Canetti | Gesammelte Werke Band 9: Das Augenspiel | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 302 Seiten

Canetti Gesammelte Werke Band 9: Das Augenspiel

Lebensgeschichte 1931 - 1937
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-446-25339-1
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Lebensgeschichte 1931 - 1937

E-Book, Deutsch, 302 Seiten

ISBN: 978-3-446-25339-1
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Mit dem 'Augenspiel' schließt Elias Canetti seine Autobiographie ab. Hier erzählt er die Zeit, als er seinen Roman 'Die Blendung' bereits vollendet hat. Von gelegentlichen Reisen abgesehen, verbringt Canetti die Jahre 1931-1937 in Wien, wo Sigmund Freud gerade dabei ist, sein neues Bild vom Menschen zu erarbeiten, wo Robert Musil und Hermann Broch ihre epochemachenden Werke schreiben, Alban Berg und Arnold Schönberg Neue Musik komponieren und Anna Mahler und Fritz Wotruba als Bildhauer neue Wege gehen. Wie kein anderer stellt Canetti seine Zeit in Menschen dar.

Elias Canetti wurde 1905 in Rustschuk/Bulgarien geboren und wuchs in Manchester, Zürich, Frankfurt und Wien auf. 1929 promovierte er in Wien zum Dr. rer. nat. 1930/31 erfolgte die Niederschrift seines Romans »Die Blendung«, der 1935 erschien. 1938 emigrierte Canetti nach London, wo er anthropologische und sozialhistorische Studien zu »Masse und Macht« (1960) aufnahm. Ab den 1970er-Jahren lebte er vorwiegend in der Schweiz und erlangte weiterreichende Berühmtheit mit seinen Theaterstücken, den Aufzeichnungen und den autobiographischen Büchern, darunter »Die gerettete Zunge«. 1981 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen. 1994 starb er in Zürich.
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Auge und Atem


Meine Beziehung zu Hermann Broch war, mehr als es sonst üblich ist, von der Gelegenheit unserer ersten Begegnung bestimmt. Ich sollte bei Maria Lazar, einer Wiener Schriftstellerin, die wir beide unabhängig voneinander kannten, mein Drama ›Hochzeit‹ vorlesen. Einige Gäste waren geladen. Ernst Fischer und seine Frau Ruth waren darunter, ich weiß nicht mehr, wer die anderen Gäste waren. Broch hatte sein Erscheinen zugesagt, man wartete auf ihn, er hatte sich verspätet. Ich wollte schon beginnen, da kam er im letzten Augenblick, mit Brody zusammen, seinem Verleger. Zu mehr als einer kurzen Vorstellung reichte die Zeit nicht: Bevor wir noch zueinander gesprochen hatten, begann ich mit der Vorlesung der ›Hochzeit‹.

Maria Lazar hatte Broch erzählt, wie sehr ich die ›Schlafwandler‹ bewunderte, die ich während des Sommers dieses Jahres 1932 gelesen hatte. Er kannte von mir nichts; da nichts gedruckt war, hatte er nichts von mir kennen können. Er war für mich, nach dem Eindruck der ›Schlafwandler‹ und besonders des ›Huguenau‹, ein großer Dichter, ich für ihn ein junger, der ihn bewunderte. Es mochte Mitte Oktober sein, sieben oder acht Monate zuvor hatte ich die ›Hochzeit‹ beendet. Einzelnen Freunden hatte ich das Stück vorgelesen, es waren Freunde, die etwas von mir erwarteten, und nie noch waren es mehrere von ihnen zusammen gewesen.

Broch aber, und darauf kommt es hier besonders an, bekam mit voller Wucht und bevor er sonst irgend etwas von mir erfuhr, die ganze ›Hochzeit‹ zu hören. Ich las dieses Stück mit Leidenschaft, die Figuren standen durch ihre akustischen Masken fest voneinander abgegrenzt da, daran hat sich auch in Jahrzehnten nie mehr etwas geändert. Es dauerte über zwei Stunden, und ich las in einem Zug. Es war eine dichte Atmosphäre, außer Veza und mir waren vielleicht ein Dutzend Menschen da, aber ihre Präsenz war so stark, daß es sich wie ein Vielfaches davon anfühlte.

