Leben an der mexikanischen Grenze
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-446-26141-9
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
No Man’s Land mutet wie eine Tragödie an und bildet doch die Realität wahrheitsgetreu ab, unverzerrt, grausam und zutiefst berührend.
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Prolog
–––––––– –––––––– Meine Mutter und ich fuhren in östlicher Richtung durch das westtexanische Flachland, über uralten Meeresgrund. Wir hatten beschlossen, Thanksgiving in dem Nationalpark zu verbringen, in dem meine Mutter als Ranger gearbeitet hatte, in jenen Jahren, mit denen ich meine frühesten Kindheitserinnerungen verbinde – Bilder von bewaldeten Canyons und senkrecht aufragenden, kahlen Bergen, das Geräusch des Winds, der über flache Wüstenhügel blies, die glühende Sonne über einer endlosen Steppe. Als wir in der Nähe der Guadalupe-Berge an weitläufigen Salzpfannen vorbeikamen, bat ich meine Mutter, anzuhalten. Sie fuhr rechts heran, wir stiegen aus und gingen über den verkrusteten Boden. Weiter nördlich waren die Guadalupe-Berge zu sehen, Überreste eines urzeitlichen Riffs, das einst von einem riesigen Binnenmeer bedeckt war. Der kühle Novemberwind fühlte sich an, als stünde man in einer leichten Flussströmung. Ich beugte mich hinunter, um ein Stückchen des weiß verkrusteten Erdbodens abzubrechen, zerrieb es zwischen den Fingern und hielt die Zunge daran. Es schmeckt salzig, sagte ich zu meiner Mutter. Im Besucherbüro des Parks warteten wir, während eine uniformierte Frau hinter dem Tresen zwei Besuchern Informationen über Campinggebühren und Wanderwege gab. Als sich die beiden zum Gehen wandten, schaute die Frau herüber zu uns und strahlte plötzlich über das ganze Gesicht. Sie kam herbeigelaufen, umarmte meine Mutter und trat dann einen Schritt zurück, um mich zu mustern. Ay mijito, als wir uns zuletzt gesehen haben, warst du gerade mal so groß. Sie hielt die Hand in Kniehöhe. Seid ihr immer noch in Arizona?, fragte sie. Meine Mutter schon, sagte ich, aber ich bin nach Washington gezogen, um da zu studieren. Nach Washington? Qué impresionante. Und was studierst du? Internationale Beziehungen, sagte ich. Er studiert die Grenze, fügte meine Mutter hinzu. Auf dem Rückweg wollen wir in El Paso Station machen und uns Ciudad Juárez ansehen. Seid vorsichtig, sagte die Frau. Juárez ist gefährlich. Sie schaute mich an und legte mir schließlich die Hand auf die Schulter. Ich erinnere mich noch gut an die Zeit, als du ein kleiner chamaquito warst und ich dein Babysitter war. Du wolltest Cowboy werden, das war dein Traum. Du hattest Cowboystiefelchen und einen Cowboyhut, du bist mit meinen Jungs herumgerannt, ihr hattet kleine Plastikpistolen, mit denen ihr euch gejagt habt. Meine Mutter lachte. Daran kann ich mich auch noch gut erinnern, sagte sie. Am nächsten Morgen standen meine Mutter und ich früh auf, denn wir wollten in dem Canyon wandern, der bis zur bewaldeten Rückseite der Guadalupe-Berge führte. Unterwegs verwandelte sich meine Mutter wieder in einen Guide, sie zeigte auf die zitternden gelben Blätter eines Großzahnahorns und berührte die glatte rote Rinde eines Erdbeerbaums. Auf einem Grashalm entdeckte sie die getrocknete Hülle einer Libellenlarve, die sie vorsichtig