E-Book, Deutsch, 524 Seiten
Carrère Das Reich Gottes
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-95757-294-3
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 524 Seiten
ISBN: 978-3-95757-294-3
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Emmanuel Carrère, 1957 in Paris geboren, lebt als Schriftsteller, Drehbuchautor und Filmregisseur in Paris. Seine genresprengende Prosa wird in über 20 Sprachen übersetzt und wurde vielfach international ausgezeichnet, z.B. mit dem Prix Renaudot 2011, dem Europäischen Literaturpreis 2013, dem Premio FIL 2017 oder dem Prinzessin-von-Asturien-Preis 2021. Bei Matthes & Seitz Berlin erschienen die Dokumentarromane Der Widersacher, Alles ist wahr, Ein russischer Roman, Limonow und Das Reich Gottes sowie mehrere Essays.
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I
Eine Krise
(Paris, 1990-1993)
1
In den Memoiren von Casanova gibt es eine Passage, die ich sehr mag. Eingesperrt in den düsteren, feuchten Bleikammern von Venedig entwirft Casanova einen Fluchtplan. Er hat alles, was er braucht, um diesen Plan in die Tat umzusetzen, außer eines: Werg. Er braucht die Fasern, um ein Seil zu drehen – oder eine Zündschnur für einen Sprengkörper, ich weiß nicht mehr genau –, das Entscheidende ist: Wenn er es findet, ist er gerettet, wenn nicht, ist er verloren. Doch Werg liegt in einem Gefängnis nicht eben so herum. Da erinnert sich Casanova plötzlich, dass er bei der Anfertigung seiner Anzugjacke den Schneider gebeten hatte, das Futter unter den Achseln mit einer schweißbindenden Füllung zu versehen, und zwar aus … raten Sie mal? Werg! Er, der die Kälte des Gefängnisses verfluchte, gegen die ihn seine dünne Sommerjacke so schlecht schützt, begreift: Die Vorsehung wollte, dass er genau in dieser Jacke festgenommen wurde. Jetzt hängt sie da, vor ihm, auf einem Haken an der abblätternden Wand. Er schaut sie mit klopfendem Herzen an: Im nächsten Moment wird er die Nähte aufreißen und im Futter wühlen, und dann gehört ihm die Freiheit wieder! Doch gerade als er sich über die Jacke hermachen will, hält ihn eine Befürchtung zurück: Was, wenn der Schneider seiner Aufforderung aus Schlampigkeit nicht nachgekommen ist? Normalerweise wäre das nicht schlimm. Jetzt allerdings wäre es eine Tragödie. Es steht so viel auf dem Spiel, dass Casanova sich auf die Knie wirft und zu beten beginnt. Mit einer Inbrunst, die er seit Kindertagen nicht mehr von sich kannte, betet er zu Gott, der Schneider möge tatsächlich Werg in seine Jacke genäht haben. Gleichzeitig steht sein Verstand nicht still. Er sagt ihm: Was soll’s. Entweder ist welcher da oder es ist keiner da, und wenn es so ist, werden auch seine Gebete nichts nützen. Gott wird kein Werg hineinzaubern oder den Schneider rückwirkend zu einem gewissenhaften Menschen machen, wenn er keiner war. Doch diese logischen Einwände hindern Casanova nicht daran, wie ein Besessener zu beten – und er wird nicht herausbekommen, ob sein Gebet dafür irgendwie von Nutzen war, jedenfalls befindet sich schließlich wirklich Werg in seiner Jacke. Er flüchtet.
Für mich stand weniger auf dem Spiel, und ich habe auch nicht auf Knien gebetet, ich möge die gesammelten Zeugnisse meiner christlichen Phase im Zimmer von Jean-Claude Romand finden, aber sie waren tatsächlich dort. Nachdem ich die achtzehn in rote und grüne Pappdeckel eingebundenen Hefte aus dem Karton gezogen hatte, schlich ich um sie herum wie die Katze um den heißen Brei. Als ich mich endlich durchrang, das erste zu öffnen, fielen zwei zusammengefaltete, maschinengeschriebene Blätter heraus, auf denen ich Folgendes las:
Absichtserklärung von Emmanuel Carrère zu seiner Hochzeit mit Anne D. am 23.Dezember 1990.
»Anne und ich leben seit vier Jahren zusammen. Wir haben zwei Kinder. Wir lieben uns und sind uns dieser Liebe so sicher, wie man es nur sein kann.
Wir waren es auch schon vor ein paar Monaten, als uns eine kirchliche Heirat noch nicht notwendig erschien. Wir gingen einer solchen nicht etwa aus dem Weg, weil wir keine Verpflichtung eingehen oder irgendetwas aufschieben wollten. Im Gegenteil, wir betrachteten uns als einander verpflichtet und dazu bestimmt, in guten wie in schlechten Zeiten miteinander zu leben, zu reifen und alt zu werden, und somit einer von uns dazu berufen, den Tod des anderen zu ertragen.