Ich sah Broch gut vor mir, die Art, wie er dasaß, machte mir Eindruck. Sein Vogelkopf schien zwischen den Schultern ein wenig eingesunken. Während der Hausbesorgerszene, der letzten des Vorspiels, die mir die teuerste des ganzen Stückes geworden ist, bemerkte ich seine Augen. Der Satz der sterbenden Kokosch: »Du Mann, ich muß dir was sagen«, den sie immer wieder beginnen muß, den sie nicht vollenden kann, ist für mich der Augenblick der Begegnung mit den Augen Brochs. Wenn Augen atmen könnten, sie hätten den Atem angehalten. Sie warteten darauf, daß der Satz zu Ende gesprochen würde, und dieses Einhalten und Verharren war angefüllt mit Kokoschs Worten aus Simson. Es war eine doppelte Lesung, und zum lauten Dialog, der gar keiner war, denn Kokosch hörte nicht auf die Worte der Sterbenden, war ein unterirdischer hinzugetreten, zwischen Brochs Augen, die sich der Sterbenden angenommen hatten, und mir, der immer wieder zu ihren Worten ansetzte und sich darin von den biblischen Sätzen des Hausbesorgers unterbrechen ließ.

Das war die Situation in der ersten halben Stunde des Lesens. Dann kam die eigentliche ›Hochzeit‹, und sie setzte mit großer Schamlosigkeit ein, für die ich mich aber damals, da ich sie so sehr haßte, gar nicht schämte. Von der Naturwahrheit dieser ekelhaften Szenen hatte ich vielleicht keine komplette Vorstellung. Eine Quelle davon war Karl Kraus, aber es war auch anderes eingeflossen: George Grosz, dessen ›Ecce Homo‹-Mappe ich bewundert und verabscheut hatte. Das meiste hatte mit Selbstgehörtem zu tun.

Beim Vorlesen des wüsten, mittleren Teils der ›Hochzeit‹ achtete ich nie auf meine Umgebung. Es gehörte zu dieser Art von Besessenheit, daß man zu schweben vermeint, auf schrecklichen und gemeinen Sätzen, die nichts, gar nichts mit einem zu tun haben, die einen mehr und mehr aufblasen, so daß man auf ihnen fliegt, wie ein Schamane vielleicht, doch das hätte ich damals nicht gewußt.

An diesem Abend war es aber anders. Ich spürte während des ganzen mittleren Teils die Anwesenheit von Broch. Sein Schweigen war eindringlicher als das der anderen. Er hielt an sich, wie man Atem anhält, wie es genau damit beschaffen war, wußte ich nicht, aber daß es etwas mit Atem zu tun hatte, fühlte ich, und ich glaube, es war mir bewußt, daß er anders atmete als alle anderen. Gegen den schrecklichen Lärm, den meine Figuren vollführten, stand seine Stille. Sie hatte etwas Körperliches, sie wurde von ihm bewirkt, es war eine Stille, die sich erzeugte, heute weiß ich, daß sie mit seiner Art zu atmen zusammenhing.

Im dritten Teil des Stücks, dem eigentlichen Untergang und Totentanz, spürte ich nichts mehr um mich. Die große Anstrengung nahm mich her, ich war im Rhythmus, der hier das Entscheidende ist, so sehr gefangen, daß ich nicht hätte sagen können, was mit diesem oder jenem Hörer geschah, und als ich zu Ende war, wußte ich nicht einmal, daß Broch da war. Mit der Zeit war inzwischen etwas passiert, und ich mag wieder dort gewesen sein, wo man auf sein Kommen gewartet hatte. Doch er äußerte sich und sagte: Wenn er das gekannt hätte, hätte er sein Stück nicht geschrieben. (Es scheint, daß er damals gerade mit einem Stück beschäftigt war, es wird dasselbe gewesen sein, das dann in Zürich gespielt wurde.)

Dann sagte er etwas, das ich hier nicht wiedergeben mag, obwohl es viel Einsicht in die Genese des Stückes verriet. Ohne ihn zu kennen, wußte ich, daß er erschüttert, daß er wirklich mitgenommen war. Brody, sein Verleger, hatte für alles ein verbindliches Grinsen, das mißfiel mir sehr. Nichts war mit ihm passiert, vielleicht hatte er sich über die wütende Attacke auf Bürgerlichkeit geärgert, mochte sich das nicht anmerken lassen und verbarg es hinter Verbindlichkeit. Vielleicht war er aber immer so, vielleicht war er gar nicht zu erschüttern – was ihn wirklich mit Broch verband, denn er war zweifellos mit ihm befreundet, das vermag ich nicht zu sagen.

