E-Book, Deutsch, 364 Seiten
Carrère Ich lebe und ihr seid tot
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7518-1009-8
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Parallelwelten des Philip K. Dick
E-Book, Deutsch, 364 Seiten
ISBN: 978-3-7518-1009-8
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Philip K. Dick (1928-1982) gehört zu den einflussreichsten US-amerikanischen Autoren des 20. Jahrhunderts. Seine Romane und Kurzgeschichten wurden nicht nur vielfach verfilmt - Blade Runner, Total Recall und Minority Report waren internationale Kinoerfolge -, sondern dienten unzähligen anderen Autoren, darunter Emmanuel Carrère, als Inspirationsquelle. Zeit seines Lebens trieb Dick die Frage um, welche inneren und äußeren Mächte unser Denken, Fühlen und Handeln lenken. In den phantastischsten Szenarien malte er aus, welche verheerenden Auswirkungen es hat, wenn ein Mensch sich dessen, was er glaubt, sieht oder weiß, nicht mehr sicher sein kann, ja wenn er sich fragen muss, ob er überhaupt ein Mensch ist. Seine 1977 in einer legendären Rede geäußerte Mutmaßung, wir lebten in der Simulation einer Künstlichen Intelligenz, lässt sich in ihrer prophetischen Kraft erst heute wirklich ermessen. Doch waren seine mystischen Visionen und seine Überzeugung, von FBI und KGB beschattet zu werden, nur auf drogeninduzierte Psychosen zurückzuführen, oder »erinnerte« er sich wirklich an eine parallele Gegenwart, die anderen verborgen war? Emmanuel Carrère erzählt Dicks Leben vom Plattenverkäufer bis zum selbsternannten Messias in einem Amerika, das schon vor Jahrzehnten von Paranoia und Spaltung geprägt war, als leichtfüßigen, hypnotischen Roman. Er legt dabei erstaunliche Lesarten für die Gegenwart und die aktuelle Rolle von Technik und Macht frei und wirft existenzielle Fragen auf, die bis zu den Wurzeln der westlichen Zivilisation reichen.
Emmanuel Carrère, 1957 in Paris geboren, lebt als Schriftsteller, Drehbuchautor und Filmregisseur in Paris. Seine genresprengende Prosa wird in über 20 Sprachen übersetzt und wurde vielfach international ausgezeichnet, z.B. mit dem Prix Renaudot 2011, dem Europäischen Literaturpreis 2013, dem Premio FIL 2017 oder dem Prinzessin-von-Asturien-Preis 2021. Bei Matthes & Seitz Berlin erschienen die Dokumentarromane Der Widersacher, Alles ist wahr, Ein russischer Roman, Limonow und Das Reich Gottes sowie mehrere Essays.
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Grüne Männchen
Als Dick sich mit vierundzwanzig Jahren zum professionellen Science-Fiction-Autor erklärte, hätte er nie geglaubt, dass diese Entscheidung sein ganzes Leben bestimmen würde. Aus seiner Sicht hatte er einfach eine Gelegenheit ergriffen und vorläufig angemessen auf eine ebenso vorläufige Situation reagiert. Nachdem er bereits eine akademische Karriere für sich ausgeschlossen hatte, waren ihm durch seine gesammelten Phobien auch die meisten anderen Berufe versagt, die einem normalen amerikanischen Erwachsenen zur Auswahl gestanden hätten. Zumindest das hatten ihm die Tests gezeigt. Er wusste zwar, dass er sie hätte manipulieren und für die Dauer eines Bewerbungsgesprächs den seriösen jungen Mann geben können, den ein Personalchef ohne zu zögern einstellt, doch er hätte seine Umgebung nicht Tag für Tag in einem Büro täuschen können. Im Übrigen hatte er auch keinerlei Bedürfnisse, die ein Büroleben hätte befriedigen können. Zwar zog ihn die Macht an, auch wenn er es nicht zugeben wollte, aber sicherlich nicht die, die ein mittlerer Angestellter auf seine Untergebenen oder ein leitender Angestellter auf seine mittleren Angestellten ausübt. Was das White-collar-Leben anging, das die Werbung einem Land als erstrebenswert hinstellte, das erst seit Kurzem seine Wirtschaftskraft entdeckt hatte, so konnte ein Berkeley-Bewohner die Brown’sche Bewegung dieser lächelnden Roboter mit Krawatte nur als grotesk ansehen, die frühmorgens in ihrem Vorstadtzug alle dasselbe Aftershave ausdünsteten und abends, nachdem sie sich kurz für nichts aufgeregt hatten, zu ihren Vorstadthäusern und blonden, lächelnden Ehefrauen zurückkehrten, die ihnen einen Martini reichten und alle mit derselben Stimme fragten: »Und, Darling, hattest du einen schönen Tag?