E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Carl Der Himmel über New York
11001. Auflage 2011
ISBN: 978-3-522-65097-7
Verlag: Planet! in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-522-65097-7
Verlag: Planet! in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Verena Carl, geboren 1969 in Freiburg, lebt mit ihrer Familie in Hamburg. Wenn sie nicht gerade mit ihren Kindern spielt, arbeitet sie als freie Journalistin (u.a. Freundin, Petra, Welt am Sonntag) oder schreibt Romane für Kinder und Erwachsene. Für ihre Arbeit hat sie bereits mehrere Preise und Stipendien, u.a. zweimal den Hamburger Literaturförderpreis, bekommen.
Weitere Infos & Material
1.
Flughöhe: 9915 Meter
Geschwindigkeit: 915 km/h
Außentemperatur: –48°C
Uhrzeit am Zielort: 6:30
Uhrzeit am Abflugort: 12:30
Verbleibende Flugzeit: 7 Stunden, 37 Minuten
Noch sieben Stunden und siebenunddreißig Minuten, dann beginnt mein Leben.
Deutschland ist so groß wie mein Daumen. Nicht viel mehr als ein Fingerabdruck auf dem Bildschirm, den ich aus meiner Armlehne geklappt habe. Ein winziges Flugzeug rückt millimeterweise vor, tastet sich Stückchen für Stückchen entlang auf einem roten Halbkreis von Frankfurt über Grönland und Kanada an die Ostküste der USA.
Schade, dass ich keinen Fensterplatz mehr bekommen habe und weder Gletscher noch Packeis sehen werde. Stattdessen sitze ich auf dem mittleren Platz der mittleren Reihe. Ein Katzentisch über den Wolken, weil sich keine der beiden Flugbegleiterinnen mit den Getränkewagen für mich zuständig fühlt und ich um jede Cola kämpfen muss. 27 E – immerhin steckt eine Sieben in der 27. Das bringt Glück.
Hoffe ich zumindest. Ich kann es gebrauchen.
Links von mir schnarcht ein Männchen unter einer Schlafbrille. Rechts von mir sitzt eine Frau, die so fett ist, dass sie ihr linkes Bein unter den Sessel vor mir schieben muss, weil sie sonst nicht genügend Platz hätte. Ihre Wade reibt sich an meiner, als wären wir ein Liebespaar. Sie trägt ein zeltartiges Kleid mit schwarzen Punkten, in dem sie wie ein überdimensionaler Marienkäfer aussieht. Mit einer Zeitung fächelt sie sich Luft zu und den Geruch nach Schweiß und einem süßlichen Parfüm in meine Richtung. Ein schlechter Tausch. Aber das wird wohl die nächsten siebeneinhalb Stunden und sieben Minuten so weitergehen.
Die Landkarte auf dem Bildschirm verschwindet, macht einem tiefblauen Hintergrund und weißer Schrift Platz. Auf Kanal drei erscheint die Fluginformation auf Englisch. Time at destination: 6:34 a.m. Manhattan am Morgen, das kann ich mir vorstellen. Ich bin zwar noch nie dort gewesen, aber wer hat sie nicht im Kopf, diese New-York-Bilder? Szenen aus Filmen und Fernsehserien, aus meinen alten Englischbüchern, von den Schwarz-Weiß-Postern, die in Studentenkneipen auf dem Gang zum Klo hängen. Zum Beispiel das: Ein Saxofonspieler steht in der Morgendämmerung auf einer verlassenen Straßenkreuzung, Hochhausfassaden spiegeln sich in den schwarzen Gläsern seiner Sonnenbrille, er selbst spiegelt sich in einer Pfütze. Oder dies hier: vier Freundinnen auf dem Weg zum Brunch, beieinander eingehakt, flankiert von riesigen, bonbonbunten Tragetaschen voller neuer Schuhe, in denen kein Mensch laufen kann. Noch so ein Klassiker: Audrey Hepburn mit Perlenkette und Hochsteckfrisur trägt einen Pappbecher über die 5th Avenue spazieren. Ich setze meine Kopfhörer auf, suche nach dem Kanal Pop Classics und finde ein Lied, das ich kenne. Die Musik passt zu dem Film in meinem Kopf. What about breakfast at Tiffany’s?
