E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Caparrós Väterland
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-8031-4275-7
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-8031-4275-7
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Buenos Aires, 1933. Die Krise ist überall, die Stadt ein Pulverfass. Ablenkung bietet nur der Fußball, der gerade als Volksdroge entdeckt wird. Ausgerechnet jetzt verschwindet der berühmteste Spieler des Landes – angeblich um mehr Gehalt von seinem Verein River Plate zu erpressen. Oder hat er doch etwas zu tun mit dem mysteriösen Tod eines Mädchens aus der Oberschicht?
Andrés Rivarola, ein charmanter Tagedieb und verhinderter Tangodichter, will eigentlich nur einem Bekannten, dem Kokain-Dealer des Fußballers, aus der Patsche helfen. Mit dabei: Raquel, eine polnische Jüdin mit zurückgegelten roten Haaren, die elegante Herrenanzüge trägt und wenig von festen Bindungen hält. Sie ist entschlossen, die Wahrheit über den Tod ihrer Freundin herauszufinden. Ungebremst schlittert das Duo in eine politische Verschwörung hinein, die um einige Nummern zu groß ist für die beiden.
Mit viel Sprachwitz lässt Martín Caparrós das Buenos Aires der dreißiger Jahre lebendig werden: halbseidene Bars, verqualmte Zeitungsredaktionen, skurrile Nebenfiguren, Dichtercafés, faschistische Aufmärsche, dampfende Schlachthöfe – ein Tango am Abgrund.
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Und genau in dem Moment denk ich an San Martín. Nicht an den Martín Fierro, nicht an Sarmiento, nicht an das scheue Gürteltier Yrigoyen, nicht an die Pulpera de Santa Lucía, nein, an San Martín. Ich denk an ihn und muss den Kopf schütteln, und warum auch immer sage ich zu Gorrión, was wohl unser großer Volksheld dazu sagen würde, wenn er sehen könnte, wie es um uns steht: ja, dass wir am Arsch sind, Bruder, vergiss nicht, wie gut wir drauf waren, vorn mit dabei, echte Titelkandidaten, und jetzt langt es gerade noch zum Unentschieden. Jetzt kracht alles zusammen, sind wir mittendrin im Rette-sich-wer-kann, willst du was zu fressen, nimmst du einem anderen das Brot weg, hast du Arbeit, tust du so, als hättest du keine, damit kein anderer sie dir wegschnappt. Und wenn uns das schon wehtut, sage ich, dann stell dir vor, wie das erst für den armen San Martín sein muss, bei all der Mühe, die er mit dem Krieg hatte, bei all den falschen Hoffnungen, die er sich gemacht hat. Oder für die Millionen armer Teufel, die von so weit hergekommen sind, meine Alte, die Ärmste, so viel Arbeit, so viel Plackerei, so viele Träume, und jetzt das. Mein armer Alter, der das zum Glück nicht mehr erleben muss. Obwohl, stell dir vor, sie wären in Italien geblieben, sage ich, der Hunger, die Angst, die sie jetzt hätten wegen diesem Schwachkopf, diesem Pfannkuchengesicht mit seiner lächerlichen Kellnermütze aus dem Copacabana. Oder auch nicht, wer weiß, vielleicht wären sie ja begeistert und würden dem Duce zujubeln wie all die anderen Idioten. Also war es letztlich doch besser, dass sie gekommen sind, sage ich, selbst wenn’s nur für das hier war. Aber stell dir vor, jemand hätte ihnen gesagt, sie würden sich hier, im Land der Träume und großen Illusionen, im berühmten Ardschentina, den Arsch für ein Stück Brot aufreißen müssen, sage ich und hole Luft, um meine Schimpftirade fortzusetzen, doch Gorrión Ayala nutzt die Unterbrechung, um mir zu sagen, ich solle den Mund halten und spielen, er habe es satt, mir zuzuhören. Los, Pibe, mach schon, uns läuft die Nacht