E-Book, Deutsch, 323 Seiten
Canetti / Hanuschek / Matt Das Buch gegen den Tod
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-446-25338-4
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 323 Seiten
ISBN: 978-3-446-25338-4
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Elias Canetti wurde 1905 in Rustschuk/Bulgarien geboren und wuchs in Manchester, Zürich, Frankfurt und Wien auf. 1929 promovierte er in Wien zum Dr. rer. nat. 1930/31 erfolgte die Niederschrift seines Romans »Die Blendung«, der 1935 erschien. 1938 emigrierte Canetti nach London, wo er anthropologische und sozialhistorische Studien zu »Masse und Macht« (1960) aufnahm. Ab den 1970er-Jahren lebte er vorwiegend in der Schweiz und erlangte weiterreichende Berühmtheit mit seinen Theaterstücken, den Aufzeichnungen und den autobiographischen Büchern, darunter »Die gerettete Zunge«. 1981 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen. 1994 starb er in Zürich.
Fachgebiete
Weitere Infos & Material
Totenbuch
Sternenfriedhöfe
Es beginnt damit, daß man die Toten zählt. Jeder müßte durch seinen Tod alleinzig werden wie Gott. Ein Toter und noch einer sind nicht zwei. Eher ließen sich die Lebenden zählen, und wie verderblich sind schon diese Summen.
Ganze Städte und Landschaften können trauern, als ob ihnen alle Männer gefallen wären, alle Söhne und Väter. Aber solange 11.370 gefallen sind, werden sie ewig danach trachten, die Million voll zu machen.
Ameisen und Tod
Die Ameise weiß auch nichts von Epidemien und all unsern Krankheiten. Man merkt nicht, wann sie tot ist, so leicht kann sie wieder auferstehen. Miss Field hat, was das betrifft, ziemlich grausame, aber überzeugende Versuche gemacht. Von sieben Ameisen, die sie acht Tage lang unter Wasser gesetzt hatte, erwachten vier wieder zum Leben. Andere ließ sie fasten und gab ihnen nichts als ein bißchen Wasser auf einem sterilisierten Schwamm. Neun Formica Subsericea hielten es siebzig bis zu hundertundsechs Tagen dabei aus. Bei den vielen Versuchstieren ereigneten sich jedoch nur drei Fälle von Kannibalismus; und am 20., 35., 62. und siebzigsten Fasttag gelang es noch etlichen Halbverhungerten, ihren Gefährtinnen, deren Zustand offenbar hoffnungslos war, einen Tropfen Honig darzureichen. Die Ameisen sind nur gegen Kälte empfindlich. Zwar sterben sie nicht daran, sondern schlafen so ein, daß sie in einen wirtschaftlich praktischen Erstarrungszustand geraten und ruhig die Rückkehr der Sonne abwarten.
Die Erkenntnis des Todes scheint das folgenschwerste Ereignis der menschlichen Geschichte zu sein. Sie wurde zu seiner Anerkennung. Das absichtliche Töten untereinander ist erst möglich, wenn man weiß, daß ein Toter bis zu einem gewissen Grade tot ist.
Das Verschwinden, die plötzliche und geheime Entrückung von Großen und Heiligen, weil sie nicht gestorben sein dürfen.
Jahrmann, ein Wohltäter
Die eigenen Jahre als Ablöse für die andern. Jemand schenkt Menschen, deren Wert er fühlt, von seinen eigenen Jahren welche, um ihr Leben zu verlängern. Es ist ihm ein langes Dasein prophezeit worden; er weiß, daß er seinen hundertsten Geburtstag erreichen würde. Da beschließt er, durch Reisen und gründliche Kenntnisse in Erfahrung zu bringen, wer seine Jahre nötig hat. Er teilt sie sehr bedächtig aus, nie zu viel, nie zu wenig; es ist ein anstrengender Beruf. In der Zeit, die er sich zum Leben übrig läßt, hat er über den besten Gebrauch seines Opfers zu verfügen. Die Nachricht von seinem sonderbaren Geschäft verbreitet sich bald. Er gerät Spekulanten in die Hände, die aus seinen Jahren Geld herausschlagen wollen. Sie müssen ihn vom Lebenswert, der allgemeinen Bedeutung, der Nützlichkeit ihrer Klienten überzeugen, diese aber sind in Wirklichkeit uralte lächerliche Weiblein, mit viel Geld und noch mehr Gier auf ein paar weitere lächerliche Jährlein. Die Spekulanten erzeugen also bedeutende Menschen, denn dem Wohltäter, einer reinen Figur, ist es um nichts weniger als um Geld zu tun. Die beschränkte Zahl seiner Jahre macht sie immer kostbarer; je weniger davon übrigbleiben, umso mehr Menschen drängen sich heran, davon zu genießen. Es kommt zu einer Art von heimlichen Aktien, die von Hand zu Hand weitergegeben werden und wahnwitzige Kurse erreichen. Die früher, vor Einsetzung der Spekulation, mit Jahren Bedachten, werden aufgestöbert und auf jede Weise zur Abgabe ihrer Rechte gedrängt. Es zersplittern sich die Jahre zu Monaten und zu Wochen. Aus denen, die ihre Ansprüche käuflich erworben haben, bildet sich eine Gesellschaft mit Vorstand und Wahlen. Sie hat hauptsächlich über den Augenblick zu wachen, in dem der Wohltäter die längst festgesetzte Frist seines Lebens erreicht. Von da ab gehört es ihnen.