in die Hand nahm und von allen Seiten betrachtete. Sie erzählte von dem schimmernden Insekt, wie es seine Haut abstreift, um sich vom Wind davontragen zu lassen. Fast ehrfürchtig sprach sie von der Kreatur, deren Überreste sie wie einen heiligen Gegenstand in Händen hielt. Libellen wandern wie Zugvögel, sagte sie, sie können endlos lange mit ihren hauchdünnen Flügeln schlagen, sie fliegen über weite Ebenen, über Bergketten, über das offene Meer. Meine Mutter setzte sich auf einen Fels am Bach, zog Schuhe und Socken aus, krempelte die Hose bis zu den Knien hoch und stieg ins Wasser, das so kalt war, dass sie die Schultern hochzog. Sie forderte mich auf, es ihr gleichzutun, doch ich schüttelte den Kopf, ich wollte lieber im Halbschatten sitzen. Meine Mutter stieg über Felsen und abgebrochene Äste, zeigte auf eine Wurzel, über die das Wasser hinwegfloss, auf ein Fleckchen grünes Gras, das von der Sonne beschienen wurde. Sie beugte sich hinunter, hielt die Hände ins Wasser und rieb sich das Gesicht. Während ich Ahornblätter vom Boden auflas, holte sie ein paar Kalksteine aus dem Bach. Komm, rief sie mir zu, berühr das Wasser. Abends saßen wir in einer Forschungsstation und aßen vorgekochte Truthahnbrust mit Instant-Füllung. Ich fragte meine Mutter, warum sie seinerzeit zu den Park Rangers gegangen war. Sie stocherte mit der Gabel in einem Stück Füllung. Ich habe mich dafür entschieden, sagte sie, weil ich im Freien sein wollte, weil mir die Natur guttat. Ich hatte die Hoffnung, dass ich als Park Ranger den Leuten ein Gespür für die Natur vermitteln, ihr Umweltbewusstsein schärfen könnte. Sie schaute von ihrem Teller hoch. Ich wollte das Land vor Zerstörung bewahren, sagte sie, ich wollte die Orte schützen, die mir so viel bedeuten. Und wie siehst du das heute, fragte ich, im Rückblick? Meine Mutter legte die Gabel hin und strich mit dem Finger über die Tischkante. Weiß ich noch nicht, sagte sie. Am nächsten Tag fuhren wir in Richtung Westen, erreichten abends El Paso. Ich sah die Lichter, die sich weit über das Wüstental erstreckten, und versuchte zu erkennen, wo die Vereinigten Staaten aufhörten und Mexiko anfing. Der Rezeptionist in unserem Motel machte Smalltalk mit meiner Mutter. Was führt Sie nach El Paso?, fragte er. Mein Sohn beschäftigt sich in seinem Studium mit der Grenze, sagte meine Mutter und lächelte. Mit der Grenze? Der Mann schaute uns über den Brillenrand hinweg an. Ich werde Ihnen mal was über die Grenze erzählen. Er zeigte durch die Glastür auf eine grüne Anhöhe hinter dem Parkplatz. Sehen Sie, dort? Früher habe ich beobachtet, wie sich nachts das Gras bewegte. Bald habe ich verstanden, dass es nicht der Wind war, der das Gras bewegte, sondern Illegale, die über die Grenze gekommen waren. Aber das Gras bewegt sich kaum noch, wenn Sie wissen, was ich meine. Heutzutage sieht man keine Illegalen mehr auf unseren Grundstücken herumschleichen. Meine Mutter und ich nickten unsicher, aber der Mann lachte nur und gab uns die Zimmerschlüssel. Am nächsten Morgen stellten wir den Wagen an der Santa-Fé-Street-Brücke ab und gingen in Richtung Grenze. Wir folgten einem dichten Strom von Grenzgängern auf einem käfigartigen Fußgängerweg über die betonierten Ufer des Rinnsals namens Rio Grande, der El Paso von Ciudad