Carl | Wer reinkommt, ist drin | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Carl Wer reinkommt, ist drin

Roman
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-8387-1767-8
Verlag: Eichborn
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Roman

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-8387-1767-8
Verlag: Eichborn
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Wer reinkommt, ist drin ist ein Roman über den Aufbruch ins Leben, über Freundschaft und die Leichtigkeit des Seins in den Neunzigerjahren. München in den 90er Jahren. Zwei Frauen (West), ein Mann (Ost). Uli will ihn. Jo bekommt ihn. Uli verzweifelt an den Türstehern der coolen Clubs, Jo an der Unnahbarkeit ihres Vaters. Uli träumt von Eigenheim und semmelblonden Kindern, Jo von journalistischem Starruhm. Doch dann stolpert Uli im Zuge der beginnenden New Economy die Karriereleiter hoch, und Jo wird schwanger. Verkehrte Welt - bis wieder alles ganz anders kommt ... Ein Roman über den Start ins Leben, über Frauenfreundschaft und -konkurrenz, über die Zerbrechlichkeit von Lebensplänen und die Chancen des Zufalls. Authentisch und mit feinem sprachlichen Gespür lässt Verena Carl WG-Küchen, Szene-Clubs und Lifestylemagazin-Redaktionen wieder auferstehen und erzählt dabei ganz nebenbei von einem Jahrzehnt und einem Deutschland kurz nach der Wiedervereinigung, das uns heute gleichzeitig nah und fern scheint in seiner Technikbegeisterung, seiner politischen Unbedarftheit und wirtschaftlichen Sorglosigkeit.

Carl Wer reinkommt, ist drin jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Am Tag, an dem die Sonne verschwand, verschwand auch München. Natürlich war die Stadt nicht einfach weg, so wie in einer Szene aus einem Science-Fiction-Film. Die Frauenkirche stand noch, der Englische Garten und auch die Postfiliale gegenüber Ulrike Beckers türkisfarbenem Haus in der Bergmannstraße. Aber als Ulrike Becker an diesem Augusttag auf die Straße trat, war es, als könnte sie die Wände nicht mehr berühren, als schwebten ihre Fußsohlen einige Millimeter über dem Asphalt, als würden selbst die Staubpartikel, die in der spätsommerlichen Luft flirrten, nicht mehr auf ihrer Haut landen. Seitdem ihre Bücher in Kisten verstaut, das Geschirr in alte Seiten der Abendzeitung verpackt und die Koffer vollgestopft waren mit Mänteln und selten getragenen Skistiefeln, alles fertig für einen Winterschlaf unbekannter Dauer, ging sie wie eine Museumsbesucherin durch die vertrauten Straßen. Lange war es her, dass sie mit so leichtem Gepäck gereist war. Sie dachte daran, dass sie München mit weniger verlassen würde als vor zehn Jahren ihr Elternhaus. Sie schlenderte durch die Stadt, die weiter ihren Geschäften nachging, als wäre nichts, und stellte sich vor, wie nach ihrem Wegzug alles verstauben würde. Kupferdächer würden sich grünlich verfärben, und irgendwann würde einer kommen und eine Plastikplane über München legen, so wie über ein Puppenhaus, dessen Besitzerin zu groß geworden war, um mit ihm zu spielen. Die absurde Vorstellung gefiel ihr. Lange hatte sie am Abend zuvor am Fenster ihrer Dachwohnung gestanden, die Räume leer bis auf einen einsamen Futon, unter sich die schlafenden Autos, auf der anderen Straßenseite der griechische Gemüseladen. Die braun-orange gestreifte Markise war aufgerollt, das staubige Schaufenster von innen mit Zeitungspapier verklebt. Der Besitzer hatte sein Leben angehalten und gegen ein paar Wochen am Meer bei der Familie eingetauscht, so wie jedes Jahr im August. Diesmal schien es ihr, als wäre es für immer. Ihr Zustand erinnerte Ulrike Becker an das unwirkliche Gefühl, wenn man in einem stehenden Zug saß