E-Book, Deutsch, 346 Seiten, Gewicht: 10 g
Campioni Der französische Nietzsche
1. Auflage 2009
ISBN: 978-3-11-021355-3
Verlag: De Gruyter
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
E-Book, Deutsch, 346 Seiten, Gewicht: 10 g
ISBN: 978-3-11-021355-3
Verlag: De Gruyter
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Nachdem er sich von Wagner und dessen Ideal einer germanischen Wiedergeburt abgewendet hatte, orientierte sich Nietzsche an den kulturellen Debatten im Frankreich der 1880er Jahre. Paris galt ihm als die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts und als eine Versuchsanstalt für neue Werte und Lebensformen, aus der die Gesellschaft des künftigen Europas hervorgehen sollte. Seit seinem Aufenthalt in Nizza im Winter 1883 bildet er seinen décadence-Begriff aus, vor allem anhand philosophischer und psychologischer Schriften von Autoren wie Bourget, Renan, Féré, Ribot und Taine.
Die Bedeutung dieser und vieler anderer Autoren für Nietzsches Werk wird hier in vollem Umfang dargestellt. Campioni hat wichtiges Quellenmaterial zu diesem Thema, u. a. aus der hinterlassenen Bibliothek des Philosophen in Weimar, untersucht.
Zielgruppe
Academics, Institutes, Libraries / Wissenschaftler, Institute, Bibliotheken
Fachgebiete
Weitere Infos & Material
1;Inhalt;5
2;Vorwort;7
3;Zitierweise;17
4;Siglenverzeichnis;19
5;I. Nietzsche, Descartes und der französische Geist;22
5.1;1. Der „Handwerker Descartes“ versus Nietzsche „den Edlen und Krieger“;22
5.2;2. Die „Nothlüge und die veracité du dieu des Descartes“;35
5.3;3. Der Weg der Erkenntnis;41
5.4;4. Die Schlachten des Descartes;45
5.5;5. Sum, ergo cogito: cogito, ergo sum;55
5.6;6. Descartes: Vernunft und Revolution;61
5.7;7. Das Gleichgewicht der klassischen Vernunft und die „moralischen Monstra“;68
6;II. Der „deva“ der Dialogues philosophiques und Nietzsches Übermensch. Renan als „Antipode“.;77
6.1;1. Der Mythos Jesu von Strauss bis Renan: die Auffassung Wagners und des jungen Nietzsche;77
6.2;2. Die Kraft der ‚Krise‘: Renan, Burckhardt und Nietzsche;88
6.3;3. Parfum Renan: „la niaiserie religieuse par excellence“;105
6.4;4. Nietzsches Philosophie: ein „renanisme exaspéré et sans ‚nuances‘?;115
6.5;5. Maschinismus und Ideal: der technokratische Traum Renans und die Kritik Nietzsches;132
7;III. Germanische Kultur und romanische Zivilisation in der Sicht von Wagner und Nietzsche;149
7.1;1. Das ‚Deutschthum‘ des jungen Nietzsche: Wagner und der ‚Bayreuther Sumpf‘;149
7.2;2. Egoistische Einsamkeit der Künste und italienische Oper. Die Renaissance als Ursprung der romanischen Zivilisation;156
7.3;3. „Ästhetisiren auf Grundlage einer unmoralischen Welt“: Wagners Kritik an der romanischen Zivilisation;163
7.4;4. Die Sehnsucht nach der Idylle und die Französische Revolution. Eine tragische „Wiedergeburt“: die Zweideutigkeit der wagnerschen Befreiung;168
8;IV. Der Süden und die Renaissance: „Die Pflanze Mensch wächst hier stärker als anderswo“;174
8.1;1. Die Renaissance des neuen Erziehers. Philologie und historische Größe;174
8.2;2. Die Epoche der „individuellen Menschen“. Die erste Lehre Burckhardts;185
8.3;3. Die Poeten-Philologen und die neuen Lebensformen;191
8.4;4. Die Renaissance und die „Pflanze Mensch“: Stendhal, Taine und Nietzsche;198
8.5;5. Napoleon: ‚Der posthume Bruder des Dante und des Michel Angelo‘;212
8.6;6. „È tutto festo“. Auf der Suche nach dem „monstre gai“;225
8.7;7. „Cesare Borgia als Papst“ und seine ‚virtù‘. Goethe und der Renaissancemensch;233
