Cardoso | Sechzehn Frauen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Cardoso Sechzehn Frauen

Geschichten aus Rio
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-10-402329-8
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Geschichten aus Rio

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-10-402329-8
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Sechzehn Frauen, eine Stadt: eine unwiderstehliche Liebeserklärung an die Schönheit von Rio! Renata, Helena, Cíntia, Graziela, Rosana... Sie haben Träume, Affären, die eine oder andere kleine Meise, und alle wohnen sie in Rio. Sechzehn Frauen zwischen 6 und 93 Jahren feiern in diesem bunten Panorama den Zauber ihrer Stadt: Jede von ihnen lässt Rafael Cardoso mit ganz eigener Stimme von ihrem Viertel erzählen - von der Copacabana über Ipanema über das Zentrum zu den Vororten und wieder zurück. Während Helena mit einem Dealer durchbrennt, jubelt Renata ihrem untreuen Mann ein Baby unter, während Jamilly als Drogenkurierin anheuert, stürzt Bel in eine tiefe Krise, als sie das erste graue Haar an sich entdeckt. Und fast alle Frauen kennen einen gewissen Rafael... Eine opulente Hommage an Rio, das erst seine Frauen zu dem machen, was es ist: eine der aufregendsten Metropolen der Welt.

Rafael Cardoso, geboren 1964 in Rio de Janeiro, wuchs in den USA auf. Er ist Autor und Kunsthistoriker und hat bereits mehrere Bücher veröffentlicht, darunter den Erzählband »Sechzehn Frauen. Geschichten aus Rio« (2013). Seit 2012 lebt er in Berlin, wo er sich auf die Spuren seines Urgroßvaters Hugo Simon begab. Basierend auf diesen Recherchen entstand das Buch »Das Vermächtnis der Seidenraupen. Geschichte einer Familie« (2016).
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Helena, Gávea, 16


Ein herrlicher Tag am Meer – Helena, im goldenen Glanz ihrer sechzehn Jahre, warf lachend den Kopf in den Nacken. Dass sie gerade den glücklichsten Augenblick ihres Lebens genoss, war ihr nicht bewusst, wie auch? Über derlei denkt man erst später nach, wenn man sich wehmütig all die verpassten Gelegenheiten vor Augen führt. Solange man lebt, gibt es auch Hoffnung, dass es besser werden kann, dass sich die verlorene Zeit aufholen lässt, dass es noch einmal aufwärtsgeht. Erst mit dem Tod kommt das Leben endgültig ans Ziel, erst dann lässt sich sein Verlauf genau zurückverfolgen – doch die Toten interessieren sich nicht für das Auf und Ab einer Biographie. Aber lassen wir die Toten beiseite, Helena war schließlich noch am Leben, und wie! Ganz und gar ihrem Dasein hingegeben war sie, nie wieder sollte sie die innere und äußere Welt so mühelos als Einheit erleben. Kein Zweifel, für sie ging es im Augenblick aufwärts.

Bê reichte ihr den Joint, und sie zog wieder daran. Als sie dem Rauch hinterhersah, traf ihr Blick auf den roten Sonnenball, der in einer Explosion aus Rosa-, Lachs- und Grautönen hinter dem Morro Dois Irmãos versank. Am Himmel drehten sich Spiralen aus geschmolzener Schokolade und Maracujasirup, die weiter unten ineinanderflossen und sich über dem purpurroten Meer vor dem Strand von Ipanema ausbreiteten, aus dem sich hier und da vor dem tief orangefarbenen Horizont die schwarzen Umrisse der Inseln erhoben. Helena musste an das gestreifte T-Shirt denken, das sie Leo zum Geburtstag geschenkt hatte. Irre, dass der Himmel so bunt wie ein T-Shirt sein konnte! Aber was war das eigentlich für eine schwachsinnige Feststellung? Fast so schwachsinnig wie ihre Hausangestellte, die imstande war zu sagen, eine Blume sei so schön, man könne fast meinen, sie sei aus Plastik. Oder ein Stück Obst. Aus Plastik. Obst. Hausangestellte. Essen. Hunger. Die Vorstellungen begannen immer heftiger in ihrem bekifften Kopf zu kreisen, doch da wurde sie von Manus Stimme unterbrochen:

»Schau mal, da kommt Leo.«

Mit dem Surfbrett unterm tätowierten Arm stieg er aus dem Meer. Von der Hautschutzcreme und den vielen im Wasser zugebrachten Stunden klebte ihm das blonde Haar im Nacken. Helena sah, wie er auf sie und die kleine Gruppe ihrer Freunde zukam, seinen langen, gelenkigen Hals, die schlanken Hüften. Wirklich hübsch, mein süßer kleiner Geliebter, sagte sie sich. Oha, was war das denn? Süß? Klein? Was für Ausdrücke hatten sich da bei ihr eingeschlichen? Mein süßer Kleiner. Süßer. Kleiner. Süßer Kleiner, süßer Kleiner, süßer Kleiner … Die beiden Worte schienen auf einmal wie eine elektronische Laufschrift vor ihr über den Horizont zu wandern. Seit wann war irgendetwas an Leo süß oder klein? Sie waren jetzt sechs Monate zusammen, und nie war ihr im Zusammenhang mit Leo etwas anderes als der Superlativ angemessen erschienen. Alles hatte damit angefangen, dass sie sich Hals über Kopf in ihn verliebt hatte, sie hatte jeglichen Appetit verloren, war nächtelang wach gelegen, hatte in nichts mehr einen Sinn erkennen können, es sei denn, es hatte mit ihrer großen Liebe zu tun. Dann hatte die eigentliche Liebesgeschichte begonnen. Der erste Kuss. Das erste Mal. Das zweite, dritte, vierte Mal, und die zahllosen Male danach, zu jeder Tages- und Nachtzeit, immer wenn sie es irgendwie geschafft hatten, allein zu sein. Manchmal auch nicht ganz allein, zum Beispiel in Manus Zimmer, bei deren Geburtstag. Oder im Bad bei Bê, als sie dort im Garten gegrillt hatten. Oder auf dem Schiff von Leos Vater, während alle anderen schliefen. Und seit ein paar Wochen konnte man ihre Liebe tatsächlich als eine Beziehung betrachten, fand Helena jedenfalls. Immerhin waren sechs Monate ihr bisheriger Rekord. Während der ganzen Zeit war Leo ihre unvergleichliche Liebe gewesen, der Mann ihres Lebens: Groß, gutaussehend, stark, zärtlich, attraktiv, kurz: in jeder Hinsicht der Tollste von allen.

