E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Carr Die Lehren des Schuldirektors George Harpole
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-8321-8472-8
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-8321-8472-8
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
J.?L. Carr wurde 1912 in der Grafschaft Yorkshire geboren und starb 1994. Nachdem er jahrelang als Lehrer gearbeitet hatte, gründete er 1966 einen eigenen Verlag und verfasste acht Romane. >Ein Monat auf dem Land< (DuMont 2016) war 1980 für den Booker-Preis nominiert. Bei DuMont erschienen außerdem >Wie die Steeple Sinderby Wanderers den Pokal holten< (2017) und >Ein Tag im Sommer< (2018).
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TAGEBUCH
Eine bescheidene Neuerung. Nachdem ich lange der Meinung war, wir Engländer seien allzu zurückhaltend in der Liebe zu unserem Vaterland, habe ich den Hausmeister, MrTheaker, angewiesen, jeden Morgen um 8.50Uhr den Union Jack am Fahnenmast zu hissen. Dies würde nicht nur den Patriotismus bestärken, sondern auch Nachzügler zur Eile mahnen, ist die Fahne doch weithin sichtbar.
Als ich MrTheaker diese Anweisung erteilte, stellte er sich taub, und als ich sie wiederholte, sagte er, die Flagge sei »verschlissen«, sie sei »durch die Salzluft vergammelt« und »im Müll gelandet«. Daher habe ich umgehend ein Antragsformular ans städtische Schulamt geschickt, damit man uns eine neue Fahne schickt.
TUSKER AN HARPOLE
Meine Bürokraft hat mich informiert, dass erst vor sieben Jahren, kurz vor dem Besuch des Vorsitzenden des Grafschaftsrats, eine neue Nationalflagge an Ihre Schule gesandt wurde. Man sollte doch meinen, dass ein solches Utensil bei normalem Einsatz und gebührender Pflege noch in gebrauchsfähigem Zustand sein müsste, daher würde ich Sie bitten, kurz zu erläutern, warum Sie eine zweite Fahne benötigen.
THEAKER AN HARPOLE
(auf dem Schreibtisch hinterlassene Notiz)
Ich habe bei der Hausmeistergewerkschaft zur Sprache gebracht, was Sie mir gesagt haben, dass ich jeden Morgen die Fahne hochziehen soll, und die von der Gewerkschaft werden sich mit dem Schulamt beraten, damit wir wissen, was zu unseren Aufgaben gehört und was nicht.
(nicht unterschrieben)
TUSKER AN HARPOLE
Heute hat sich der für Arbeitszwistigkeiten Verantwortliche von der Gewerkschaft für Transport und allgemeine Dienstleistungen an mich gewandt und sich beschwert, Sie hätten Ihren Hausmeister, MrE. E. Theaker, angewiesen, jeden Morgen die Flagge zu hissen.
Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, dass der lokale Schulausschuss folgende Aufgaben- und Tätigkeitsbereiche für Hausmeister festgelegt hat: a.) Wartung der Heizung, b.) Gewährleistung der Sauberkeit und c.) der Sicherheit, und dass weitere Aufgaben nur dann übernommen werden müssen, wenn es die Zeit dieser Männer zulässt. In Anbetracht dieser Stellenbeschreibung werden Sie gewiss einräumen, wie unbedacht Ihr Ansinnen war, und ich erwarte Nachricht, welche Schritte Sie unternehmen werden, um diese ärgerliche Angelegenheit aus der Welt zu schaffen.
Im Übrigen haben Sie meine Frage, warum Sie eine zweite Flagge benötigen, noch nicht beantwortet.
TAGEBUCH
Fühle mich niedergeschlagen und entmutigt. Habe mich von der Idee, jeden Morgen die Fahne hissen zu lassen, verabschiedet, weil sie mir bislang nur einen Sack voll Probleme eingebracht hat. Habe ans Schulamt geschrieben, dass die alte Flagge wiederaufgetaucht ist und sich in tadellosem Zustand befindet, und dass ich meine Anweisung an Theaker zurückgenommen habe.
