Einleitung
Autos, Autos, Autos – so weit das Auge reicht. In der Stadt, auf dem Land, in Deutschland, in Europa, eigentlich fast überall auf der Welt. In der Bundesrepublik gibt es 2017 einen neuen Rekord – schon wieder. Bald sind es 50 Millionen Pkw, die in einem Land mit etwas mehr als 80 Millionen Einwohnern
1) zugelassen sind. Und das ist nicht nur hier so. Im Jahre 2016 sind weltweit mehr als 81 Millionen Fahrzeuge neu auf der Straße, der Gesamtbestand beträgt mittlerweile weit mehr als eine Milliarde. Man kann sich gar nicht vorstellen, wie die Welt wohl ohne aussehen könnte.
Diese enorme Flut von Fahrzeugen hat Schattenseiten. Das Auto wird mehr und mehr zu einem riesigen ungelösten Umweltproblem. Vor allem, aber nicht nur für den Klimaschutz. Es emittiert verschiedene Luftschadstoffe und Lärm, verbraucht viel Platz, zerstört den öffentlichen Raum und macht viele Wohnlagen durch ein hohes Verkehrsaufkommen unattraktiv. Es ist die schiere Masse an Autos. Es gibt einfach viel zu viel vom Gleichen. Aber wer ist für dieses Wachstum verantwortlich, wer kümmert sich um eine angemessene Regulierung? Lassen sich mit technischen Innovationen die Umweltauswirkungen mildern, sind neue Verkehrskonzepte mit weniger Fahrzeugen denkbar und wer realisiert sie?
Die Autoindustrie – insbesondere die deutsche – meint jedenfalls, nicht verantwortlich zu sein. Der Dieselskandal aus den Jahren 2016 und 2017 hat schmerzhaft gezeigt, wie wenig Anpassung und Flexibilität es in der deutschen Autobranche gibt. Wie ein störrischer Esel hält die Branche weiter am Dieselmotor fest, komme was wolle. Und wenn damit Vorschriften oder Grenzwerte nicht zu schaffen sind, dann wird nicht an der technischen Lösung, sondern an den Vorschriften etwas geändert, ganz nach dem Motto: Was nicht passt, wird passend gemacht. Egal, ob der US-Bundesstaat Kalifornien, China oder die EU bislang versuchten, Grenzwerte abzusenken, Quoten für E-Fahrzeuge einzuführen oder Verbrauchsmessmethoden an realistische Bedingungen anzupassen – die deutschen Autohersteller stehen immer sofort protestierend auf der Matte. Sie preisen die angeblichen Umweltvorteile des Dieselmotors und drohen mit der Intervention durch die deutsche Kanzlerin.
Die deutschen Autokonzerne haben sich damit in eine hohe Abhängigkeit begeben. Sie können und wollen offenkundig vom Verbrennungsmotor nicht lassen. Sie bauen wohl tatsächlich die besten Autos, hochwertige Karossen mit otto- und dieselmotorischen Antrieben von höchster Leistungskraft. Was aber ist, wenn die Welt keine Autos mit Verbrennungsmotoren mehr gebrauchen kann? Dies ist umso dramatischer, weil die Kfz-Industrie zu den wichtigsten Industriezweigen in Deutschland gehört. Die Wertschöpfung ist hoch, die Exportanteile sind riesig und die Beschäftigtenzahlen beeindruckend. In kaum einer Branche gibt es so viele gut bezahlte Jobs wie in den hochmodernen Fabriken der bisher so profitablen Hersteller und ihrer Systemzulieferer. Kann die Industrie auf die wichtigsten Probleme keine plausiblen Antworten in Form attraktiver und zukunftsfähiger Produkte geben, beginnt das Trudeln und die Giganten der Branche geraten ins Taumeln.
Der Dieselskandal zeigt deutlich, dass mit zusätzlichen Reinigungsverfahren und einer optimierten Steuerungssoftware die weltweit diskutierten und in Teilen der Welt bereits eingeführten Verbrauchs- und Emissionsgrenzwerte nicht zu schaffen sind. Nicht nur die zukünftigen Grenzwerte lassen sich nicht erreichen. Die bereits bestehenden Vorschriften konnten von der Branche nur durch einen legalen Trick unterboten werden, denn eigentlich funktioniert die Abgasnachbehandlung überhaupt nicht. Die Hersteller hatten mit dem Umweltministerium und dem zuständigen Umweltbundesamt schon vor geraumer Zeit einen Deal ausgehandelt. Immer wenn es zu kalt oder zu warm wurde, durfte sich die Abgasreinigungsanlage schonen, damit am Motor kein Schaden entsteht. Man verzichtete schlauerweise auch noch darauf, diese Ausnahmen genau zu spezifizieren. Im Ergebnis waren die Autohersteller bei der Definition, was denn wohl gefährlich für den Motor sein könnte, frei. So konnten bereits Außentemperaturen von zehn Grad Celsius als Problem identifiziert werden. Die Anlagen schalteten sich dann einfach ab. Das sparte der Autoindustrie enormen Aufwand, da die komplizierten Reinigungssysteme nur unter idealen äußeren Bedingungen tatsächlich funktionieren mussten, die aber alltagspraktisch kaum vorkommen. Welcher Hersteller genau wie und unter welchen Umständen dieses sogenannte Thermofenster – der Begriff wurde erst im Sommer 2016 erfunden – ausgenutzt hat, ist bis heute nicht bekannt. Aber die Branche hat sich insgesamt darauf eingelassen und die Ausnahme zur Regel gemacht. Den Herstellern kam dabei zupass, dass dies keiner überprüfen konnte, weil keine mobilen Messgeräte auf dem Markt verfügbar waren. Die vom Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) in Flensburg vorgenommenen Typenprüfungen, die ja Voraussetzung für die Zulassungen sind, fanden immer nur auf dem Rollenprüfstand bei idealen Bedingungen statt und da funktionierten die Reinigungssysteme natürlich einwandfrei. Selbst wenn der Bundesverkehrsminister es gewollt hätte, wäre er gar nicht in der Lage gewesen, mit Rückrufen oder gar mit der Entziehung der Betriebserlaubnis zu drohen. Die gegenseitigen Verstrickungen und die extrem hohe Toleranz gegenüber den Autoherstellern sind schon verblüffend.