Die beiden blieben nicht lang, sie wurden schon wieder irgendwo erwartet. Broch, obschon er mitsamt seinem Verleger angerückt war, was als eine Art von Selbstbewußtsein wirkte, erschien mir am Ende der ›Hochzeit‹ als gebrechlich. Es war eine sehr schöne Gebrechlichkeit, nämlich eine, die von Ereignissen, Beziehungen, Schwankungen unter Menschen abhing, Empfindlichkeit war ihre Voraussetzung. Den meisten wird es als Schwäche erschienen sein, ich darf es so nennen, weil ich eine Schwäche dieses Bewußtseinsgrades als Vorzug, ja als Tugend empfinde. Wenn aber Menschen der kommerziellen Umwelt, in der er gelebt hatte, oder einer entsprechenden Daseinsform heute über ihn ›Schwäche‹ sagen, möchte ich ihnen auf den Mund schlagen.

Nicht leichten Herzens befasse ich mich mit Broch, denn ich weiß nicht, wie ich ihm gerecht werden soll. Da war die Erwartung, mit der ich an ihn herantrat, die stürmische Werbung von Anfang an, der er sich zu entziehen versuchte, die Blindheit, mit der ich alles an ihm gut finden wollte, die Schönheit seines Auges, in dem alles andere eher als Berechnung für mich zu lesen war: Was habe ich nicht erhaben gesehen bei ihm und wie naiv und unbedacht ließ ich mich auf eine besessene Art gehen, ohne meine immense Ignoranz zu verbergen! Denn wenn ich auch wirklich offen und wißbegierig war, Früchte hatte diese Wißbegier noch keine getragen. Ich hatte, wenn ich es heute zu bemessen versuche, noch wenig gelernt und jedenfalls nichts von dem, was sein besonderes Wissen ausmachte: die zeitgenössische Philosophie. Seine Bibliothek war hauptsächlich eine philosophische, er scheute im Gegensatz zu mir vor der Welt der Begriffe nicht zurück, er gab sich ihnen hin wie andere dem Besuch von Nachtlokalen.

Es war der erste ›Schwache‹, dem ich begegnet bin, es war ihm nicht um Siegen und nicht um Überwinden und schon gar nicht um Prahlen zu tun. Das Verkünden großer Absichten war ihm in tiefster Seele zuwider, während bei mir jeder zweite Satz lautete: »Darüber schreibe ich ein Buch« – ich konnte keinen Gedanken, vielleicht keine Beobachtung aussprechen, ohne gleich zu sagen: »Darüber schreibe ich ein Buch.« Nun war das aber nicht ganz leere Prahlerei, denn ein langes Buch ›Kant fängt Feuer‹ hatte...


Canetti, Elias
Elias Canetti wurde 1905 in Rustschuk/Bulgarien geboren und wuchs in Manchester, Zürich, Frankfurt und Wien auf. 1929 promovierte er in Wien zum Dr. rer. nat. 1930/31 erfolgte die Niederschrift seines Romans Die Blendung, der 1935 erschien. 1938 emigrierte Canetti nach London, wo er anthropologische und sozialhistorische Studien zu Masse und Macht (1960) aufnahm. Ab den 1970er Jahren lebte er vorwiegend in der Schweiz und erlangte weiterreichende Berühmtheit mit seinen Theaterstücken, den Aufzeichnungen und den autobiographischen Büchern, darunter Die gerettete Zunge. 1981 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen. 1994 starb er in Zürich.

Elias Canetti wurde 1905 in Rustschuk / Bulgarien geboren, 1911 zog seine Familie nach England und 1913, nach dem Tod des Vaters, nach Wien. Hier studierte Canetti bis 1929 Naturwissenschaften und promovierte in Philosophie. Er lebte bis zu seinem Tod im Jahre 1994 als freier Schriftsteller in Zürich. Sein Werk wurde mit zahlreichen internationalen Preisen bedacht. 1981 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen. Zu seinen herausragenden Werken zählt neben dem Roman Die Blendung seine Autobiographie, die in den Bänden Die gerettete Zunge, Die Fackel im Ohr und Das Augenspiel erschien, sowie seine gesammelten Aufzeichnungen aus den Jahren 1942 bis 1993, die in den Bänden Die Provinz des Menschen, Das Geheimherz der Uhr, Die Fliegenpein, Nachträge aus Hampstead und Aufzeichnungen 1992-1993 vorliegen.



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