und die Bahn auf dem Nebengleis schon anfuhr. Die Illusion, unterwegs zu sein, bis einen der Bahnsteig gegenüber wieder an den momentanen Stillstand erinnerte. Restalkohol versetzte sie in einen ähnlichen Limbo, wattig und leicht im Kopf. Vielleicht fühlte sich auch Sterben ähnlich an, oder jemanden Verlassen. Aber damit kannte sie sich nicht aus. Verlassen war nicht ihr Metier. Verlassen war Saschas Metier. In den letzten Tagen hatte sie wieder viel an ihn gedacht, aber sie war sich selbst nicht mehr böse deswegen. Sascha war ein Teil dieser Stadt. Das war der Unterschied: Sascha blieb. Sie ging. Endlich konnte sie aufhören zu warten. Und sich endlich eingestehen, dass sie nie damit aufgehört hatte. Trotz allem. Zu warten auf einen Anruf, sonntagvormittags aus der Badewanne, Saschas hallende Stimme in dem weiß gekachelten Raum am anderen Ende der Leitung. Zu warten auf eine zufällige Begegnung in einem dieser Cafés im Glockenbachviertel. Auf die Bewegung seiner Augenbrauen, die so geschwungen waren, dass sein Blick immer etwas spöttisch wirkte. Warten auf eine Hand, ein Wiedersehen, Wiederfühlen mit dieser tiefen Senke unter seinem Brustbein. Ulrike Becker dachte, dass sie diese Stelle unter Hunderten heraustasten könnte, genau so, wie sie noch immer eine Karte von den Leberflecken auf seinem Rücken hätte zeichnen können. Eine Körperkarte. Nutzloses Wissen, nicht einmal geeignet für einen Auftritt in einer Talentshow. Seltsam, dass sie ihm nie über den Weg gelaufen war in all der Zeit. Nur dieses Foto hatte es gegeben, schwarz-weiß im Wirtschaftsteil der Süddeutschen, ein zu großer Mann in einem zu weiten Anzug. Und dann war da noch etwas, auf das sie endlich nicht mehr warten musste. Auf den Moment, in dem sich die S-Bahn-Türen öffnen und zufällig Jo dastehen würde, Jo Sedlacek, oder wie auch immer sie jetzt mit Nachnamen heißen mochte. Jo, die Hände am Griff eines Buggys, das Gesicht teigig vor Müdigkeit, der Mund ihres Jungen keksverschmiert. Wem der Kleine wohl ähnlich sah? Keine von ihnen hatte bekommen, was sie gewollt hatte. Vielleicht, dachte Ulrike Becker, war diese Tatsache das Letzte, das sie noch immer mit Jo verband. München, diese Glücksversprechungsmaschine, dieser einarmige Bandit mit den bunten Knöpfen. Was hatten sie da alles hineingeworfen, und was war schon alles hinausgefallen. Nur nicht das, was sie sich gewünscht hatten, in diesem lang vergangenen Sommer, damals. Aber das war Vergangenheit. Vor ihr lag die Zukunft, noch getrennt von ihrem Leben, einen ganzen Ozean entfernt. Sie dachte an New York, die Taxis, die wie ein gelber Blutstrom durch die Straßen zirkulierten, die unübersichtlichen Getränketafeln der Coffeeshops. An den kühlen Marmor der Empfangshalle des Bürogebäudes auf der Sixth Avenue, die Aufzugtüren mit ihrem satten Schließgeräusch. In der neuen Stadt würde alles unverbraucht sein und unvertraut riechen, so wie Möbel, die man eben erst Teil für Teil aus Luftpolsterfolie befreit und selbst zusammengebaut hatte. Währenddessen würde sich München in ihrer Erinnerung immer weiter verkapseln, so wie eine dieser Sammlerboxen, von denen sie in der New York Times gelesen hatte, am Nachmittag nach ihrem Vorstellungsgespräch. Kurz vor der Jahrtausendwende, diesem willkürlichen, mit künstlicher Bedeutung aufgeladenen Datum, war es in Mode gekommen, Alltagsgegenstände in Behältern zu archivieren. Disketten und tragbare CD-Player, modische Sneakers und Babywindeln, jeder New Yorker der Kurator seiner eigenen Ausstellung für die Zukunft. Ihr war die Pappkiste in ihrem Münchner Schreibtisch eingefallen, darin eines von Saschas Zopfgummis, an dem noch ein paar Haare hingen, eine