E-Book, Deutsch, Band 1, 368 Seiten
Reihe: Finster, packend und hochaktuell - Leo Junker ermittelt
Carlsson Der Turm der toten Seelen
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-641-14784-6
Verlag: C.Bertelsmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Thriller Bd.1
E-Book, Deutsch, Band 1, 368 Seiten
Reihe: Finster, packend und hochaktuell - Leo Junker ermittelt
ISBN: 978-3-641-14784-6
Verlag: C.Bertelsmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Christoffer Carlsson, geboren 1986, ist der jüngste Star am schwedischen Krimihimmel. Mit 28 Jahren hat er nicht nur bereits vier hoch gelobte, international erfolgreiche Thriller geschrieben, sondern nebenher auch noch sein Kriminologie-Studium mit Promotion abgeschlossen. Der Turm der toten Seelen, der erste Band der Serie um den Polizisten Leo Junker, wurde 2013 mit dem Schwedischen Krimipreis ausgezeichnet und war auch international sehr erfolgreich. Es folgten Schmutziger Schnee (2015) und Der Lügner und sein Henker.
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2 Als ich aufwache, ist es dunkel, und ich weiß, es ist etwas passiert. Im Augenwinkel sehe ich ein Blinken. Auf der anderen Straßenseite wird ein starkes, zuckendes blaues Licht an der Hauswand reflektiert. Ich verlasse das Bett und gehe zur Küchenzeile, trinke ein Glas Wasser und lege mir eine Tablette Sobril auf die Zunge. Ich habe von Viktor und Sam geträumt.
Mit dem leeren Glas in der Hand gehe ich zum Balkon und öffne die Tür. Der Wind ist warm und feucht, er lässt mich schaudern, und ich sehe auf die Welt hinab, die dort unten wartet. Ein Krankenwagen und zwei Polizeiautos stehen in einem Halbkreis geparkt vor dem Eingang. Jemand spannt ein blau-weißes Absperrband zwischen zwei Laternen. Ich höre dumpfe Stimmen, das Knistern eines Polizeifunkgeräts und sehe das stumme Blinken des Blaulichts der Streifenwagen. Und hinter ihnen: das Rauschen von einer Million Menschen, das Geräusch einer großen Stadt in vorübergehendem Ruhezustand.
Ich gehe wieder hinein und ziehe mir eine Jeans an, knöpfe mein Hemd zu und fahre mir mit der Hand durch die Haare. Im Treppenhaus: eine Dunstabzugshaube, die irgendwo hinter einer Wand schnurrt, das diskrete Rascheln von Kleidern, eine murmelnde, leise Stimme. Jemand hat den alten Fahrstuhl angefordert, er setzt sich mit einem mechanischen Quietschen in Gang und lässt die Wände des Fahrstuhlschachts vibrieren.
»Kann nicht mal einer den verdammten Aufzug abschalten?«, zischt jemand.
Der Fahrstuhl übertönt das Geräusch meiner Schritte, als ich die Treppe hinuntergehe, die sich spiralförmig um seinen Schacht windet. Im ersten Stock bleibe ich stehen und horche. Unter mir, im Hochparterre, ist etwas geschehen. Und das nicht zum ersten Mal.
Vor einigen Jahren hat ein gemeinnütziger Verein mithilfe einer Spende von jemandem, der mehr Geld hatte, als er brauchte, die große Wohnung gekauft. Der Verein baute die Räume zu einer Herberge für die Ausgestoßenen und Verirrten um und nannte das Ganze »Chapmansgården«. Mindestens einmal in der Woche haben sie Besuch, meist von erschöpften Sozialamtsbürokraten, aber nicht selten auch von der Polizei. Die Unterkunft wird von einer ehemaligen Sozialarbeiterin betrieben, Matilda oder Martina, ich erinnere mich nicht genau an den Namen. Sie ist alt, aber viel respekteinflößender als die meisten Polizisten.
