E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Capuana Giacinta
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-641-20740-3
Verlag: Manesse
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
ISBN: 978-3-641-20740-3
Verlag: Manesse
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Giacinta Marulli ist eine erstaunliche Heldin: Kühl lächelnd und scheinbar berechnend verdreht die junge Frau den Männern den Kopf. Nur hinter vorgehaltener Hand ist von ihrer gestohlenen Kindheit die Rede, die in einer Vergewaltigung ihren traurigen Höhepunkt fand. Als der öffentliche Tratsch meint, aus dem Opfer eine verschlagene Täterin machen zu müssen, emanzipiert sich Giacinta und sucht erhobenen Hauptes ihr Seelenheil: in der Heirat mit einem Conte und der gleichzeitigen Liebschaft mit dem Mann ihres Herzens.
Luigi Capuana ist ein genauer Beobachter, der in seinem Roman ein ganzes Panorama kräftig durchbluteter Figuren aus der italienischen Provinz schuf. Lebhaft und detailverliebt erzählt er nach einem wahren Fall das Leben einer tragischen und selbstbewussten Heldin.
Luigi Capuana (1839-1915), Sohn sizilianischer Landbesitzer, lebte nach einem abgebrochenen Jurastudium als Theaterkritiker in Mailand, Florenz und Turin. Er schrieb zahlreiche Novellen, drei Romane und sammelte Volksmärchen. 'Giacinta' wurde bei Veröffentlichung zu einem Riesenerfolg. 1886 erschien nach empörtem Echo der Kritik eine zweite, 'entschärfte' Version.
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I
«Herr Oberst!», sagte Giacinta, hakte sich vertraulich bei ihm unter und zog ihn mit mädchenhafter Lebendigkeit ein Stückchen Richtung Terrassentür. «Stimmt es», fuhr sie flüsternd fort, «dass Hauptmann Brogini eine hässliche alte Geliebte hat, die ihn noch dazu schlägt?»
«Verzeihen Sie, mein Fräulein …», entgegnete der Oberst, der auf diese Frage hin aufgehört hatte zu lächeln und tiefernst dreinblickte.
«Wie üblich, die Skrupel!», rief Giacinta verächtlich mit einer trotzigen Geste, die den Offizier um ein Haar aus der Fassung gebracht hätte. «Es handelt sich um eine Wette; sagen Sie schon, tun Sie mir den Gefallen; danach können Sie mich schelten, wenn Sie denn wollen …»
«Ich schelte Sie nicht, dazu habe ich weder das Recht noch die Befugnis», antwortete der Oberst, nun ein wenig milder gestimmt. «Ich schätze Sie ungemein und habe Sie …»
«… sehr gern!», unterbrach ihn Giacinta lachend.
«So sehr, dass ich nicht ohne Missfallen mit ansehen kann, wie Sie sich zu einer Leichtsinnigkeit hinreißen lassen, und sei sie auch noch so unbedeutend.» Um Würde bemüht, zwirbelte der Oberst seinen Schnurrbart.
«Habe ich mich etwa falsch verhalten?», fragte Giacinta etwas verärgert durch die Art und Weise, wie sie sich behandelt fühlte.
«Sie haben sich nicht richtig verhalten, zumindest nicht hier, inmitten all dieser Leute, die stets alles böswillig auslegen, selbst die harmlosesten Dinge.»
«Oh!», erwiderte Giacinta achselzuckend und schüttelte, finster dreinblickend, verächtlich den Kopf.
«Lassen Sie das. Die Etikette …», tadelte sie der Oberst.
«Stimmt es oder stimmt es nicht, dass Hauptmann Brogini …», fiel ihm Giacinta ins Wort und sah ihn herausfordernd mit koketter Ungeduld an.
«Bitte sehr!», sagte der Oberst unvermittelt.
Er rollte einen hinter ihm stehenden Sessel zu sich herum und stellte einen herbeigeholten Stuhl dicht daneben.
«Setzen Sie sich bitte einmal für zehn Minuten hin.»
Giacinta sah ihm kurz in die Augen, dann machte sie es sich, den Kopf in den Nacken geworfen, den Blick abgewandt, im Sessel bequem. Ein Bein, etwas weiter vorgestreckt als das andere, gab die Spitze ihres Stiefelchens unter dem Volant ihres Kleides preis.