davon. Oder kommt uns schon entgegen. Manche nennen es Piff. Andere auch Tsssss und Fiuuu oder ähnlichen Blödsinn – Geräusche, wenn die Wörter versagen. Es ist fast drei Uhr morgens, die Piffs nehmen zu. Das Queue weiß nicht mehr, wie und wohin es stoßen soll, damit die Kugel ihr Schicksal erfüllt und gehorsam über den grünen Filz rollt, an drei Banden abprallt und die Kugel trifft, die sie treffen soll. Der Besitzer des Queues weiß es noch weniger. Das Piff schallt durch den Raum. »Scheiße, Gorrión, wollen wir nicht lieber aufhören?« »Warum, hast du was Besseres vor?« »Nein, aber ich hab auch nichts in der Tasche, um dich zu bezahlen, wenn du jedes Mal gewinnst.« Ich bin der Großmeister des Piffs. Erschöpft wische ich mir mit dem aufgekrempelten Ärmel meines weißen Hemds über die Stirn. Ich trage es wie immer offen, ohne eine einzige Falte. Ich greife nach dem halbvollen Bierglas auf dem Marmortischchen an der Wand. »Keine Sorge, Pibe. Du weißt ja, wie sehr ich’s mag, wenn du mir was schuldest.« Gorrión schenkt mir ein Grinsen voller fauler Zähne, während ich mich auf den nächsten Stoß zu konzentrieren versuche. Im Untergeschoss des Los 36 Billares herrscht eine Bullenhitze, die Ventilatoren bewegen kaum die verrauchte, stickige, fast vollständig verbrauchte Luft. Die niedrigen Lampen verwandeln jeden Tisch in eine einsame Insel inmitten eines Schattenmeers. Viele sind besetzt: Männer und noch mehr Männer, Zigaretten, Schweißgeruch, Flüche. »Ich kann nicht glauben, dass ich schon zwei Stunden Zeit und Kohle mit diesem Schwachsinn vergeude.« »Zwei Stunden?« Fragt Ayala, und ich will einen Blick auf meine Armbanduhr werfen. Da fällt mir ein, dass ich sie letzte Woche verpfändet habe. Hinten an der Wand zeigt eine große Uhr – mit freundlicher Unterstützung von Licor de los 8 Hermanos – an, dass es siebzehn nach drei ist. »Ja, Gorrión, zwei Stunden, zweieinhalb.« »Und die zehn Jahre davor?« Ich sehe ihn an, seufze, fahre mir mit der Hand durchs Haar – die Erleichterung, sich mit den Fingern in diesem dunklen Gestrüpp zu verheddern. Noch habe ich Haare. »Naja, es gab auch Jahre, da ging’s mir wunderbar.« »Als deine Mami dir noch die Brust gegeben hat.« »Red keinen Stuss, Gorrión. Wirklich, ich hatte meine Momente.« Ich suche nach der Kreide, als mein Blick auf den großen Wandspiegel fällt – das Glas fast blind, die Cynar-Reklame kaum noch lesbar –, und was ich sehe, gefällt mir nicht. »Und dann bist du aufgewacht.« Der Spiegel zeigt dreißig schlecht gelebte Jahre, Augenringe, einen Zweitagebart. Abgesehen davon bin ich schlank, habe ein markantes Gesicht, hellbraune Augen und ein Lächeln, das verführerisch sein könnte, wenn es nicht meins wäre. »Dann sind die Frauen aufgewacht, Gorrión, das war das Problem. Und dazu noch diese ganzen Plagen, die Seuche. Was für Arschlöcher. Und jetzt sagt dieser Fettwanst Justo, die Krise sei vorbei. Seine vielleicht, so ein Scheißkerl. Und ich schieb weiter Kohldampf wie der größte …« Ayala schafft vier Karambolagen nacheinander. Er spielt gelassen, sicher. Ich sehe ihn neidisch an, versuche Respekt oder liebevollen Neid zu zeigen. Was nicht einfach ist. Ayala ist dünn wie ein Besenstiel, hat schütteres Haar, einen krummen Rücken, eine krumme Nase. Der Typ von Mann, den Frauen fragen, ob er gut verdient – wenn sie ihn überhaupt was fragen. Über den Tisch gebeugt, die Hände am Queue, dreht er den Kopf zur Seite und sieht mich an. »Hast du’s mal mit Arbeit versucht, Pibe?« »Leck mich, Gorrión. Wenn du mir so kommst, geh ich pennen.