbringt vier quälende Monate in der Psychiatrie, wo er versucht, seinen Geist mit Gedichten an die Leine zu legen. Entlassen und verlassen lernt er auf Leros in einer Gruppe minderjähriger Geflüchteter ganz anders Haltlose kennen, aber findet auch Trost durch Musik und Gespräch. Zurück in Paris stirbt sein langjähriger Verleger, und doch gibt es am Ende auch wieder Licht. Denn Yoga ist die Erzählung vom mal beherrschten, mal entfesselten Schwanken zwischen den Gegensätzen. Durch eine schonungslose Selbstanalyse zwischen Autobiografie, Essay, Chronik und Roman gelingt Carrère der Zugang zu einer tieferen Wahrheit: was es heißt, ein in den Wahnsinn der heutigen Welt geworfener Mensch zu sein.
Emmanuel Carrère, 1957 in Paris geboren, lebt als Schriftsteller, Drehbuchautor und Filmregisseur in Paris. Seine genresprengende Prosa wird in über 20 Sprachen übersetzt und wurde vielfach international ausgezeichnet, z.B. mit dem Prix Renaudot 2011, dem Europäischen Literaturpreis 2013, dem Premio FIL 2017 oder dem Prinzessin-von-Asturien-Preis 2021. Bei Matthes & Seitz Berlin erschienen die Dokumentarromane Der Widersacher, Alles ist wahr, Ein russischer Roman, Limonow und Das Reich Gottes sowie mehrere Essays.
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Vritti
Wie lange sitze ich schon auf meinem Zafu? Auf jeden Fall weniger als zwei Stunden, vielleicht anderthalb. Rein körperlich ist es okay, ich halte durch. Ich atme ruhig, es ist sogar ziemlich angenehm. Doch ich kann noch so ruhig atmen und die Tiefen meiner Nasenlöcher erkunden, das Gedankenkarussell dreht sich. Es dreht sich die ganze Zeit, meist macht man es sich kaum bewusst, doch bei der Meditation schaut man zu, wie es sich dreht. Man ist sich dessen etwas mehr bewusst, das ist ein Fortschritt. Welche Vritti haben die Oberfläche meines Bewusstseins gekräuselt, seit S. N. Goenka seine Art Raga beendet hat? Tja, wie Sie wissen, habe ich zuerst an Monsieur Ribotton gedacht, meinen Ex-Biolehrer. An Monsieur Ribotton und seine Anweisung für die praktischen Aufgaben. Sein Sohn war in derselben Klasse wie ich, er hieß Maxime. Maxime Ribotton: ein schwerer, duckmäuserischer, schwitzender Junge, der Polizeiinspektor werden wollte. Ich habe keine Ahnung, was aus ihm geworden ist, doch bei den meisten meiner Schulkameraden aus dem Lycée Janson habe ich keine Ahnung, was aus ihnen geworden ist. Aus den Augen, aus dem Sinn, selbst die, die mir besonders nahe gewesen sind, und ich nehme mir übel, diesen Jugendfreunden so wenig treu geblieben zu sein. Emmanuel Guilhen zum Beispiel, meinem besten Freund in der achten und neunten Klasse. Beide waren wir eifrige Leser von Charlie Hebdo, dessen spöttische Grundhaltung wir mochten und imitierten. Da wir nicht weit voneinander entfernt wohnten, trafen wir uns immer, um zusammen zur Schule zu gehen. Von der Rue Raynouard aus, in der ich wohnte, ging ich die Rue Vineuse hinauf, an deren Ende ich Emmanuel Guilhen traf, der selbst aus der Rue Franklin kam, und von da aus ging es immer geradeaus die Rue Scheffer, Rue Scheffer, Rue Scheffer entlang, auf der wir die Avenue Paul Doumer, die Rue Louis David und die Rue Cortambert überquerten, ruhige Straßen im wohlhabenden 16. Arrondissement, und auf der Avenue Georges Mandel mit ihren schönen Maronibäumen herauskamen, über die wir nur noch rüber mussten, um durch den Eingang an der Rue Decamps das Lycée Janson-de-Sailly zu betreten. Wie oft bin