Unabhängig von jedem religiösen Glauben war ich überzeugt, dass die Herausforderung eines gemeinsamen Lebens darin besteht, durch das Erkennen des anderen sich selbst zu erkennen und beim anderen dieselbe Erfahrung zu unterstützen. Ich meinte, das Reifen des einen sei die Bedingung für das Reifen des anderen und Annes Wohlergehen anzustreben liefe darauf hinaus, für mein eigenes zu sorgen – welches ich, zugegeben, nicht aus den Augen verlor. Ich begann sogar zu ahnen, dass dieses gemeinsame Reifen nach bestimmten Gesetzen geschieht, nämlich denen der Liebe, wie sie Johannes der Täufer beschreibt: ›Sie muss wachsen, ich aber muss schrumpfen.‹
Ich hatte aufgehört, in diesen Worten den Bodensatz eines Masochismus zu sehen, bei dem der andere nur erhoben werden kann, wenn man sich selbst erniedrigt. Ich hatte verstanden, dass ich mehr an Anne, ihr Glück und ihre Selbstverwirklichung denken musste als an mich selbst – denn je mehr ich an sie denken würde, desto mehr würde ich für mich tun. Ich entdeckte letztlich eines der Paradoxe, die das Christentum ausmachen und die Weisheit dieser Welt als Torheit bloßstellen, nämlich: dass man gut daran tut, seine eigenen Interessen zu vernachlässigen und sich selbst aus dem Blick zu verlieren, um sich zu lieben.
Das fiel mir schwer. All unsere Nöte haben ihre Wurzel in der Selbstliebe, und die meine ist besonders tyrannisch – was durch die Ausübung meines Berufs noch begünstigt wird (ich schreibe Romane, einer jener »wahnwitzigen Berufe«, sagte Paul Valéry, bei dem man auf das eigene Selbstbild und dessen Veräußerung setzt). Natürlich bemühte ich mich, diesem Pfuhl aus Angst, Eitelkeit, Selbsthass und Eigensucht zu entkommen, aber in meinen Versuchen glich ich dem Baron von Münchhausen, der an den eigenen Haaren reißt, um sich aus dem Sumpf zu ziehen.
Ich hatte immer geglaubt, nur auf mich zählen zu können. Der Glaube, auf dessen Weg ich erst vor wenigen Monaten geführt worden bin, befreite mich von dieser erschöpfenden Illusion. Ich verstand plötzlich, dass es uns gegeben ist, zwischen Leben und Tod zu wählen, dass Christus das Leben ist und sein Joch leicht. Seitdem empfinde ich beständig diese Leichtigkeit und warte darauf, dass auch Anne davon angesteckt wird und dem Gebot des heiligen Paulus, immer frohen Muts zu sein, so folgt, wie auch ich ihm gern folgen möchte.
Ich glaubte damals, unsere Beziehung und ihr Bestand hänge nur von uns ab, von unserer freien Entscheidung und unserer Redlichkeit. Ich wollte nichts anderes zustande bringen als ein liebevolles Zusammenleben mit Anne, aber ich zählte dabei nur auf unsere eigenen Kräfte und fürchtete mich natürlich vor deren Versagen. Ich weiß jetzt, dass nicht wir dieses Leben in Liebe zuwege bringen, sondern Christus in uns.
Deshalb ist es mir nun wichtig, unsere Liebe in seine Hände zu legen und ihn um die Gnade zu bitten, sie wachsen zu lassen.
Deshalb betrachte ich auch unsere Heirat als meinen wahren Eintritt in ein Leben mit den Sakramenten, von dem ich seit meiner Erstkommunion aus, sagen wir, Zerstreuung abgekommen war.
Deshalb erachte ich es außerdem für bedeutsam, dass uns ein Priester traut, dem ich zum Zeitpunkt meiner Bekehrung begegnet bin. Als ich in seiner Messe saß, für mich die erste seit zwanzig Jahren, wurde mir die Notwendigkeit einer kirchlichen Heirat bewusst und ich hielt es für passend, den Hochzeitssegen von ihm in Kairo zu erhalten. Ich bin der Gemeinde und dem Bischof, dem ich nun unterstehe, sehr dankbar, Verständnis für diesen Wunsch zu zeigen, der, wenn er auch sentimental ist, keiner bloßen Laune entspringt.«
2
Natürlich hat es mich erschüttert, diesen Text wiederzulesen. Vor allem trifft mich, dass er mir von der ersten bis zur letzten Zeile falsch zu klingen scheint und ich dennoch keinen Anlass habe, an seiner Aufrichtigkeit zu zweifeln. Zudem ist derjenige, der ihn vor zwanzig Jahren verfasst hat, abgesehen von seiner religiösen Inbrunst nicht so verschieden von dem, der ich heute bin. Sein Stil kommt ein bisschen salbungsvoll daher, dennoch ist es meiner. Wenn man mir heute den Anfang eines dieser Sätze gäbe, würde ich ihn auf dieselbe Weise beenden. Vor allem ist der Wunsch nach einer verbindlichen und dauerhaften Liebesbeziehung noch immer der gleiche. Es hat sich nur die Adressatin dieses Wunsches geändert. Seine jetzige passt besser zu mir, und ich muss mich nicht so sehr zwingen, um daran glauben zu können, dass Hélène und ich auf friedliche und sanfte Art zusammen altern werden; aber was ich heute für das Rückgrat meines Lebens halte oder halten will, hielt ich auch schon vor zwanzig Jahren dafür oder wollte es tun, und zwar in fast identischen Begriffen.
Dennoch gibt es etwas, worüber ich in diesem Brief nicht spreche und was doch sein Hintergrund ist, nämlich, dass Anne und ich sehr unglücklich waren. Wir liebten uns, das schon, aber wir liebten uns schlecht. Wir hatten beide gleichermaßen Angst vor dem Leben und waren beide fürchterlich neurotisch. Wir tranken zu viel, liebten uns wie Ertrinkende, und jeder von uns neigte dazu, den anderen für sein Unglück verantwortlich zu machen. Bereits seit drei Jahren war es mir nicht mehr gelungen zu schreiben – was ich damals als den einzigen Grund für mein Erdendasein ansah. Ich...