« »Als ob man bei der Hitze schlafen könnte …« Ayala legt die Kugeln in Position, um die nächste Partie zu beginnen. Ich frage nach einer Zigarette, er hält mir seine Schachtel hin: »Laponia, erfrischend mit Menthol«. »Scheiße, Gorrión, so was kann man doch nicht rauchen.« »Nicht? Manche von uns müssen sich nicht beweisen, dass sie Männer sind.« Hinten im Salon kommt ein Zeitungsjunge die Treppe herunter und ruft die Namen der Morgenzeitungen aus: Nación, Crítica, Prensa, El Mundo. Ich brülle: »Bartolo, hierher!« Der Zeitungsjunge kommt zu uns. Er hat schon einige Jahre auf dem Buckel, eine schief sitzende Mütze, Knickerbocker, die abgelaufensten Schuhe in einer Stadt der abgelaufenen Schuhe. Und er hat einen groben italienischen Akzent: »Wie ofte ich musse Ihne sage, dass ich nich heiße Bartolo, Scheffe?« »Beruhig dich, Bartolo, ich sag’s nie wieder.« Der Zeitungsjunge hält mir La Nación hin, und ich sehe ihn mit meinem schönsten Lächeln an. »Für wen hältst du mich, ein Zylindergesicht? Gib mir die Crítica, ich will mich ein bisschen amüsieren.« »Wie immer Sie wunsche, Scheffe. Wenn eine Mann nich kenne seine eigene Gift …« Auf der Titelseite der Crítica prangt die Schlagzeile: »Wo steckt die Bestie?« – und darunter das Foto eines jungen Fußballspielers. Ich betrachte es ohne großes Interesse. Ayala reißt mir die Zeitung aus den Händen. »Bernabé!« »Ja, Bernabé – und? Bist du jetzt auch verrückt nach diesem Blödsinn?« »Was für ein Blödsinn, Bruder?« »Fußball, was sonst.« Ayala seufzt, macht große Augen, liest laut vor: »Die Sorge wächst. Wie die Führungsriege des Club Atlético River Plate bekannt gab, ist der wichtigste Spieler des Vereins, der Mittelstürmer Bernabé Ferreyra, dem Trainingsauftakt nach den Weihnachtsferien ferngeblieben …« »Spielst du jetzt, Gorrión, oder hast du dich in ein Radio verwandelt?« »Mann, Pibe, die Sache ist ernst. Auch wenn du’s nicht glaubst, sie ist verdammt ernst. Wenn der Kerl nicht bald wieder auftaucht, bin ich am Arsch. Wenn ich Glück habe.« Ayala weiß alles über Bernabé. Wir bestellen noch zwei Bier, setzen uns, um in Ruhe zu rauchen, und er fängt an zu erzählen. Ein bisschen was weiß ich natürlich auch: Der Kerl ist so berühmt, dass eine Zeitung vor ein paar Wochen schrieb, er sei »der erste Bürger des Landes«, der berühmteste Typ von ganz Argentinien. Inmitten von Putsch, Krise, Elend war Bernabé Ferreyra die einzig gute Nachricht: ein Crack ohnegleichen. Zwei Jahre zuvor, im Sommer 1931, hatte der Fußball Farbe bekannt. Längst war Fußball viel zu beliebt, um weiter zu behaupten, man spiele nur um die Ehre von ein paar verblichenen Trikots. Die Spieler der ersten Liga kassierten schließlich seit Jahren, keiner besonders viel, nicht genug, um reich zu werden, aber sie bekamen anständige Löhne, sodass die Besten von ihnen nicht mehr zusätzlich arbeiten mussten, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, und sich voll und ganz dem Training widmen konnten – oder ihre Eier schaukelten, sagt Ayala. Und das sei ja auch nur gerecht: Die Stadien waren immer voller, die Fans zahlten Eintritt, die Clubs sahnten ab. Es konnte nicht angehen, dass die Spieler als Einzige kein Stück vom Kuchen abbekamen. »Offenbar hat Boca am besten bezahlt, um die hundert Mäuse pro Woche, und bei den anderen großen Clubs waren es um die siebzig, achtzig. Aber das war noch gar nichts.« Ich frage, was das heißen soll, gar nichts, dass ich von hundert Mäusen die Pension bezahlen und einen Monat leben kann. Ayala sagt...