« Da kultivierte man doch lieber seine Schrulligkeit und insbesondere seine pubertäre und etwas regressive Vorliebe für Science-Fiction, denn dafür gab es einen geradezu explodierenden Markt, der offen genug war, um einem jungen Schriftsteller, dessen »literarische« Texte niemand haben wollte, ein Auskommen zu ermöglichen – das zwar mickrig war, okay, aber ausreichte, um seine Fingerübungen zu machen und den einzigen Beruf zu erlernen, der seinen Ansprüchen entsprach. Natürlich musste man das Spiel mitspielen, das heißt im Akkord produzieren und Kürzungen, unmögliche Titel und grelle Illustrationen akzeptieren, auf denen grüne Männchen mit Stielaugen zu sehen waren. Hätte man die Bibel in einem Science-Fiction-Verlag herausgebracht, scherzte Boucher, wären es zwei Bände mit je zwanzigtausend Wörtern gewesen, wovon der erste, das Alte Testament, Der Meister des Chaos und der zweite Das Ding mit den drei Seelen geheißen hätte. Aber das Ganze war ja kein Dauerzustand, hoffte Dick. Bald würde man seine Erzählungen im New Yorker lesen, seine echten Bücher würden bei echten Verlagen herauskommen und echte Kritiken erhalten, man würde über ihn sprechen wie über Norman Mailer oder Nelson Algren, und diese unrühmliche Lehrzeit würde seiner Biografie nur den ordinären Touch verleihen, der einem großen amerikanischen Romanautor geziemt. Das Eigenartige ist, dass genau das nicht passierte. Seine »ernsthaften« Werke, die Mainstream-Bücher, wie man in Amerika sagt, waren vielleicht nicht besonders gut, aber es wurden auch wesentlich schlechtere veröffentlicht, und wenn so viele Schriftsteller als Entdeckungen gefeiert werden, bevor man sie wieder vergisst, hätte eigentlich auch Dick seine Chance bekommen und im eigentlich gar nicht so verschlossenen Salon der bürgerlichen Literatur seine kleine Runde gedreht haben müssen, so wie jeder. Doch irgendetwas stand ihm im Weg, und dieses Etwas hielt er zunächst für unerklärliches Pech und dann, aber erst viel später, für ein Zeichen einer unvergleichlich höheren Berufung. In den Fünfzigerjahren schrieb er neben circa vierundzwanzig Science-Fiction-Erzählungen und sieben SF-Romanen nicht weniger als acht Mainstream-Romane, von denen kein einziger publiziert wurde. Diese Schlappe konnte Kleo jedoch nicht entmutigen; sie glaubte an den Mythos des verkannten Künstlers und des lustigen Bohemelebens: Ein Künstler musste mit seiner Art von Geist unverstanden sein, zumindest am Anfang, und das Bohemeleben musste lustig sein, so wie Soldaten brutale, tressenbesetzte Tiere und Hollywoodfilme dumme, kommerzielle Maschinen sein mussten. Wenn sie die Absageschreiben, die in einem alarmierenden Rhythmus in ihrem Briefkasten eintrafen, an die Wand pinnte – an einem Tag fanden sie siebzehn davon auf einmal vor –, zweifelte sie nicht eine Sekunde lang daran, damit zum einen die Dummheit der Zombies in grauen Anzügen zur Schau zu stellen, die in der Verlagswelt das Sagen hatten, und zum anderen die Originalität ihres Mannes, die bald schon erkannt werden würde. Die Zeitungen begannen von der beat generation zu sprechen und damit ein plausibles Vorbild für die Figur des aufsässigen, saloppen Schriftstellers zu liefern, dessen