Carrier | Wissenschaftstheorie zur Einführung | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 192 Seiten

Reihe: zur Einführung

Carrier Wissenschaftstheorie zur Einführung


1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-96060-090-9
Verlag: Junius Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

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Reihe: zur Einführung

ISBN: 978-3-96060-090-9
Verlag: Junius Verlag
Format: EPUB
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Wissenschaftliches Wissen ist besonders streng geprüftes Wissen, das sich von der bloßen Meinung abheben soll. Dieser Anspruch beruht auf der methodischen Prüfung wissenschaftlicher Behauptungen an der Erfahrung. Wesentlicher Teil der Wissenschaftstheorie ist die Methodenlehre, die sich damit befasst, welche Verfahren der Prüfung in der Wissenschaft akzeptiert sind und in welchem Zusammenhang sie mit dem wissenschaftlichen Erkenntnisanspruch stehen. Im Mittelpunkt dieser Einführung stehen daher die Verfahren der Geltungssicherung in der Wissenschaft in ihrem historischen Wandel. Wichtige Herausforderungen für die Methodenlehre ergeben sich u.a. daraus, dass Wissenschaft ihr Erkenntnisziel im Spannungsfeld von gesellschaftlichen Nutzenerwartungen und Wertvorgaben verfolgen muss.

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2. Empirische Prüfung und Bestätigung in der methodologischen Tradition
Nach verbreitetem Verständnis versorgt uns die Wissenschaft mit Wissen erhöhter Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit. Diese Erkenntnisleistung wird häufig darauf zurückgeführt, dass sich die Wissenschaft auf Erfahrung stützt, was aber die weitere Frage aufwirft, wie sich denn Hypothesen und Theorien auf Erfahrung stützen lassen. Das Problem ist also die Beschaffenheit von empirischer Prüfung und Bestätigung in der Wissenschaft. Erläutern lässt sich dieses Problem mit einer historischen Skizze, die um die Begriffe »induktive« und »hypothetisch-deduktive« Prüfung kreist. Es handelt sich dabei um Zentralbegriffe aus der Geschichte der Methodenlehre zwischen dem 17. und der Mitte des 20. Jahrhunderts. Induktive Methoden verlangen, dass Hypothesen von den Daten nahegelegt werden; hypothetisch-deduktive Methoden gewähren der Bildung von Hypothesen volle Freizügigkeit und orientieren deren Beurteilung ausschließlich an ihren beobachtbaren Folgen. Induktive Methoden wollen wissenschaftliche Hypothesen an den Kreis der Beobachtungen und des Beobachtbaren gebunden sehen; hypothetisch-deduktive Methoden lassen Vermutungen über Unbeobachtbares ohne weiteres zu und stellen Anforderungen an strenge, aussagekräftige empirische Prüfungen solcher Vermutungen. Die Darstellung der Induktion orientiert sich an Francis Bacon und John S. Mill. Bacon hat das Bild der induktiven Methode in wichtiger Hinsicht geprägt, bei Mill stehen die von ihm entworfenen Methoden zur empirischen Ermittlung von Kausalverhältnissen im Vordergrund. Pierre Duhem erklärte die hypothetisch-deduktive Methode zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur einzigen Methode wissenschaftlicher Prüfung und Bestätigung und erkundete ihre Grenzen. Karl Popper schließlich verpflichtete die Methodenlehre auf das genaue Gegenbild zu Bacon. 2.1 Bacons Projekt einer authentischen Wissenschaft