Harpole hat sich in diesem Kampf für die Flagge nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Im Grunde war es eine gute Idee, denn das morgendliche Fahnenhissen hätte sicher für ein wenig Heiterkeit gesorgt, das den Kindern bestimmt gefallen hätte. Durch seinen Rückzieher hat Harpole das Gesicht verloren, und zwar gegenüber allen Beteiligten. Erstaunlicherweise scheint er nicht bemerkt zu haben, dass Tusker, obgleich er die Nachricht von Harpoles Anweisung an den Hausmeister nicht gerade mit Begeisterung aufgenommen hat, ihn auch nicht direkt dafür tadelte. Ganz offensichtlich weiß dieser Beamte vom Schulamt, dass der Patriotismus, genau wie die Religion, ein Minenfeld ist, auf das sich nur Dummköpfe beherzt vorwagen.
TAGEBUCH
Sehr gefreut hat mich heute der Besuch von Lucinda Bulls Vater, einem Schrotthändler. Er meinte: »Als ich gehört hab, dass die Kinder keine Fahne kriegen, hab ich gedacht, sie sollen doch einfach die hier nehmen. Hab sie, seit ich beim Militär war.«
Ohne zu zögern, nahm ich sein Angebot in dem Glauben an, dass seine Großzügigkeit frei von irgendwelchen Hintergedanken sei. Was sich als Irrtum entpuppte. Er fügte hinzu, seine Frau lasse fragen, wie lange Lucinda noch in der »Zurückgebliebenen«-Klasse sein müsse, weil ein paar Bengel sie gehänselt hätten. Ich versicherte ihm, er brauche sich keine Sorgen zu machen, Lucinda sei in der Klasse 2x gut aufgehoben, da sie dort beim Lernen ihr eigenes Tempo anschlagen könne.
Das schien ihn nicht sonderlich zu beruhigen, denn er fragte, was er und seine »bessere Hälfte« tun könnten, »um sie da rauszukriegen«, und dass, wenn ich ihm das sagen könnte, sie bereit wären, ihr Nachhilfeunterricht zu bezahlen. Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte, denn ein Kind, das in der Klasse 2x ist (der »Zurückgebliebenen«-Klasse), »kommt da nicht raus«, es sei denn, es verlässt die Grundschule, um in die 1c (die »Zurückgebliebenen«-Klasse der Hauptschule) zu wechseln.
Kaum war er gegangen, kam Titus Fawcett aus der vierten Klasse und meinte, er habe gehört, wir hätten eine Fahne bekommen, und er würde sie gern jeden Morgen hochziehen. Es sei auch gar nicht nötig, es ihm vorzumachen, fügte er hinzu, weil die neue Lehrerin, Miss Foxberrow, es ihm gezeigt habe, die sei nämlich bei den Pfadfinderinnen gewesen und verstehe was vom Knotenmachen.
MITTEILUNG VON HARPOLE
ANS KOLLEGIUM
Ich würde Ihnen gern zwei geringfügige Abweichungen von der Routine vorschlagen und rechne fest mit Ihrer Unterstützung:
1. Alle männlichen Kollegen sollen ab sofort darauf verzichten, sich mit »Sir« ansprechen zu lassen. Dieser archaische Titel ist einer ungezwungenen Beziehung zwischen uns und den Kindern hinderlich. Obgleich sie diese Anrede als eine der Regeln akzeptieren, die an der Schule nun einmal gelten, erweckt sie den Eindruck, wir unterschieden uns von anderen Männern. Desgleichen sollten die weiblichen Lehrkräfte darauf verzichten, sich von den Schülern mit »Miss«, »Frau Lehrerin« oder »Ma’am« ansprechen zu lassen.