Uniform Phil zumindest trug: Jeans, Holzfällerhemd und alte Armeestiefel. Kleo träumte vom Ruhm eines Jack Kerouac für ihn, und die seltenen Male, die sie gemeinsam mit Phil auf die andere Seite der Bay nach San Francisco fuhr, versuchte sie, ihn in die kleinen, verrauchten Cafés von North Beach zu lotsen, wo die Beatniks Jazz hörten und bis spätnachts aus ihren Büchern lasen. Doch leider mochte Phil weder die andere Seite der Bay noch verrauchte Cafés und ebenso wenig Jazz oder Schriftstellerstelldicheins. Er hatte panische Angst, dass jemand ihn fragen würde, was er denn geschrieben habe, denn er kannte das überhebliche Lächeln, mit dem auch der obskurste veröffentlichte Dichter auf das Genuschel reagierte, in dem Phil die Wörter »Science-Fiction« zu ertränken versuchte. Da er weniger zuversichtlich und weniger schnell empört war als seine Frau, hegte Phil seine Zweifel, ob Erfolglosigkeit wirklich das Stigma des Genies sei, und weil er Kleo nicht zu bitten wagte, die Trophäen seiner Erfolglosigkeit abzuhängen – »was«, hätte sie gerufen, »sag bloß, du schämst dich?« –, wandte er nur seinen unglücklichen Blick ab, sobald er auf diese Mauer der Ablehnung blickte. Lieber zog er, wenn er allein war, den völlig unbedeutenden Brief eines Mainstream-Romanautors namens Herb Gold aus der Brieftasche und betrachtete ihn wie eine Reliquie. Auch wenn Phil ihn kaum kannte, hatte dieser die Güte gehabt, ihn »lieber Kollege« zu nennen, als sei auch er ein echter Schriftsteller. Die Abwertung, die er im Beisein derer empfand, die er gern als seinesgleichen betrachtet hätte, verspürte er bald auch in Gesellschaft von normalen Leuten, solchen, die Karriere machten, in schönen Häusern wohnten und Geld verdienten. Natürlich hätte er auf ihren Erfolg herabsehen können, so wie Kleo, doch er wusste, dass sie ihrerseits auf sein Scheitern herabsahen. Der Stolz, sich freischaffend nennen zu können und es keinem Chef recht tun zu müssen, fiel angesichts der ständigen Demütigung der Armut für ihn kaum ins Gewicht. In der Nähe ihres Hauses gab es einen Laden für Hundefutter, The Lucky Dog Pet Store, wo er manchmal Pferdefleisch kaufen ging, das in Amerika nicht als Nahrungsmittel für Menschen galt. Eines Tages musterte ihn der Verkäufer und nagelte ihn mit einem Satz auf den Status des Losers fest: »Zumindest essen sie das ja nicht selbst, oder?« Als Phil Kleo davon erzählte, brach sie in Lachen aus, und um ihn zu trösten, erklärte sie ihm, was sein Vorname auf Griechisch bedeutet: Philippus, derjenige, der die Pferde liebt. Aber, fragte er, musste diese Liebe zu den Pferden denn so weit gehen, dass er ihr Fleisch aß? Hätte sie ihn, ganz im Gegenteil, nicht in Angst und Schrecken versetzen und davon abhalten müssen? Die Hindus essen keine Kühe, weil sie sie als heilige Tiere verehren; die Juden dagegen essen kein Schwein, weil sie es für ein schändliches Tier halten. Im Sinne der vergleichenden Religionswissenschaft konnten also beide Thesen Gültigkeit beanspruchen, schlussfolgerten sie. Dennoch aßen sie weiter Pferd, und dennoch war das im Kalifornien von 1955 eine Nahrung von Aussätzigen. Aus der Zeit, als Phil noch einen anderen Beruf hatte, war ihm die Gewohnheit geblieben, in der Nacht zu schreiben. Morgens spazierte er in einem immer kleiner werdenden Radius um sein Haus und schaute die Kisten mit verbilligten Schallplatten durch, vor allem aber saß er in seinem brachliegenden Gärtchen und las, statt in seinem Haus herumzuwerkeln, wie es sicher sein Nachbar getan hätte, wenn dieser über seine Zeit hätte frei verfügen können. Wenn er zur Arbeit fuhr, warf er Phil einen scheelen, misstrauischen Blick zu, und wenn er weg war, warf Phil heimlich einen...