Die Unternehmen konnten also strengeren Grenzwerten trotz ritualisierter Protesthaltung tatsächlich gelassen entgegensehen, solange so großzügige Ausnahmen möglich waren. Kein Wunder also, dass man für neue Antriebe kein wirkliches Interesse aufbrachte, wenn man mit der bestehenden Technik alle Auflagen erfüllen konnte. Erst seit 2017 ist bei Neuzulassungen dieses Thermofenster geschlossen und die Hersteller müssen sich verpflichten, keine Abschaltautomatik mehr einzubauen. Sollten sie es dennoch tun, kann das Kraftfahrt-Bundesamt die Typgenehmigung sofort entziehen und die betroffenen Modelle stilllegen.
Zum Vertrauensverlust trägt auch bei, dass die Verbrauchswerte der einzelnen Fahrzeugtypen seit Jahrzehnten systematisch falsch angegeben werden. Mittlerweile beträgt die Differenz zwischen den Herstellerangaben und den tatsächlichen Verbrauchswerten im Durchschnitt mehr als 40 Prozent. Die allgemeine Empörung darüber hält sich allerdings in Grenzen. Es gibt wohl kein anderes Konsumprodukt, dem gegenüber die Verbraucher und die öffentliche Meinung so tolerant sind wie gegenüber dem Auto.
Keiner Branche wurde bislang mit so viel Nachsicht begegnet wie der Fahrzeugindustrie. Der Grund könnte darin liegen, dass über viele Jahre ein allgemeiner Konsens darüber herrschte, dass die Beweglichkeit der Menschen im Raum vor allen Dingen mit dem Auto möglich werden sollte. Der private Besitz eines Kraftwagens galt als das zentrale gesellschaftspolitische Versprechen in beiden deutschen Staaten. Seit Jahrzehnten besteht daher eine Art Komplizenschaft zwischen Herstellern und Konsumenten, die vom Staat sorgfältig eingeleitet wurde, um auch anschließend weiter gehegt und gepflegt zu werden. Diese Komplizenschaft hält bis heute an, und sie erklärt auch, warum der Branche so wenig Wind entgegenweht. Die klima- und industriepolitische Kardinalfrage ist, ob angesichts dieser gegenseitigen Abhängigkeiten genügend Innovationspotenziale generiert werden können?
Die Starrheit der Hersteller in der Antriebsfrage ist dabei keine gute Ausgangsbedingung, die Branche zukunftsfähig zu machen. Denn angesichts der gigantischen Blechlawinen braucht eine zukünftige Mobilität nicht nur Fahrzeuge mit anderen Antrieben. Das Verkehrssystem insgesamt muss sich ändern. Die bisher gelebte Praxis verbraucht viel zu viel Platz und lässt sich bereits jetzt in den Metropolen der Welt nicht mehr wirklich ausleben. Kern des Problems ist die über viele Jahrzehnte versprochene private Verfügung über ein Fahrzeug. Jeder Mensch darf – so jedenfalls die ursprüngliche Idee – ein eigenes Auto besitzen und es auch noch im öffentlichen Raum einfach abstellen. Dieses Versprechen kann nicht unbegrenzt gelten. Wir können die Oberfläche der Erde nicht vergrößern. Zu viele Geräte stehen einfach nur herum und kosten wertvollen Platz. Es stockt und staut sich überall, das System erstickt an sich selbst. Die Durchschnittsgeschwindigkeit im städtischen Straßenverkehr beispielsweise ist in London und Paris wieder auf die Werte der 1920er-Jahre abgesunken.
Es ist daher immer wieder die gleiche Frage, die sich stellt: Wieweit sind Autoindustrie, Kunden und Staat angesichts ihrer bisherigen Komplizenschaft in der Lage, die Herausforderungen der bevorstehenden Verkehrswende anzugehen? Es scheint wenig aussichtsreich, an überkommenen technischen Lösungen oder klassischen Verwendungsformen von Automobilen wie bisher festzuhalten, insbesondere dann, wenn man auch die Märkte von morgen erfolgreich bedienen möchte. Eine Aufkündigung dieser Komplizenschaft scheint daher in erster Linie eine Frage der industriepolitischen Vernunft und der unternehmerischen Vorsorge zu sein.
Die Botschaft ist daher eine schlichte: Die Stadt der Zukunft mit einer hohen Aufenthaltsqualität gibt es nur mit weniger, saubereren und leiseren Autos. Die gigantischen Mengen an Verkehrsgeräten müssen kleiner werden und sie brauchen in Zukunft eine völlig andere Orchestrierung. Die Zeiten, in denen den Menschen die Nutzung eines privaten Automobils als der große Traum vom Glück an die Hand gegeben wurde und der Staat wie selbstverständlich die dafür notwendige Infrastruktur schuf, sind vorbei. Die Zukunft braucht einen systemischen Denk- und Handlungsansatz, der Verkehrsmittel als Teil einer urbanen Infrastruktur versteht,...