Francis Bacon (1561–1626) war der erste Philosoph der neuzeitlichen Naturwissenschaften. Sein Novum organon scientiarum von 1620 stellt eine Art Gründungsdokument der Wissenschaftstheorie dar, in dem Bacon der aufkeimenden Naturwissenschaft die systematische Berücksichtigung der Erfahrung auferlegt. Die Wissenschaft muss von den Tatsachen ausgehend wie auf einer Leiter bedächtig von Stufe zu Stufe erst zu den mittleren und schließlich zu den höchsten Grundsätzen aufsteigen und sich dabei stets vergewissern, dass sie nichts überspringt, dass sie nicht dem Flug einer Fantasie anheim fällt, die den Gipfel in einem Sprung nimmt (Bacon 1620, I. §104). Nicht der Mensch darf der Natur seine Begriffe auferlegen, diese müssen vielmehr aus der umsichtigen und vorurteilslosen Beobachtung entspringen und von der Natur gleichsam autorisiert sein. Zwei Beiträge Bacons zur Philosophie der Wissenschaften waren von erheblichem Einfluss auf die geistesgeschichtliche Entwicklung, betreffen aber nicht die Methodenlehre im engeren Sinn und sollen daher nur kurz angerissen werden. Erstens fasst Bacon die Wissenschaft als ein systematisches Unternehmen nicht allein in methodischer, sondern auch in organisatorischer Hinsicht auf. Er verfolgt das Ziel, die isolierte Arbeit einzelner Denker durch intensive Kooperation einer Vielzahl von Wissenschaftlern zu ersetzen. Die Dynamik der Erkenntnisgewinnung soll durch Arbeitsteilung und zentrale Steuerung gesteigert werden. Bacon wird damit zum ersten Anwalt organisierter Großforschung, zum Erfinder von »Big Science«. Zweitens ist für Bacon ein neues Bewusstsein des Fortschritts charakteristisch, das die Menschheit seitdem nicht wieder verloren hat. Bei Bacon herrscht das Selbstverständnis des Pioniers vor: Die Wissenschaft wagt einen Neuanfang, sie führt nicht einfach eine Tradition fort. Natürlich hatte man bereits im Mittelalter Neues gefunden, aber die literarische Form der Gelehrsamkeit war stets der Kommentar gewesen. Dem entspricht ein Verständnis von Wissenschaft als Erläuterung und Klärung des intellektuellen Erbes der Antike. Das ist bei Bacon anders. Mit ihm wird die Neuzeit gewahr, dass sie die Antike überflügelt hat. Dadurch gewinnt der Gedanke des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts erstmals klare Gestalt. In der Wissenschaft geht es vor allem darum, Neues aufzufinden und zu erfinden, nicht allein darum, das im Grundsatz Bekannte weiter zu erläutern (Bacon 1620, I. §§81, 84, 129). Bacons Methodenlehre konzentriert sich auf drei Schritte. Erstens fußt alles Wissen auf vorurteilsfreien Beobachtungen. Bacons Theorie der »Idole« oder Trugbilder soll die Umsetzung des Ideals der Unvoreingenommenheit anleiten. Zweitens beruhen alle legitimen Hypothesen auf sorgfältigen Verallgemeinerungen solcher Beobachtungen. Bei diesem induktiven Schritt zu umfassenderen Grundsätzen kommt es vor allem auf die Vermeidung voreiliger Schlüsse an. Übersichten des gemeinsamen und getrennten Auftretens von Erscheinungen, die Methode der Tabulae, sollen verlässliche Urteile über die jeweiligen Erfahrungsbereiche begründen. Drittens tritt die Prüfung von Verallgemeinerungen durch Ableitung und Untersuchung weiterer Sachverhalte hinzu. Hierzu zählen insbesondere die so genannten Experimenta crucis, die von prägendem Einfluss auf die Methodenlehre der nachfolgenden Jahrhunderte waren. Kennzeichen von Bacons Methodenlehre und deren Erbschaft an die Nachwelt ist, dass bereits die Bildung von Hypothesen der Bindung an die Erfahrung unterliegt. Das induktivistische Selbstverständnis wird durch diese Bindung geprägt. Danach sind ausgreifende Spekulationen verpönt und gelten der Tendenz nach als unwissenschaftlich. Voreiligkeit ist der Feind aller Erkenntnis. Seriöse Wissenschaft bleibt möglichst nahe an dem, was aus dem Bereich der Beobachtungen bekannt ist. Auf diese drei Aspekte, also die Ermittlung der Tatsachenbasis, die Angabe induktiver Verallgemeinerungen und die deduktive Prüfung von Wissensansprüchen, soll im Folgenden kurz eingegangen werden. 