9;V. Die Götter und die décadence;257
9.1;1. Byron in Venedig: die Genesung des ‚höheren Menschen‘;257
9.2;2. „En ce siècle où les Dieux sont tout éteints …“;272
9.3;3. „Vox populi, vox Dei“. Die Romantik von Jules Michelet, Victor Hugo und George Sand. Die Helden von Arthur de Gobineau;287
9.4;4. Der demagogische Cagliostro und der dionysische „Histrio“.;304
10;VI. Die Reise des Herrn Nietzsche nach Cosmopolis;319
10.1;1. „Der Pariser als das europäische Extrem“;319
10.2;2. „Anatomistes, physiologistes, je vous retrouve partout!“;327
10.3;3. Die Krankheit des Willens.;340
10.4;4. Stile der décadence;348
11;Bibliografie;361
(S. 313-314)
Vor allem in seinen letzten Schaffensjahren blickte Nietzsche folglich auf Paris, die „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“, das große Laboratorium der Werte und Lebensformen, das zwangsläufig Ausschuss produzierte, der für den „Pychologen“ von größtem Interesse ist. Nietzsche trieb seine antimetaphysischen Forschungen bis zur äußersten Konsequenz. Die neue französische Psychologie, die genau wie die Physiologie den dynamischen Charakter und die Komplexität der Wirklichkeit erfasste, half ihm bei der Überwindung der in der Sprache festgewordenen Mythen. Gegen diese behauptete er die pluralis tische Natur des Ich, die genealogische Konstruktion des Subjekts, und suchte nach einem „neuen Centrum“ (Nachlass 1883–1884, KGW VII/1, 24[28]):
Der Mensch hat, im Gegensatz zum Thier, eine Fülle gegensätzlicher Triebe und Impulse in sich groß gezüchtet: vermöge dieser Synthesis ist er der Herr der Erde. – Moralen sind der Ausdruck lokal beschränkter Rangordnungen in dieser vielfachen Welt der Triebe: so daß an ihren Widersprüchen der Mensch nicht zu Grunde geht. Also ein Trieb als Herr, sein Gegentrieb geschwächt, verfeinert, als Impuls, der den Reiz für die Thätigkeit des Haupttriebes abgibt. Der höchste Mensch würde die größte Vielheit der Triebe haben, und auch in der relativ größten Stärke, die sich noch ertragen läßt (Nachlass 1884, KGW VII/2, 27[59]).
Entgegen den simplifizierenden Theorien der schicksalbestimmenden Bedeutung von Blut und Rasse erblickte Nietzsche in der Vielgestaltigkeit der zeitgenössischen Welt und in der chaotischen, zwitterhaften Natur des modernen Menschen einen potenziellen Reichtum. Mit einem Ausdruck, der auf die zu jener Zeit viel diskutierte Methode von Claude Bernard verweist, wurden die Studien zur Hypnose, zur Verdoppelung oder Vervielfachung der Persönlichkeit, auf die sich auch Taine im Vorwort zu De l’intelligence berief, als eine Art moralische Vivisektion bezeichnet. Konstruktion und Erhaltung der Person sind ein komplizierter, zerbrechlicher Bau, der immer wieder teilweise einstürzen kann.
Die Bruchstücke bilden das Material für eine neue Konstruktion, die rasch neben die alte tritt: „man soll überhaupt nicht voraussetzen, daß viele Menschen ‚Personen‘ sind. Und dann sind Manche auch mehrere Personen, die Meisten sind keine“ (Nachlass 1887, KGW VIII/2, 10[59]), „die Schwäche des Willens, die Unsicherheit und selbst Mehrheit der ‚Person‘“ (Nachlass 1888, KGW VIII/3, 14[113]). Dank der Hypnose kann ein Aspekt des Seelenlebens zutage gefördert werden, der dem Bewusstsein unbekannt ist. Die Hypnose gewinnt der Seele ihren Reichtum zurück, der durch die Durchsetzung des persönlichen Bewusstseins überschattet wurde, und liefert dem Psychologen ein Werkzeug, um den Physiologen das Unbewusste zu entreißen, ohne wiederum eine geheimnisvolle Größe daraus zu machen.