ich diesen Weg wohl gegangen? Zweimal am Tag, fünf Tage pro Woche, etwa dreißig Wochen im Jahr, und das sechs Jahre lang … Ich sehe den Weg genau vor mir. Er dauert etwa zwanzig Minuten, und ich könnte zwanzig Minuten damit verbringen, ihn im Geist abzulaufen. Ich sehe ebenso genau die Wohnung vor mir, in der ich aufgewachsen bin, in der meine Eltern aber schon lange nicht mehr wohnen. Wenn ich zurück bin, muss ich sie wieder einmal besuchen. Ich sehe sie nicht oft genug. Ich muss mit meinem Vater wieder einmal mittagessen gehen, so wie wir es eine Zeitlang gemacht haben, als wir einmal im Monat in ein Restaurant am Quai des Grands Augustins gegangen sind. Werde ich ihm erzählen, was ich in diesen zehn Tagen gemacht habe? Zehn Tage schweigend auf einem kleinen Kissen, um mich mit meinen Nasenlöchern zu beschäftigen – würde ihn das amüsieren? Würde es ihn interessieren, wenn es mir gelänge, ihm die Herausforderung dieses anscheinend grotesken Tuns zu beschreiben? Würde er sich Sorgen machen? Würde er denken, ich hätte mich in eine Sekte hineinziehen lassen? Das würde sicher meine Mutter denken, außer wenn ich ihr glaubhaft machen könnte, ich hätte es für ein Buch getan. Wenn es für ein Buch ist, ist alles in Ordnung, dann ist meine Mutter immer dafür. Ein Buch ist die Erlaubnis für alles. Als meine Schwestern und ich klein waren, sagte sie uns immer ganz entspannt, es sei nicht schlimm, wenn wir in der Schule schlecht seien, solange wir Bücher läsen. Auch wenn mein Vater sich beschwert, sein Gedächtnis lasse mit dem Alter nach, hat er ein unglaubliches Erinnerungsvermögen: Zum Einschlafen kann er sich bis ins kleinste Detail eine Wohnung vergegenwärtigen, in der er vor fünfzig Jahren gelebt hat, Zimmer für Zimmer, Wand für Wand, Bild für Bild, bis zum Inhalt der Schubladen. Ich mache vor dem Einschlafen manchmal etwas Ähnliches: Ich versuche, mir so genau wie möglich den vergangenen Tag in Erinnerung zu rufen. Bei dieser Übung darf man nicht zu schnell vorgehen und darf nicht zu viel zusammenfassen, sonst ist man in zwei Minuten fertig. Zum Beispiel so: aufstehen, Yoga machen, mit der Familie frühstücken, im Café de l’Église Patanjali lesen, arbeiten, mit Freund Olivier zu Mittag essen, weiterarbeiten, dann mit der Familie zu Abend essen, zwei Folgen von In Therapie schauen und ab ins Bett, um den Tag zu rekapitulieren. Geht man so vor, dann ist es aus, zu schnell aus. Aber man darf auch nicht zu langsam sein und nicht zu sehr ins Detail gehen, denn wenn man anfängt, jede Bewegung aufzuzählen, die man zum Beispiel beim Zubereiten des Frühstücks ausführt, kann sich das Ganze unendlich hinziehen und man kann ohne Übertreibung behaupten, dass ein ganzer Tag und vielleicht ein ganzes Leben nicht reichen, um die Viertelstunde, die man zum Zubereiten des Frühstücks braucht, umfassend zu beschreiben. Wie bei allem braucht es das richtige Maß. Es braucht eine Erzählung, die einigermaßen detailreich ist, aber nicht länger als, sagen wir, fünfzehn oder zwanzig Minuten. Zwanzig Minuten ist bei mir die durchschnittliche Dauer einer Meditationssitzung – eine gute Dauer, eine natürliche, so wie anderthalb Stunden für einen Film. Ich frage mich, ob eine solche Übung als eine Art Meditation angesehen werden kann oder ob sie das Gegenteil davon ist: etwas zu Gewolltes, zu Zwanghaftes. Zwanzig Minuten sind auch die Zeit, die man durchschnittlich braucht, um die Tai-Chi-Form auszuführen. Werde ich