Carmichael Ich bin kein anderer
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-446-24837-3
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-446-24837-3
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Autorin Clay Carmichael wuchs in einer Familie von Geschichtenerzählern auf und begann früh zu zeichnen und zu schreiben. Obwohl sie ursprünglich davon träumte, Robin Hood oder Gehirnchirurgin zu werden, entschloss sie sich zu einem Creative-Writing-Studium. Seit ihrem Abschluss mit Summa cum laude arbeitet sie sehr erfolgreich als Bilderbuchautorin und -illustratorin. Ihr Jugendbuchdebüt Zoë erschien 2011 bei Hanser. Es wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem NAPPA Gold Award, dem North Carolina Juvenile Literature Award, als American Library Association Notable Children’s Book und Kirkus Reviews Best Book of the Year. 2015 folgte ihr Jugendroman Ich bin kein anderer. Clay Carmichael lebt in North Carolina/ USA.
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9
BRUDER SAH DIESEM Wirbelwind namens Lucy nach und stieß langsam die Luft aus. Eine Stiefschwester. Bisher hatte er noch keine Zeit gehabt, sich über Gabe und den Senator hinaus weitere direkte Angehörige vorzustellen, geschweige denn entferntere Verwandte oder eine Stieffamilie. Doch jetzt, nachdem er Lucy getroffen hatte – mit ihr zusammengestoßen war –, ging ihm auf, dass Impulsivität offenbar ein dominantes Merkmal der Graysons war. Allen werden wir’s zeigen, hatte sie gesagt. Wie hatte sie das gemeint? Einmal, während ihrer ersten Chemo, hatte Mem ihn gewarnt: »Pass auf, dass du nicht in den Stürmen anderer Leute untergehst.« Damals hatte er an solche Stürme gedacht, von denen er wusste – ihre Krebserkrankung, den Tod seiner Mutter –, doch jetzt fragte er sich, ob sie nicht noch anderes gemeint hatte.
In der Zeit, die Lucy brauchte, um zu einem kleinen hüpfenden Punkt zu werden, holte Bruder die Sachen vom Parkplatz und legte Muscheln an den Fuß der Düne, die er hinuntergeschlittert war, um so für alle Fälle eine Abkürzung als Fluchtroute zu markieren. Dann rief er nach Trooper und Jack.
»Guck mal!«, schrie Jack, als er über den Strand gerannt kam. So gebannt starrte er auf seine gewölbten Hände, dass er fast stolperte. Dann zog er die Finger auseinander und zeigte Bruder einen Sanddollar – einen Seeigel in der Größe einer Vierteldollarmünze, vollkommen geformt und ganz weiß.
»Ein richtiger Schatz, Kumpel«, sagte Bruder.
»Ja, ein Schatz«, wiederholte Jack mit großen Augen. »Und außerdem gibt es hier doch Haie!«
»Wo?« Bruder suchte das Meer mit den Augen ab, sah aber nichts als Wasser.
»Da draußen!«, rief Jack und zeigte hinaus.
»Ich weiß ja nicht, was du gesehen hast, Kumpel, aber jetzt ist es jedenfalls weg. Komm, wir müssen da lang.«
Bruder ging los, immer Lucys Fußspuren nach. Jack trottete langsam hinterher, den Blick in der Hoffnung auf weitere Schätze fest auf den Sand gerichtet, während Trooper auf alles Jagd machte, was sich bewegte, ob Krabbe, Vogel oder Wasser. Bruder ließ sich Zeit, blieb immer wieder stehen, um zuzusehen, wie die Wellen heranrollten, brachen, schäumten und sich wieder zurückzogen. Wie ein Bild für den eigenen Zwiespalt im Hinblick auf das, was vor ihm lag.