Aber wieso hatte sie ihn dann gerade eben als ›mein süßer Kleiner‹ bezeichnet? Zugegeben (ihr blieb nichts anderes übrig), so gut sah er auch wieder nicht aus, Brad Pitt war er nicht. Er war ein hübscher Kerl, ganz bestimmt, aber ein bisschen unreif war er auch. Ehrlich gesagt, hatte sie manche seiner Kindereien inzwischen ein bisschen über: Es war einfach albern, dass er die ganze Zeit Yakult trank, das war doch was für Kinder, und ständig diese Eifersucht (als ob sie auf diesen grässlichen Paulinho Bernardes stehen würde, nur weil der einen Job als Schauspieler bei Globo TV hatte – ein alter Knacker, der Typ war bestimmt fast dreißig); außerdem hockte er dauernd mit seinen Surfer-Freunden zusammen (letzten Samstag hatte er sie alleine sitzenlassen, nur weil er sich bei Bocão zu Hause unbedingt ein Surf-Video ansehen musste). Leos kleine Welt beschränkte sich auf Strand, Wellen, Gras und Reggae. Und wenn es etwas gab, was Helena nervte, dann Reggae. So eine Schrottmusik. Helena war schon seit längerem auf der Suche nach etwas anderem, sie wollte Schauspielerin werden. Sie hatte Kurse am Theater belegt, und im März wollte sie an der Casa das Artes anfangen, in Laranjeiras, angemeldet hatte sie sich schon. Leo interessierte das alles nicht. Was der Unterschied zwischen Stanislawski und Stanley Kowalski war, hätte er nicht sagen können. Hätte ihn jemand danach gefragt, hätte er wahrscheinlich geantwortet, das Erste müsse irgendwas mit Anabolika zu tun haben, und Kowalski sei doch der Bassist von Motörhead. Jedenfalls – und das fand Helena noch schlimmer – tat er immer, als wüsste er genau Bescheid, selbst wenn er keine Ahnung hatte. Deswegen hatten sie auch regelmäßig Streit, immer wenn Leo hartnäckig auf dem größten Schwachsinn bestand, kriegten sie sich in die Haare. Das war auch beim letzten Mal so gewesen, da hatten sie so heftig gestritten, dass sie danach zwei Tage nicht mehr miteinander gesprochen hatten. Leo wollte sich einfach nicht ausreden lassen, dass Bali die Hauptstadt von Indonesien sei, das muss man sich mal vorstellen. Na gut, er hatte auch seine netten Seiten. Zur Versöhnung hatte er ihr damals diesen riesigen Plüsch-SpongeBob geschenkt – manchmal war er wirklich süß! Süß? Mein kleiner Süßer … Eben, Leo war auf einmal nur noch süß. So ein Mist.

Kaum war Leo bei seinen Freunden angekommen, kam er auf Helena zu und drückte ihr einen Kuss auf die Lippen. Ebenso schnell drehte sie den Kopf zur Seite und tat dabei, als müsste sie unbedingt den Rauch ausstoßen, den sie schon so lange inhaliert hatte. Sie merkte, dass ihm nicht entging, wie heftig sie sich abwandte. Für einen kurzen Moment erschien auf seinem Gesicht der traurige Hundeblick, den er sonst nur aufsetzte, wenn er sich im Innersten verletzt fühlte. Gut so, sagte sich Helena, dann lernt er endlich, mir mehr Raum zu lassen.

Auf einmal stand ein Junge vor ihnen, der Flyer verteilte. Er drückte jedem von ihnen einen in die Hand.

»Hier, Leute, geile Party, morgen in der Fundição Progresso.«

Helena bestaunte die langen Dreadlocks des Jungen. Er hatte sie im Nacken locker zusammengeknotet. Wie die Schlangen am Haupt der Medusa verteilten sie sich in wilden Windungen über seine glänzend schwarze Haut. Von den Haaren richtete sie den Blick auf sein strahlend weißes Lächeln und ließ ihn dann verstohlen an dem glatten Körper hinunterwandern, bis sie bei dem knallig gelben Badeslip angekommen war. Der Stoff spannte sich gefährlich, es war nicht zu übersehen. Ob es stimmte, was die anderen erzählten? Sie musste insgeheim über sich lachen und senkte den Blick rasch zu Boden. Gleich darauf ließ sie ihn an Leos Beinen wieder hinaufgleiten, über die weitgeschnittenen bunten Bermudashorts, die ihm von den Knien bis über die Hüften reichten. Bei seinem Gesicht angekommen, stellte sie fest, dass er damit beschäftigt war, den Flyer zu lesen. Dabei bewegte er leise die Lippen. (Oh nein!) Sie nahm sich selbst den Flyer vor:

TECHNO FUNK X-SALADA

MC Lucky und Gäste

2 Dancefloors und Aquädukt-Lounge

Samstag, 26. Februar, ab 22.30 Uhr

DJ Cassiano (funk & black music)

DJ Rafael (electro & pop rock)

D Doctor J (techno & house)

MC Strike Z (hip-hop)

Eintritt: R$ 24 – mit Flyer: R$ 20 – Studenten: R$ 12

Zutritt ab 18 Jahren

Location: Fundição Progresso – Rua dos Arcos, 24 – Lapa

Sponsored by Pintoff Ice

Manu gab als Erster einen Kommentar ab:

»Krass, meine Kusine war bei der Party in Rocinha, wo MC Lucky aufgelegt hat, sie hat gesagt, es war total geil.«

»Dieser Cassiano ist auch nicht schlecht. Voll old school«, bekräftigte Bê.