Ich mache die Augen zu, stelle die Lehne zurück, drehe die Lautstärke auf und fühle mich frei. Zum ersten Mal in meinem Leben kann ich tun, was ich will. Niemand wird mich fragen, wann ich nach Hause komme und mit wem, ob ich schon gegessen habe und ob ich, verdammt noch mal, endlich mal meine Kopfhörer absetzen kann, weil man, verdammt noch mal, gerade mit mir redet. Aber wenn ich sie dann wirklich absetze und die Musik über die Lautsprecher laufen lasse, ist es auch wieder nicht recht. Weil garantiert zu laut.
Die Marienkäferfrau tippt mich an. »Könnten Sie mal die Musik leiser stellen? Dieses Gewummer geht ja durch und durch!«
Ach ja, ich vergaß: Manche Leute meckern sogar über beides gleichzeitig. Kopfhörer und Lautstärke.
Ich kann mich immer noch nicht daran gewöhnen, dass mich Leute siezen. Solange ich denken kann, waren Die Erwachsenen immer die anderen: Lehrer, Eltern, Freunde von Eltern. Auf einmal gehöre ich selbst zum anderen Lager. Seit 14 Monaten darf ich Auto fahren, eine Firma gründen oder den Bundeskanzler wählen. Meine Freundinnen bezeichnen sich nicht mehr als Mädchen, sondern als Frauen. Es gibt auch keine Jungs mehr, sondern die Männer. Keiner dieser Begriffe passt mir. Worte wie T-Shirts, in einer Größe zu eng, in der nächsten zu weit.
An meinen Nachnamen kann ich mich auch nicht gewöhnen. Wenn jemand Frau Ritter ruft, drehe ich mich um und schaue, ob irgendwo meine Mutter steht. Auch so ein Wort, in das ich erst hineinwachsen muss.
Ich setze die Kopfhörer ruckartig ab, denn ich möchte ungern in mehreren Tausend Metern Höhe mit einer 150-Kilo-Frau streiten. Schließlich muss ich es noch ein paar Stunden neben ihr aushalten. Im gleichen Moment merke ich, dass ich einen Fehler gemacht habe. Einen gewaltigen. Anscheinend hat meine Reaktion sie milde gestimmt. Jetzt lächelt sie sogar! Wahrscheinlich tut es ihr leid, dass sie mich so angefahren hat. Und jetzt will sie sich auch noch unterhalten.
»Na, auf dem Weg in den Urlaub?«, fragt sie und streckt mir die Hand entgegen. Ihre Fingerknöchel sind kleine Grübchen im Fleisch.
Ich atme tief ein und wieder aus. Also gut. Schließlich habe ich darauf gewartet, dass jemand diese Worte zu mir sagt. Wenn ich ehrlich bin, habe ich mir den Fragesteller zwar etwas glamouröser vorgestellt als meine gepunktete Reisebekanntschaft, aber man kann sich sein Publikum nicht aussuchen.
Jedenfalls weiß ich schon ganz genau, was ich antworten werde. Und jetzt probiere ich meinen Satz zum ersten Mal aus.
»Nein«, sage ich, »ich werde eine Zeit lang in New York leben.«
Der Satz hört sich gut an. Sogar noch besser als zu Hause vor dem Spiegel. Zugegeben, eine Zeit lang klingt nach mehr als den vier Wochen, um die es in Wirklichkeit geht. Aber gelogen ist es nicht.
Sie sieht mich mit einer Mischung aus Argwohn und Neugier an.
»Sie haben Verwandte in Amerika?«, hakt sie nach.
»Nicht direkt.«
»Und was haben Sie dann dort vor?«
Ich stelle die Lehne noch ein Stück zurück, um besser an ihr vorbeisehen zu können.
»Leben«, wiederhole ich und fahre mir mit der Hand durchs Haar.