Nach einer Weile hörte er Trooper bellen. Der Hund stand am Ende einer Holztreppe, die vom Strand ins Inselinnere führte. Wo die Stufen endeten, begann ein Steg, der an den Dünen abbog, dann ein Stück parallel zum Wasser verlief und so eine Art Aussichtsplattform bot, um dann ein zweites Mal abzubiegen, vermutlich in Richtung Eden. Ein Stück unterhalb dieser Plattform stand gut geschützt im rechten Winkel zur Treppe ein niedriges kleines Haus auf Pfählen. Es sah verwittert aus, machte aber sonst einen soliden Eindruck. Ein paar Stufen führten vom Strand auf eine Veranda mit Bambusgeländer und einer Eingangstür zwischen zwei Fenstern mit grünen Läden und Blick aufs Meer. Als Trooper Bruder kommen sah, raste er sofort zur Veranda hoch und stand dann wachsam da, als gehörte ihm das Haus.
Wie Lucy gesagt hatte, war die Tür nicht verschlossen. Bruder trat sich die Schuhe ab und klopfte den Sand aus Troopers Fell. Innen war das Haus größer, als es von außen den Anschein machte. Außer einem quadratischen Holztisch mit vier Stühlen gab es zwei Sessel neben einem kleinen Holzofen sowie ein ungemachtes Bett. Linkerhand befand sich eine winzige Küche, in deren Spüle sich leere Bierdosen und Tassen türmten, und hinter der Küche kam man in ein ebenso winziges Bad mit Toilette, Waschbecken und Dusche. Alles, was man brauchte, wenn auch sehr rustikal. Nur ein Telefon fehlte, stellte er fest. Er hätte gern Kit angerufen.
Cole hätte jetzt gesagt, Abwarten sei totaler Quatsch, er solle sofort zum Haupthaus gehen, sein Geburtsrecht einfordern und nach seinem Zwilling fragen. Doch Bruder zog es vor zu warten, darin war er ganz wie Mem. Die Neigung, erst einmal abzuwarten, war das dominante Merkmal seiner Familie und artete teilweise zu einer gefährlichen Schwäche aus. Mem war leichtsinnigerweise monatelang nicht zum Arzt gegangen, als ihre Symptome zurückkehrten. Erst hatte sie gar nichts gesagt, dann, als sogar Bruder sich Sorgen machte, weil sie immer müde war und immer dünner wurde, hatte sie abgewehrt. »Ich habe Angst, dass er was findet.« Völlig irrational, das wussten sie beide, doch sie machten sich vor, dass etwas nicht existiert, solange man es nicht sicher weiß.
Jack stürmte barfuß und voller Sand herein und sprang gleich aufs Bett. »Wow!«, sagte er. »Ist das unsers?«
»Vorläufig ja.« Bruder stellte den Kleinen auf den Boden. »Du weißt, dass man das nicht macht.«
»Ich hab doch extra die Schuhe ausgezogen!«, maulte Jack und ließ sich rückwärts und mit ausgestreckten Armen und Beinen aufs Bett fallen. »Macht gar keinen Spaß mit dir!«
»Du hast recht«, sagte Bruder und dachte an den Trotzanfall vom Vorabend. »Lass mal sehen, wie kitzlig du bist.«
Jack quiekte vor Begeisterung, wand sich aber los und stürmte gleich wieder zur Tür hinaus.
Lucy hätte sich ruhig den ganzen Tag Zeit lassen können, ohne dass es einem der beiden etwas ausgemacht hätte. Jack fand einen Schatz nach dem anderen und reihte alle auf den Stufen auf, während Bruder auf der Verandaschaukel saß, im Sand lag, glatte Muschelscherben übers Wasser schleuderte oder am Strand spazieren ging. Trooper bohrte die Schnauze in Krabbenlöcher, bellte Pelikane an, die in enger Formation tief überm Meer flogen, oder versuchte sich als Hütehund für kleine Vögel, die auf ihren Streichholzbeinchen wegrannten, bevor sie abhoben und davonflogen. Obwohl das Wasser lausig kalt war, zog Jack sich bis auf T-Shirt und Unterhose aus und watete hinein. Bald zitterte er vor Kälte und war salzverklebt, aber er war glücklicher, als Bruder ihn je erlebt hatte. Bruder hätte, ohne einen Moment zu zögern, sofort zugegeben, dass Eden genau der richtige Name für diesen Ort war.