On the night following the 14th Sha’bán (the eighth month of the Muslim year) special services are hold in all mosques. The traditional reason is that »on this night the lote-tree of Paradise, on the leaves of which are inscribed the names of all living persons, is shaken, and the leaf of any mortal who is predestined to die during the ensuing year falls withering to the ground.«
In der Nacht nach dem 14. Scha’bán (dem achten Monat des muslimischen Jahrs) werden in allen Moscheen besondere Gottesdienste abgehalten. Der traditionelle Grund dafür ist: »in dieser Nacht wird der Lotusbaum im Paradies geschüttelt, auf dessen Blättern die Namen aller lebenden Menschen stehen, und das Blatt eines Sterblichen, dem es bestimmt ist, im darauffolgenden Jahr zu sterben, fällt welkend herab.«
Seine Anlage, alles zur falschesten Zeit zu tun; eine trostlose Unordnung in der Zeit, so als könne er ihre Irreversibilität nicht hinnehmen. Wenn er die Dinge in ihrer richtigen Abfolge verrichtet, fürchtet er, den Tod anzuerkennen, in den alle diese Reihen führen.
Chinese Seamen »Reincarnated«
Fifty-four Chinese seamen, threatened with deportation from Canada for refusing to go to sea again after they had been torpedoed, claimed that they were Canadians by reincarnation. They said that they died in the Atlantic after their ship was torpedoed and were reincarnated in a Canadian vessel which picked them up. The Canadian authorities disagreed with this doctrine and the Chinese must go to sea again.
Chinesische Matrosen »wiedergeboren«
Vierundfünfzig chinesische Matrosen, die man aus Kanada abzuschieben drohte, weil sie sich, nachdem sie torpediert worden waren, weigerten, wieder in See zu gehen, behaupteten, als Kanadier wiedergeboren worden zu sein. Sie erklärten, sie wären nach dem Torpedoangriff im Atlantik gestorben und auf einem kanadischen Schiff, das sie auflas, wiedergeboren worden. Die kanadischen Behörden lehnten diese Lehre ab, und die Chinesen mußten wieder in See gehen.
»Certainly animals are conscious of a very real uneasiness in the presence of the death of one of their own kind. None of them, however, make any pretence of burying their dead ceremonially. The first recorded examples of the latter come from the age of the so-called Neanderthal men, some fifty to one hundred thousand years B.C.«
»Zweifellos sind sich Tiere angesichts des Todes eines ihrer Artgenossen eines sehr realen Unbehagens bewußt. Keine Tierart jedoch gibt sich den Anschein, als würde sie ihre Toten feierlich begraben. Die ersten überlieferten Beispiele für Letzteres stammen aus der Zeit der sogenannten Neandertaler, etwa fünfzig- bis hunderttausend Jahre v. Chr.«
Die letzten Worte der Bourignon (1680)
»Wenn ich sterbe, so sterbe ich wider Gottes Willen … «
Le soleil ni la mort ne se peuvent regarder fixement. La Rochefoucauld
Der Sonne und dem Tod kann man nicht fest in die Augen sehen.
August 26, 1942
Stalingrad
The last day’s fighting has been largely hand-to-hand with tommy-guns and bayonets. The dead are so thick upon the ground that there has been no time to bury even a tenth of them.
Front reports have described how the German armies solved this problem by the use of field incineration, in appearance not unlike large camp cookers.
Gestern wurde zum größten Teil Mann gegen Mann gekämpft, mit Maschinenpistolen und Bajonetten. Der Boden ist so über und über mit Leichen bedeckt, daß man nicht dazugekommen ist, auch nur ein Zehntel davon zu begraben.
Frontberichten zufolge haben die deutschen Armeen dieses Problem durch den Einsatz von Feldverbrennungsöfen gelöst, die äußerlich nicht viel anders aussehen als Feldküchen.
Die Geschichte des Mannes, der nicht will, daß jemand ihn überlebt.
Died going to shelter
Hearing the sirens on Monday night, Charles Stephens Evans, a 67-year-old labourer, of Newport Street, Lambeth, got out of bed, and was on his way to a shelter when he collapsed and died in the street.
Auf dem Weg zum Bunker gestorben
Als Charles Stephens Evans, ein 67jähriger Arbeiter aus der Newport Street in Lambeth, Montagnacht die Sirenen hörte, stand er auf und begab sich zu einem Luftschutzraum; er brach zusammen und starb auf der Straße.
Stalingrad
»They had time to bury their own dead in a brotherly grave.«
»Sie hatten Zeit, ihre Toten in einem brüderlichen Grab zu begraben.«
»Ce qu’il y a de certain dans la mort est un peu adouci par ce qui est incertain; c’est un indéfini dans le temps qui tient quelque chose de l’infini et de ce qu’on appelle éternité.« La Bruyère
»Was am Tod gewiß ist, wird ein wenig abgemildert durch das, was ungewiß an ihm ist; die zeitliche Unbestimmtheit birgt etwas von der Unendlichkeit und von dem, was man Ewigkeit nennt.«
Tod eines Australiers
»A man had been found dying of spear wounds out in the bush, and carried to the Mission as he was breathing his last. I watched two of the lay brothers bearing the stretcher to one of the huts, a horde of natives following. I noticed that they held their burden curiously high in the air. Suddenly, as it was lowered for entry to a doorway, the natives crowding round, to my horror, fell upon the body of the dying man, and put their lips to his in a brutal eagerness to inhale the last breath. They believed that in so doing they were absorbing his strength and virtue, and his very vital spark, and all the warnings of the ›white father‹ would not keep them from it....