Die kleine und zierliche Gestalt, derart eingesunken in die weichen Polster und wie modelliert durch den Faltenwurf ihres Kleides, erinnerte an ein Juwel in einem Kästchen aus azurblauem Samt und weicher Watte in Rosé.
Der Oberst setzte sich so hinter sie, dass er ihr möglichst nahe war; das Kinn auf die Rückenlehne ihres Sessels gestützt, begann er leise mit ihr zu sprechen, wobei er ab und zu innehielt, um in ihrem Gesicht zu lesen, wie sie das aufnahm, was er ihr da eins ums andere sagte. Giacinta deutete bald ein Ja oder Nein mit dem Kopf und dem zierlichen Schildpattfächer an, den sie in ihrer Rechten hielt, bald riss sie ihre schönen tiefschwarzen Augen weit auf, dann wieder schürzte sie mit gerunzelter Stirn verdrießlich die Lippen – da aber hielt der Oberst sogar mitten im Satz inne, unsicher und zögerlich, ob er fortfahren solle.
Ein Lächeln der Genugtuung, das alsbald auf Giacintas stolze Haltung folgte, begleitet von einem langen gesenkten Blick und einem leichten Kopfnicken, ließ bestens erkennen, wann der Oberst seinen Standpunkt geändert oder besser erläutert hatte. Etliche Male jedoch warf er sich nach einer ihrer sprechenden Gesten in die Brust und nagte an seinem Schnurrbart, ganz so, als drängte es ihn zur Widerrede und allein der Anstand hielte ihn zurück. Nach solch einem Moment folgte verlegenes Schweigen. Keiner der beiden wusste für eine Weile an die Unterhaltung anzuknüpfen – bis Giacinta den Oberst schließlich direkt ansah, der wieder seine anfängliche Position eingenommen hatte, sich mit der Fächerspitze an die Lippen tippte und ein «Also?» oder ein «Und dann?» hervorstieß, worauf eine Antwort folgte.
An diesem Abend war der Salon des Hauses Marulli nicht übermäßig voll. Vier oder fünf Damen und vielleicht ein gutes Dutzend Herren insgesamt: die Gattin des königlichen Staatsanwalts, eine fettleibige Blonde, die augenscheinlich das Mieder ihres Kleides sprengen wollte und überdies vor Schweiß troff wie ein Schwamm. Außerdem die Schwester des Registereinnehmers1, hager, ja spindeldürr, graue Haare über einem Pferdegesicht, das rechte Auge derart schielend, dass man sie keine zwei Minuten ansehen konnte, ohne Kopfschmerzen zu bekommen, sowie deren Nichte, eine sympathische zarte Brünette, die schleppend sprach und gefühlsselig die Augen gen Himmel hob. Alle drei saßen in der Mitte des Salons auf einer S-förmig geschwungenen Causeuse2, umringt von Männern, die teils ebenfalls saßen, teils standen. Sie unterhielten sich lautstark, lachten schallend. Die kreischende Schwester des Registereinnehmers, eine boshafte, klatschsüchtige alte Jungfer, brachte die Unterhaltung immer wieder wie eine misstönende Geige aus dem Takt. Ihr gegenüber stand Advokat Ratti mit der spöttischen und lebhaften Miene eines Äffchens und gab hampelnd und fuchtelnd in mehreren Anläufen eine Geschichte zum Besten, die lärmende Heiterkeit hervorrief und kein Ende nehmen wollte.
Signora Marulli, in einem strengen schwarzen Kleid mit blendend weißer Halskrause, die ihre perfekt geschwungene Halslinie und ihren bildhübschen Kopf in Van-Dyck-Manier3 betonte, disputierte in einer Ecke mit der Frau eines reichen Aktionärs der Banca Agricola Provinciale. Sie schien ihr Gegenüber von etwas überzeugen zu wollen, was jene beharrlich und mit Nachdruck von sich wies; wiewohl in diese Unterhaltung vertieft, wanderte ihr Blick doch regelmäßig zum Oberst und zu Giacinta, um vielleicht das eine oder andere Wort, wenn nicht gar einen Satz von deren halblaut geführter Unterhaltung aufzufangen. Nicht dass Signora Marulli verärgert über den allzu vertraulichen Umgang der beiden gewesen wäre, im Gegenteil, sie schien darüber eher erfreut zu sein. Ihre Neugier galt einzig dem Ergebnis, sie brannte darauf zu erfahren, ob es sich eventuell in die von ihr erhoffte Richtung entwickelte. Dabei schaute sie so gekonnt unauffällig umher, dass der Oberst, der mehrmals ihre forschenden Augen auf sich gerichtet sah, niemals auf die Idee gekommen wäre, ins Visier einer Mutter geraten zu sein, die auf der Suche nach einer guten Partie für ihre Tochter war.