2.1.1 Die Ermittlung der Tatsachenbasis: Vorurteilsfreiheit Bacons Anliegen besteht in der Sicherung der Autorität der Sinneswahrnehmung. Dazu sollen Erkenntnishindernisse, störende Einflüsse, die dem Geist des Beobachters entspringen, benannt und beseitigt werden. Ein wichtiger Schritt auf diesem Weg ist die Vermeidung von Vorurteilen. Die Idola-Lehre rückt Typen von Vorurteilen ins Rampenlicht, die zur Unvollkommenheit des menschlichen Wissens beitragen und daher zu vermeiden sind. Bei den »Vorurteilen der Gattung« (idolae tribus) handelt es sich z.B. um Störungen durch allgemeine Eigenschaften des menschlichen Geistes. Der Mensch neigt etwa dazu, Bestätigungen vorgefasster Meinungen weit mehr Aufmerksamkeit zu schenken als deren Erschütterungen. Zwar wird er gewahr, wenn sich seine Erwartungen bewahrheiten, nicht aber, wenn sie fehlgehen. Die »Vorurteile der Höhle« (idolae specus) betreffen individuelle Verzerrungen. Der Mensch lebt gleichsam in seiner eigenen Höhle, und dieser private Standpunkt beeinträchtigt die Deutlichkeit des Blicks. So neigen die einen dazu, überall Ähnlichkeiten zwischen Ereignissen zu suchen und zu finden, die anderen beachten Unterschiede stärker und decken subtile Abweichungen auf. Einige bewundern das Traditionelle, andere sind Liebhaber alles Neuen (Bacon 1620, I. §§39-68). Bacon zieht aus seiner Idola-Lehre den Schluss, dass Wissenschaft die Absage an diese Vorurteile verlangt: »Ihnen allen [den Idolen] hat man mit festem und feierlichem Entschluß zu entsagen und sie zu verwerfen. Der Geist muß von ihnen gänzlich befreit und gereinigt werden, so daß kein anderer Zugang zum Reich des Menschen besteht, welches auf den Wissenschaften gegründet ist, als zum Himmelreich, in welches man nur eintreten kann, wie ein von Voraussetzungen unbelastetes Kind.« (Bacon 1620, I. §68) In das Reich der Wissenschaft geht man nur ein wie in das Reich Gottes – indem man wird wie ein Kind. Die Tatsachengrundlage der Wissenschaft soll sich weiter gehend auf das Experimentieren stützen, das zu den methodologischen Innovationen Bacons zählt. Zwar wurde auch im Mittelalter schon experimentiert, insbesondere in den alchemistischen Laboratorien, und Galilei ist für seine geschickten Experimente berühmt. Aber erst Bacon hebt explizit die Bedeutung des Experiments als Erkenntnismittel für die Naturwissenschaften hervor. Für Bacon ermöglicht das Experiment einen gegenüber der Beobachtung vertieften Zugriff auf Naturprozesse. Das Verborgene in der Natur offenbart sich nämlich mehr durch die Peinigungen, die der experimentelle Eingriff für den Naturlauf mit sich bringt, als durch dessen gewöhnlichen Gang (Bacon 1620, I. §98). Bacon stützt sich hier auf einen Vergleich mit den menschlichen Verhältnissen. Es sind die außergewöhnlichen Umstände, unter denen Menschen ihren wahren Charakter offenbaren. Analog tritt auch das Wesen der Natur unter solchen Bedingungen besonders deutlich zu Tage, die im gewöhnlichen Naturlauf fehlen. Eine weitere...


Martin Carrier ist Professor für Philosophie an der Universität Bielefeld. 2008 wurde er mit dem Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft ausgezeichnet.



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