Streichholzschachtel aus einem Biergarten, Übersee am Chiemsee, eine Plastikbox mit den Einwickelpapierchen von Billigpralinen. Endlich konnte sie die wegwerfen. Sie hatte keine vierundzwanzig Stunden warten müssen, bis ihr neuer Chef eine Nachricht für sie hinterließ. So war diese Stadt, dort dauerte selbst ein Haarschnitt nur zwanzig Minuten und ein Geschäftsessen fünfundvierzig. Das Jobangebot kam per E-Mail, die sie an einem Computer in der Hotellobby las, mit zitternden Fingern herunterscrollte, ob es nicht doch noch einen Haken gab, eine Fußangel, eine Befristung, eine Abweichung vom geforderten Gehalt. Nichts davon. Noch am gleichen Nachmittag hatte sie ihren Vertrag unterzeichnet, in einem Lokal im Central Park, am Seeufer mit Blick auf Trauerweiden, die ihre Äste matt ins Wasser tauchten. Danach hatte sie keinen Termin mehr gehabt, sich für ein paar Stunden auf eine Weise frei gefühlt wie schon lange nicht mehr, vielleicht zuletzt als Kind, beim letzten Gong vor den Sommerferien. Sie war zu Fuß durch die halbe Stadt gelaufen, vom Central Park bis ganz in den Süden zur Brooklyn Bridge, wo sich der East River hinter kathedralenhaften Brückenbögen mit dem Meer vereinte. Schön. Eine vergängliche Schönheit, leider, das wusste sie nur zu gut. Wenn man sich nämlich entschloss, in einer Stadt zu leben, veränderte sich diese augenblicklich. Man konnte niemals die Stadt bewohnen, in die man sich verliebt hatte. Sobald man eine Adresse dort hatte, einen Briefkasten, ein Klingelschild, zeigte sich die Stadt ungeschminkt, mürrisch und verschlossen. Wege, auf denen man schlenderte, wurden zu Arbeitswegen, auf denen jede Minute zählte; der Tag wurde nicht mehr aufgespannt zwischen Cafés, Boutiquen und Theatern, sondern zwischen Supermärkten, U-Bahn-Stationen und Tankstellen. So schön wie an diesem Tag würde Manhattan nie wieder sein. Nicht für sie. Und noch etwas dachte Ulrike Becker, während sie der Fähre nach Staten Island nachsah, dem entfernten, hellen Wellengekräusel hinter dem Heck. Dass es nämlich durchaus möglich war, dass sie Sascha nur lieben konnte, weil er immer ihr privates New York, ihr inneres Paris, ihr persönliches Venedig geblieben war. Jetzt war es also so weit. Jetzt würde nichts mehr kommen, jetzt waren sie fertig miteinander. Sie alle. München, Sascha, Jo und sie. Ulrike Becker reihte sich in den Pulk der Sonnenfinsternis-Gucker ein, der von der U-Bahn-Station Olympiazentrum in Richtung Süden drängelte. Ein letztes Spektakel an diesem Ort, der zehn Jahre lang ihr Leben gewesen war, ihre Bühne. Ein letztes Drama, ein kosmisches, eines, mit dem sie nichts zu tun hatte. Erst als sie sich einen Platz auf der Wiese gesichert hatte, oben auf einem Hügel mit Blick auf den Olympiasee, wurde ihr klar, dass das Drama woanders stattfinden würde. Irgendwo da oben, von einer diskreten Wolke versteckt. Jedenfalls sah sie nichts von einer schwarzen Scheibe, die sich vor die Sonne schob. Die Wolke saß am Himmel wie eine fette Henne, und in zehn Minuten würde alles zu spät sein. Ein Himmel wie an einem hundsgewöhnlichen, trüben Tag, das Wasser im Olympiasee flüssiges Blei. Ein Langhaariger im weißen Gewand hüpfte beseelt durchs Gras und blies auf einer Flöte. Ulrike Becker bezweifelte, dass das etwas nutzen würde. Nur die Vögel. Die waren tatsächlich verstummt, so wie es vorher in der Zeitung gestanden hatte. Vielleicht hatten ihre ehemaligen Kollegen ja mehr Glück, die auf der Dachterrasse des Verlagsgebäudes im Arabellapark standen und durch ihre violett getönten SoFi-Brillen in den Himmel starrten. Kistenweise standen die Dinger im...



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.