2. Nachdem ich einen aufschlussreichen Artikel in der aktuellen Wochenausgabe des Teacher gelesen habe, schlage ich vor, uns vom Gebrauch des Rohrstocks zu verabschieden, und erwarte von jedem Kollegen und jeder Kollegin, der oder die ihn inoffiziell noch einsetzt, meinem Beispiel zu folgen. Mir fällt beim besten Willen nichts ein, was der Beziehung zwischen Lehrer / Kind / Eltern größeren und nachhaltigeren Schaden zufügen könnte.
Harpole scheint aus dem Scheitern seines beherzten Einsatzes für das Hissen der Flagge nichts gelernt zu haben. »Geringfügige Abweichungen von der Routine« – was für eine großartige Untertreibung! In einer Schule, an der Prinzipien gelten, die in den Zwanzigern auf der Höhe der Zeit waren, als Chadband seine pädagogische Ausbildung erhielt, und zwar von Männern, deren berufliche Praxis zu Beginn des Jahrhunderts geformt wurde, kommen Änderungen, wie Harpole sie vorschlägt, einer Revolution gleich.
Harpole hätte sich besser bei Tusker abgeschaut, wie man umsichtig vorgeht, und diesen Vorstoß lieber nicht schriftlich unternommen. Es wäre bei Weitem klüger gewesen, ein wenig abzuwarten, bis sich die Wogen geglättet hätten, um seine Ideen dann bei einer Tasse Tee im Lehrerzimmer vorzubringen.
Außerdem hätte er sich davor hüten sollen, es manchen Schulämtern gleichzutun, deren Anzeigen, mit denen sie um weibliche Lehrkräfte werben, klingen, als wollten sie biologische Untersuchungsobjekte einkaufen.
Die 2x – die »Zurückgebliebenen«-Klasse? Wenn sogar MrBull, ein Schrotthändler, dieses plumpe, herabwürdigende System durchschaut, wird Harpole, der studierte Pädagoge, es wohl kaum aufrechterhalten können …
PINTLE AN HARPOLE
(handgeschriebener Zettel)
Meine Klasse und alle Kinder, die mit mir in Kontakt kommen, werden mich weiterhin mit »Sir« ansprechen. Streiks, Demonstrationen, Widerstand gegen die Staatsgewalt, pornografische Theateraufführungen und Techtelmechtel ohne Trauschein – all das ist dieser Auflösung der sozialen Ordnung geschuldet, die ich nicht zu unterstützen gewillt bin.
Ich bin ein Lehrer der alten Schule und weigere mich, auf dieser Welle des nationalen Sittenverfalls zu schwimmen. Daher bin ich nicht gewillt, Ihrer Anweisung zu folgen, sondern werde die Angelegenheit derweil meinen Arbeitgebern zur Kenntnis bringen und sie um eine Handlungsanweisung bezüglich Ihres Vorstoßes bitten.
TAGEBUCH
… Bin zu Pintles Klassenzimmer geeilt und habe ihm versichert, dass es sich bei meiner Mitteilung lediglich um einen Vorschlag handelt, und er möge, wenn er eine solche Abneigung gegen diese wirklich unbedeutende Veränderung verspürt, sie ganz einfach ignorieren. Außerdem hoffte ich ihn durch meine Versicherung, ich hätte großen Respekt vor jemandem, der offen seine Meinung sagt, beschwichtigen zu können und dass die Sache damit erledigt sei. Dennoch ließ ich ihn wissen, dass der Rohrstock, was mich betrifft, der Vergangenheit angehört und ich dies den Kindern bei unserer nächsten Versammlung mitteilen werde.
Während ich zum ersten Mal in diesem Jahr zum Kricketplatz radelte, um am Fangnetz ein paar Schläge zu üben, traf ich Miss Foxberrow, unseren Neuzugang. Sie schien in ein voluminöses Schotten-Cape gehüllt zu sein, doch ehe ich sie genauer in Augenschein nehmen konnte, verfing sich meine Krickettasche im Fahrradlenker und brachte...