in meinem Buch über Tai-Chi sprechen? Ja, sicher. Natürlich gehören Erinnerungen an Tai-Chi in ein Buch über Yoga. Ich fasse den Begriff Yoga sehr weit: Auch Tai-Chi ist eine Form von Yoga. Auch Sex kann eine Form von Yoga sein. Werde ich von der Frau sprechen, die mir die Zwillinge geschenkt hat? Vom Licht im Hôtel Cornavin? Mit Sicherheit werde ich noch einmal vom Bardo sprechen und, apropos Bardo, von einer phantastischen Kurzgeschichte, die ich als Jugendlicher gelesen habe und die mich sehr beeindruckt hat und mir vage, aber stark, als ebenso heftige Darstellung des Bardo in Erinnerung geblieben ist wie Ubik von Philip K. Dick. Ihr Verfasser heißt George Langelaan, man kennt ihn (ein wenig) für seine Erzählung Die Fliege, von der es zwei großartige Verfilmungen gibt, einmal natürlich die von Cronenberg, aber auch eine alte kleine B-Serie mit Vincent Price. Ich denke an all die phantastischen Erzählungen, die ich seit meiner Jugend gelesen habe und die weiter ihren festen Platz in meinen Gedanken haben. Ich habe nicht eine davon vergessen. Warum mag ich so was so sehr? Warum spricht mich das so an? Warum helfen mir solche Geschichten, meine eigene zu verstehen? Ich habe dieses Faible meinen Söhnen vererbt, und manchmal frage ich mich besorgt, warum auch sie so empfänglich dafür sind. Kann Meditation den Horror, der unter der Oberfläche meines Lebens lauert, in Schach halten? Kann Meditation auf jede Art von menschlicher Erfahrung Einfluss nehmen oder gibt es Schwellen, die sie nicht überschreiten kann? Was kann sie bei Leuten ausrichten, die von ihrem Körper oder ihrer Psyche im Stich gelassen wurden? Es gibt die Vorstellung, dass jemand, der in einen Abgrund gestürzt ist – wie Multiple Sklerose, Schizophrenie, Locked-in-Syndrom, extreme psychische Not –, seine hoffnungslose Situation mithilfe von Meditation in den Griff kriegen kann. Dieses unbewohnbare Selbst bewohnen lernen kann. Es gibt Beispiele dafür: Stephen Hawking etwa, habe ich gelesen, hat einmal gesagt, durch Meditation sei es ihm möglich gewesen, im Gefängnis seines gelähmten Körpers zu leben. Wäre ich mit so was konfrontiert, würde ich, glaube ich, zusammenbrechen und mich nur noch umbringen wollen. Ich frage mich, wie Meditation bei einem Schizophrenen aussehen könnte. Was es heißt, sich ganz bewusst ins eigene Innere zu versenken, wenn das eigene Innere bedrohliches Feindesland ist und der Ort namenlosen Grauens. Eines namenlosen, endlosen, grenzenlosen Grauens, das nie aufhört und den gesamten Raum einnimmt, nämlich 100 % der mentalen Torte, von der Chögyam Trungpa behauptet, wir widmeten nur 20 % der Gegenwart. Woher nimmt Chögyam Trungpa eigentlich diesen Prozentsatz? Er ist natürlich absurd, trotzdem interessiert er mich. Alles, was die geistige Aktivität besser zu verstehen und darzustellen hilft, interessiert mich. Ich habe mich schon immer für meine geistige Aktivität interessiert und daraus sogar einen Beruf gemacht. Als ich vor sehr langer Zeit meine ersten Schritte in diesem Beruf machte, stieß ich in einem Buch auf einen Rat für angehende Schriftsteller, den ein gewisser Ludwig Börne erteilt hat, eine Nebenfigur der deutschen Romantik. Sein Absatz ist genau wie Glenn Goulds Satz über den Zustand der Gelassenheit und des Staunens eine Art Mantra, das mich schon mein Leben lang begleitet: »Nehmt einige Bogen Papier und schreibt drei Tage hintereinander ohne Falsch und Heuchelei alles nieder, was...