Als ich mich über das Treppengeländer beuge, sehe ich, dass die schwere Holztür zur Unterkunft offen steht. Drinnen brennt Licht. Die verärgerte Männerstimme wird von einer ruhigeren Frauenstimme besänftigt. Der Fahrstuhl fährt auf seinem Weg nach unten an mir vorbei, und ich folge ihm, gehe hinter der Fahrstuhlkabine verborgen zum Hochparterre. Die beiden Polizisten, die dort stehen, ein Mann und eine Frau, erstarren, als sie mich sehen. Sie sind jung, viel jünger als ich. Der Fahrstuhl hält unten am Ausgang an, und mit einem Mal wird es sehr still.
»Seien Sie vorsichtig, wenn Sie hier herumlaufen«, sagt die Frau.
»Spann du mal das Absperrband«, sagt der Mann und hält ihr die blau-weiße Rolle hin, woraufhin sie ihn anstarrt.
»Mach das selbst, ich kümmere mich um ihn.«
Sie hat ihre Mütze abgesetzt, hält sie in der Hand, ihre Haare sind zu einem strammen Pferdeschwanz gebunden, der ihr Gesicht verzerrt aussehen lässt. Der Mann hat einen kantigen Kiefer und freundliche Augen, aber ich glaube, die beiden sind ziemlich nervös, denn sie sehen andauernd auf ihre Armbanduhren. Auf den Schulterklappen der Uniformen sitzen nur goldene Kronen, keine Striche. Assistenten.
Er geht mit der Rolle in der Hand zur Treppe. Ich versuche zu lächeln.
»Es ist hier nämlich was passiert«, sagt sie. »Es wäre schön, wenn Sie im Haus blieben.«
»Ich werde nicht rausgehen.«
»Und was machen Sie dann hier unten?«
Ich schaue durch das große Fenster im Treppenhaus, durch das man das Haus auf der anderen Straßenseite sieht. Es wird immer noch von blauem Licht überspült.
»Ich bin aufgewacht.«
»Sie sind vom Blaulicht aufgewacht?«
Ich nicke, keine Ahnung, was sie denkt. Sie sieht erstaunt aus. Ich vernehme einen scharfen Geruch, und erst jetzt bemerke ich, wie bleich sie ist. Ihre Augen sind blutunterlaufen. Sie hat sich eben erst übergeben.
Leicht, fast unmerklich, legt sie den Kopf schief und runzelte die Augenbrauen.
»Kennen wir uns?«
»Das glaube ich nicht.«
»Sind Sie sicher?«
»Ich bin bei der Polizei«, gebe ich zu, »aber nicht … nein, ich glaube nicht, dass wir uns kennen.«
Sie sieht mich eingehend an, dann nimmt sie den Notizblock aus der Brusttasche und blättert ein paar Seiten vor, klickt mit dem Stift, schreibt etwas auf. Hinter meinem Rücken raschelt ihr Kollege auf eine Weise, die mich nervt, linkisch mit dem Absperrband. Ich betrachte die Tür hinter der Frau. Es gibt keinerlei Anzeichen, dass sie aufgebrochen wurde.
»Ich habe keine Information darüber bekommen, dass hier ein Polizist wohnt. Wie heißen Sie?«
»Leo«, sage ich, »Leo Junker. Was ist passiert?«
»Zu welcher Abteilung gehören Sie, Leo?«, fährt sie in einem Ton fort, der verrät, dass sie alles andere als überzeugt ist, dass ich die Wahrheit sage.
»D.I.E.«
»D.I.E.?«
»Dezernat Interne …«
»Ich weiß, wofür das steht. Darf ich Ihre Polizeimarke sehen?«
»Die liegt in meiner Jacke oben in der Wohnung«, sage ich, und ihr Blick wandert über meine Schulter, als würde sie Augenkontakt zu ihrem Kollegen suchen. »Wisst ihr, wer sie ist?«, frage ich. »Die Tote?«
»Ich …«, beginnt sie. »Sie wissen also, was geschehen ist?«
Ich bin kein guter Beobachter, doch es kommen nur selten Männer in diese Herberge. Für sie gibt es andere Orte, wo sie unterkommen können. Die Frauen hingegen haben nicht so viele Möglichkeiten, zwischen denen sie wählen können, denn die meisten Heime dieser Art weisen Drogenabhängige und Prostituierte ab. Die Frauen dürfen eines von beiden sein, aber nicht beides. Das Problem ist nur, dass die meisten eben genau beides sind. Der Chapmansgården ist eine Ausnahme, und deshalb kommen viele Frauen hierher. Hier muss man nur eine Regel befolgen, um reingelassen zu werden: Man darf keine Waffe haben. Eine sympathische Einstellung.