Juárez trennt. Kurz vor dem anderen Ende der Brücke bemerkte ich einen Mann mit geröteten Augen, der sich von seiner Frau und seinem Sohn verabschiedete. Der Junge stand weinend an einem quietschenden Drehkreuz, während seine Eltern sich lange umarmten. Auf der anderen Seite wurden meine Mutter und ich von einem schwarz uniformierten mexikanischen Zöllner durchgewunken. Wollen die unsere Pässe gar nicht sehen?, fragte meine Mutter. Ich zuckte mit den Schultern. Offenbar nicht. Wir verließen das Abfertigungsgebäude und gingen die Avenida Benito Juárez hinunter, vorbei an Pulks von Taxifahrern und Imbissverkäufern, vorbei an dröhnenden Lautsprechern und bunt bemalten Hauseingängen, vorbei an Schnapsläden und Pfandleihen, Zahnarztpraxen und Billigapotheken, an taquerías und Wechselstuben, an Werbung für seguros, ropa, botas. Bald fragte meine Mutter, ob wir uns irgendwo hinsetzen könnten. Wir überquerten die Straße in Richtung Plaza Misión de Guadalupe, wo sie sofort auf eine Bank sank. Ich muss ein wenig verschnaufen, sagte sie, mein Herz rast. Alles in Ordnung mit dir?, fragte ich. Sie holte tief Luft, sah sich um und legte eine Hand auf die Brust. Alles in Ordnung, es ist nur ein bisschen viel für mich. Pass auf, ich besorg etwas Wasser. Ich zeigte auf einen kleinen Supermarkt an der Ecke. Bin gleich wieder da. An der Ladenkasse diskutierten zwei Frauen über Politik. Ich bin froh, dass Calderón gewählt wurde, sagte die eine. Wir brauchen einen Präsidenten, der die Kriminalität bekämpft, jemanden, der gegen die delincuentes vorgeht und auf den Straßen für Ordnung sorgt. Die andere Frau, die gerade eine Stange Zigaretten und eine Schachtel pan dulce bezahlte, schüttelte heftig den Kopf. No entiendes, sagte sie. Das Problem hat doch nichts mit der Straße zu tun. Meine Mutter trank gierig aus der Wasserflasche und stieß einen tiefen Seufzer aus, während ich den Stadtplan studierte, den wir im Hotel eingesteckt hatten. Wir sind in der Nähe des Mercado Juárez, sagte ich, wir können uns da hinsetzen und etwas essen, und du kannst ein wenig ausruhen. Meine Mutter nickte, sah sich um und erhob sich schließlich. Langsam gingen wir weiter, vorbei am Historischen Museum, einem alten Backsteinbau, und bogen in die Calle 16 de Septiembre ein. An der nächsten Kreuzung warteten wir, bis die Ampel auf Grün sprang, und gingen dann los. Mitten auf der stark befahrenen Straße schrie meine Mutter auf und fiel hin. Ich war sofort bei ihr und legte ihr den Arm um die Schulter. Alles okay?, fragte ich. Sie zeigte auf ihren Fuß, mit dem sie in einem Schlagloch hängen geblieben war. Du musst aufstehen, sagte ich, wir müssen runter von der Straße. An der Fußgängerampel blinkte schon eine rote Hand. Ich versuchte, meine Mutter hochzuziehen, aber sie stöhnte nur. Mein Fußgelenk, sagte sie, ich kann es nicht bewegen. Ich streckte den Autos, die inzwischen Grün hatten, die Hände entgegen. Vom Mercado kam ein Mann herbeigelaufen. Eine Frau stieg aus ihrem Wagen und kniete an der Seite meiner Mutter. Tranquila, flüsterte sie, tranquila. Ein Mann mit Cowboyhut kletterte aus seinem Lastwagen und signalisierte den Autos hinter ihm, nicht loszufahren. Der Mann, der vom Mercado herbeigelaufen war, legte mir eine Hand auf den Rücken. Te ayudo, sagte...