Wer indes mit offensichtlichem Interesse den Oberst und Giacinta beäugte, war ein junger Mann um die dreiundzwanzig, braunes Haar, eher mager, die Augen, obschon ein wenig tief liegend, erfüllt von Feuer, die vollen, sinnlichen Lippen überschattet vom Hauch eines Oberlippenbärtchens, ein gescheiter Kopf, tadellos frisiert, von vornehmer Ausstrahlung, die durch die Eleganz seiner Kleidung noch unterstrichen wurde. Er saß am Klavier, in Blickrichtung Giacintas; die Dame, die mit ihm sprach, kehrte ihr den Rücken zu. Während die Signora überaus lebhaft plauderte, wobei sie die Bänder, Blumen und Ranken ihrer aufgetürmten Frisur tanzen ließ, hörte er ihr zerstreut zu, nagte verhalten an seiner Unterlippe, zupfte mit Daumen und Zeigefinger an den kaum sichtbaren Haarspitzen seines zaghaft sprießenden Bärtchens. Ein ums andere Mal wanderte er mit seinen Fingern über die Klaviertasten und schlug dumpfe, unzusammenhängende Töne an, die wohl irgendwie in Verbindung mit dem standen, was in seinem Innersten gärte. Dann wieder sah er zum Oberst, durchbohrte ihn mit einem kurzen, durchdringenden Blick, einem Blick reinster Eifersucht, den dieser nicht wahrnahm und von dem sich Giacinta, die ihn sehr wohl erfasst hatte, wenig beeindruckt zeigte.
Sie hatte den Oberst mehrmals scherzhaft mit der Frage unterbrochen: «Und was ist mit den zehn Minuten?» Der jedoch, immer mehr in Fahrt geratend, redete ohne Unterlass weiter, was den jungen Mann so sehr in Rage brachte, dass er sich kaum noch zügeln konnte.
Wohl zum zwanzigsten Mal, glaube ich, schleuderte Andrea Gerace seine flammenden Blicke über das Notenpult hinweg. Die Dame hatte in der Hitze des Gesprächs nichts davon bemerkt. Umso verblüffter war sie daher, als er auf einmal den Kopf hob, sie mit kaum verhohlener Verachtung ansah und mit der Hand das Notenpult packte, als wollte er es jeden Moment vom Klavier abreißen und auf jemanden werfen.
Just in diesem Moment schien das Gespräch zwischen dem Oberst und Giacinta eine Wende zu beinahe bedenklicher Intimität zu nehmen. Der Oberst beugte den Kopf noch ein wenig weiter als zuvor über die Rückenlehne des Sessels, in dem Giacinta fast schon lag, und sein Gesichtsausdruck, insbesondere seine Augen, verrieten, dass er ihr gerade verführerische Schmeicheleien ins Ohr flüsterte, die sie sich mit gesenkter Stirn anhörte. Dabei nagte sie am Ende ihres Fächers, atmete heftig und wurde, offenkundig im Bann starker Gefühlsregungen, wechselweise rot und blass.
Der Oberst hatte zu guter Letzt tatsächlich noch seine eloquente Ader entdeckt. Mehrere Abende schon war er mit der unverbrüchlichen Absicht gekommen, Giacinta in einen stillen Winkel zu ziehen, möglichst auf der Terrasse, und ihr dort, ohne lange Vorreden, ohne Umschweife zu sagen: «Signorina! Seit Längerem sollten Sie bemerkt haben, dass ich Sie liebe. Falls Ihrerseits keine Einwände bestehen, würden Sie mir dann gestatten, morgen um Ihre Hand anzuhalten?»
Aber stets hatten ihn, kaum war er in den Salon getreten, mit einem Schlag sein überbordender Mut und Enthusiasmus verlassen.
Oberst Ranzelli (ein sympathischer Abkömmling einer...