»Dann lass uns doch hingehen«, sagte Helena. »Diesen Rafael hab ich schon mal im Circo gesehen, der ist super, total gut zum Tanzen.«

Nur Leo musste mal wieder aus der Reihe fallen:

»Ach nee, nicht mit mir, Funk bringt’s einfach nicht.«

»Mann, Leo, das is nich bloß Funk. Die spielen auch andere Sachen. Komm, lass uns hingehen«, erwiderte Manu.

»Echt, Leo, immer musst du übertreiben. Das wird bestimmt total geil.« Auch Bê wollte nicht nachgeben.

Aber Leo blieb dabei:

»Nee, Mann. Ohne mich. Ich hasse Funk. So was hören bloß Gangster und die aus den Favelas.«

»Na gut, du musst...


Cardoso, Rafael
Rafael Cardoso, geboren 1964 in Rio de Janeiro, wuchs in den USA auf. Er ist Autor und Kunsthistoriker und hat bereits mehrere Bücher veröffentlicht, darunter den Erzählband 'Sechzehn Frauen. Geschichten aus Rio' (2013). Seit 2012 lebt er in Berlin, wo er sich auf die Spuren seines Urgroßvaters Hugo Simon begab. Basierend auf diesen Recherchen entstand das Buch 'Das Vermächtnis der Seidenraupen. Geschichte einer Familie' (2016).

Kultzen, Peter
Peter Kultzen, geboren 1962 in Hamburg, studierte Romanistik und Germanistik in München, Salamanca, Madrid und Berlin. Er lebt als freier Lektor und Übersetzer spanisch- und portugiesischsprachiger Literatur in Berlin.

Rafael CardosoRafael Cardoso, geboren 1964 in Rio de Janeiro, wuchs in den USA auf. Er ist Autor und Kunsthistoriker und hat bereits mehrere Bücher veröffentlicht, darunter den Erzählband 'Sechzehn Frauen. Geschichten aus Rio' (2013). Seit 2012 lebt er in Berlin, wo er sich auf die Spuren seines Urgroßvaters Hugo Simon begab. Basierend auf diesen Recherchen entstand das Buch 'Das Vermächtnis der Seidenraupen. Geschichte einer Familie' (2016).
Peter KultzenPeter Kultzen, geboren 1962 in Hamburg, studierte Romanistik und Germanistik in München, Salamanca, Madrid und Berlin. Er lebt als freier Lektor und Übersetzer spanisch- und portugiesischsprachiger Literatur in Berlin.

Rafael Cardoso, geboren 1964 in Rio de Janeiro, wuchs in den USA auf. Er ist Autor und Kunsthistoriker und hat bereits mehrere Bücher veröffentlicht, darunter den Erzählband »Sechzehn Frauen. Geschichten aus Rio« (2013). Seit 2012 lebt er in Berlin, wo er sich auf die Spuren seines Urgroßvaters Hugo Simon begab. Basierend auf diesen Recherchen entstand das Buch »Das Vermächtnis der Seidenraupen. Geschichte einer Familie« (2016).

Peter Kultzen, geboren 1962 in Hamburg, studierte Romanistik und Germanistik in München, Salamanca, Madrid und Berlin. Er lebt als freier Lektor und Übersetzer spanisch- und portugiesischsprachiger Literatur in Berlin.



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