Lucys angekündigte Stunde verstrich und auch eine zweite. Die Sonne erreichte ihren höchsten Stand und begann ihren langsamen Abstieg. Bruder nahm Lucy beim Wort, fühlte sich ganz wie zu Hause und fing an auszupacken. Er breitete Kits Zelt aus, um es an der Sonne trocknen zu lassen, und hängte den Schlafsack zum Lüften übers Geländer. Sogar ein kleines Mittagessen brachte er zustande, mit einem Glas schon etwas muffiger gemischter Nüsse aus dem Küchenschrank und zwei Flaschen Cola aus dem Kühlschrank.
Jack war dabei, Plastikbecher mit nassem Sand zu füllen, den er dann nach und nach um Trooper herum zu einem gewaltigen Unterkiefer mit spitzen Zähnen aufschichtete. Bruder setzte sich und stellte ihr Mittagessen in den Sand zwischen ihnen.
»Ich mach einen Hai«, erklärte Jack. »Der frisst Trooper.«
»Das sehe ich.«
Trooper schien kein Problem damit zu haben, er wedelte freundlich. Bruder fütterte ihn mit etwas Trockenfutter, während er hinaus aufs Meer schaute, wo ein Fischer in seinem Boot sich gefährlich weit hinauslehnte.
»Sag mal, Jack, kannst du eigentlich schwimmen?«
»Ich kann durch das ganze Meer schwimmen«, sagte Jack, der gerade wieder einen Becher Sand ausleerte. »Durch zwei Meere! Schwimmen wir jetzt ganz weit raus?«
»Zeig mir mal, was du beim Schwimmen mit den Armen machst.«
»Jetzt hab ich gerade keine Lust«, sagte Jack und formte einen spitzen Zahn. »Aber ich kann’s.«
»Ich glaub’s dir«, sagte Bruder. »Jetzt ist es sowieso zu kalt. Ich wollte nur sicher sein, dass du auch die beste Art zu schwimmen kennst, damit du startklar bist, wenn es wärmer wird, und superschnell.«
Wie Bruder es vorhergesehen hatte, horchte Jack bei diesem letzten Wort auf. »Wie schnell?«
»So schnell wie Mem, und die ist mit Delfinen geschwommen. Ich hab bei ihr schwimmen gelernt.«
Bruder musste etwa in Jacks Alter gewesen sein, als ein Teenager, der nie schwimmen gelernt hatte, eines Nachts in einem Teich in Schuyler ertrank, als er mit anderen dort nackt badete. »Dieser Junge konnte nicht mal wie ein Hund paddeln!«, sagte Mem damals ärgerlich. Sinnlose Tragödien regten sie immer auf, und als sie den Bericht über den Unfall in der Zeitung las, war sie so wütend, wie Bruder sie noch nie erlebt hatte. Am nächsten Tag rief sie Warren an. Der fuhr sie während der nächsten drei Monate zweimal die Woche zum nächsten öffentlichen Schwimmbad, wo Bruder rigoros trainiert wurde. Wie ein Feldwebel beim Drill brüllte sie ihre Kommandos: »Fester treten! Beweg die Beine! Ellbogen beugen! Noch fünf Minuten Wasser treten!«
»Ich will ganz schnell schwimmen!«, sagte Jack.
»Okay«, sagte Bruder. »Die erste Regel der schnellen Delfine: Nie allein ins Wasser gehen! Trooper zählt nicht. Du musst immer einen anderen Menschen dabeihaben, der mit dir schwimmt oder der dich beobachtet. Einen, der schwimmen kann. Versprich mir das.«
»Wieso zählt Trooper nicht?«
»Weil ich nicht sicher bin, ob er dich im Ernstfall aus dem Wasser ziehen könnte.« Er war sich nicht einmal sicher, ob er selbst das noch schaffen würde, nach all den Jahren.
Jack riss die Augen auf. »Du meinst, wenn ein Hai mich am Bein packen würde?«
»Versprich es mir, Jack.«
»Und ein anderer Hai mir den Kopf abbeißen würde?«
»Versprich es.«
»Okay«, sagte Jack und wandte sich wieder seinen Sandzähnen zu.
»Das war deine Lektion für heute. Morgen kommt Lektion zwei. Ich geh jetzt mal rein und sehe nach, ob die Dusche funktioniert. Du bleibst hier, okay?«
Jack nickte. »Mampf, mampf, mampf.«
Bruder gönnte...