»Und Ihre Eltern zahlen das?«
Ich kann mir schon denken, was als Nächstes kommt. Also, wenn Sie meine Tochter wären … Aber sie bleibt still. Hat ihr wohl die Sprache verschlagen.
Ich schließe die Augen und täusche ein Nickerchen vor. Dabei denke ich an meinen Vater. Ohne ihn säße ich nicht hier.
Zum ersten Mal haben wir im April über New York gesprochen, ein paar Wochen vor den letzten Abiklausuren. Wir saßen in einem Lokal im Schwarzwald, in das er mit mir gefahren war, weil ich es angeblich als kleines Mädchen so mochte, und an das ich mich nicht erinnern konnte. Es hieß so ähnlich wie alle anderen – Zum Goldenen Adler, Bärenhöhle, Gasthof Kreuz – und sah auch so aus: geblümte Vorhänge, Holztische, ein blauer Kachelofen in der Ecke. Spargelgerichte in 17 Variationen auf einem Extrablatt, das vorne im Kunstledereinband einer Speisekarte steckte.
Vielleicht unterhielten wir uns an diesem Abend offener, weil meine Mutter nicht dabei war. Obwohl unser Gespräch so anfing wie alle anderen, die wir in den Monaten davor zu dritt geführt hatten. Während ich ein Stück Schinken zerpflückte und die Fetzen um den Tellerrand verteilte, käute ich wieder, was mir durch den Kopf ging. Besser gesagt: das, von dem meine Eltern erwarteten, dass es mir durch den Kopf gehen müsste.
Es war die Zeit, in der mich alle fragten: »Und, was willst du werden?« Als sei ich so eine Art Insektenlarve, die sich noch entpuppen muss. Also erzählte ich wieder von den Bewerbungsbögen der Münchner Schauspielschule, vom Tag der offenen Tür an der Uni und einer Jura-Vorlesung, bei der es um den Unterschied zwischen Geld- und Freiheitsstrafen gegangen war. Von Bachelor- und Master-Abschlüssen, als stände ich an der Tafel und würde abgefragt. Danach erwähnte ich einen Studienzweig namens Online-Marketing. Ich konnte mir nichts Genaues darunter vorstellen, hoffte aber, meinen Vater zu beeindrucken. Ich fand das ganze Projekt »Erwachsenenleben« reichlich verwirrend. Ungefähr, als müsste man sich beim Chinesen etwas aus einer zentimeterdicken Speisekarte aussuchen, die zu allem Überfluss auch noch auf Chinesisch gedruckt war.
»Du weißt immer noch nicht, was du willst?«, unterbrach mein Vater mich, aber seine Stimme klang nicht ungeduldig.
»Am liebsten ganz weit weg«, hörte ich mich sagen und war erstaunt, als mir die Tränen kamen. Er nahm meine Hand und zog sie über dem weißen Spitzendeckchen auf der Tischplatte zu sich.
»Jenny«, sagte er, »ich hatte neulich eine Idee. Was hältst du davon, nach dem Abi für ein paar Wochen nach New York zu fliegen?«
»Hast du denn so lange Zeit?«
Er schüttelte den Kopf und sah mich an. »Nein. Ich bleibe zu Hause.«
»Ich soll ganz allein Urlaub in New York machen?«
»Ich glaube, du brauchst ein bisschen Abstand. Abstand von Freiburg, von deiner Mutter und mir. Und vielleicht auch von Max. Manchmal sieht man sein eigenes Leben klarer, wenn man einen Schritt zurücktritt. Wie ein Bild, das man erst aus der Distanz erkennen kann.«
Ich verstand nicht, wovon er redete.
»Was hat Max damit zu tun?«
»Manchmal habe ich den Eindruck, dass du nicht mehr so glücklich mit ihm bist.«
Er sah mich nicht an. Ich ihn auch nicht.
»Wo soll ich denn in New York unterkommen?«, fragte ich nach einem Moment unangenehmen Schweigens.
»Ich kenne jemanden dort. Eine alte Freundin von mir.«...