Deshalb handelt es sich hier also sehr wahrscheinlich um eine Frau, und nach dem ganzen Theater zu schließen, lebt sie nicht mehr.
»Darf ich …?«, frage ich und mache einen Schritt auf die Polizistin zu.
»Wir warten auf die Techniker«, höre ich die Stimme ihres Kollegen hinter mir.
»Ist Martina da drinnen?«
»Wer?«, fragt die Frau verwirrt und schaut auf ihren Block.
»Die, die das hier betreibt«, sage ich. »Wir sind befreundet.«
Sie sieht skeptisch aus. »Sie meinen Matilda?«
»Ja. Genau.«
Ich steige aus meinen Schuhen, hebe sie auf und gehe an ihr vorbei in die Herberge.
»Hallo«, sagt sie scharf und packt mich fest am Arm. »Sie bleiben hier.«
»Ich will nur sehen, wie es meiner Freundin geht«, erkläre ich.
»Sie wissen ja nicht einmal, wie sie heißt.«
»Ich weiß, wie man sich an einem Tatort bewegt. Ich will nur sehen, ob Matilda okay ist.«
»Das spielt keine Rolle. Sie kommen hier nicht rein.«
»Zwei Minuten.«
Die Polizistin starrt mich lange an, ehe sie meinen Arm loslässt und wieder auf ihre Armbanduhr schaut. Unten schlägt jemand laut und fest an die Tür. Sie sucht nach ihrem Kollegen, der nicht mehr zu sehen ist, weil er die Treppe hinaufgegangen ist.
»Warten Sie hier«, sagt sie, und ich nicke, lächle und versuche, aufrichtig zu wirken.
Im Chapmansgården ist die Welt gespenstisch still. Die Decke hängt tief über meinem Kopf, der Fußboden ist aus hässlichem abgenutzten Parkett. Die Unterkunft besteht aus einer großen Diele, einer Küche mit Tisch, einer Toilette und Dusche, einem Büro und etwas, wovon ich annehme, dass es der Schlafraum ist, ganz hinten in der Wohnung. Der Geruch erinnert an die strenge Duftnote im Kleiderschrank eines alten Mannes. Gleich hinter der Tür steht ein großer Korb auf dem Boden, und davor liegt ein handgeschriebener Zettel. WARME KLEIDUNG. Unter einem Kapuzenpullover schauen ein Paar Handschuhe hervor, die ich herausziehe.
Auf der rechten Seite geht es von der großen Diele in eine ordentliche und saubere Küche mit einem quadratischen Holztisch und ein paar Stühlen. Am Küchentisch sitzt Matilda, dieser alte Vogel mit spitzem Profil und wuscheligem silberlockigen Haar, ihr gegenüber ein Mann in Polizeiuniform. Sie blicken auf, als ich an ihnen vorbeigehe, und ich nicke Matilda zu.
»Von der Kripo?«, fragt er.
»Klar.«
Er schielt auf die Handschuhe in meiner Hand, und ich senke den Blick auf den Boden, wo man deutliche Schuhabdrücke erkennen kann. Es sind keine Stiefel, sondern eher irgendwelche Sportschuhe. Ich platziere meinen eigenen Schuh neben den Abdruck und stelle fest, dass ich ebenso große Füße habe wie der, der eben hier gewesen ist.
»Wo sind die anderen Frauen?«
»Es war nur sie hier«, erwidert Matilda.
»Ist sie Ihnen bekannt?«
»Sie war in diesem Sommer mehrere Male hier. Ich glaube, sie heißt Rebekka.«
»Mit zwei k?«
»Ich weiß es nicht, aber ich glaube mit Doppel-c.«
»Und ihr Nachname?«
Sie schüttelt den...