Cameron | Neandertal | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 368 Seiten

Cameron Neandertal

Roman
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-641-25538-1
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 368 Seiten

ISBN: 978-3-641-25538-1
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die Welt vor 40.000 Jahren. Ein besonders strenger Winter hat die letzte Sippe der Neandertaler hart getroffen, nur wenige haben überlebt. Unter ihnen auch „Mädchen“, die älteste Tochter. Nun bricht die Familie auf zu dem jährlichen Treffen, um einen geeigneten Partner zu finden. Doch die raue und unwirtliche Natur fordert ihren Tribut. „Mädchen“ und „Kümmerling“, ein Bastard ungewisser Herkunft, bleiben allein zurück. Als die Zeit der Winterstürme naht, erkennt Mädchen, dass es nur eine Möglichkeit gibt, ihr Volk zu retten, auch wenn sie dafür ein großes Opfer bringen muss. In der Jetztzeit arbeitet die schwangere Archäologin Rosamund fieberhaft daran, neue Neandertal-Artefakte zu bergen, bevor ihr Kind auf die Welt kommt. Über Jahrtausende verbunden durch gemeinsame urweibliche Erfahrungen, geht die Geschichte beider Frauen zentralen Themen im Leben aller Frauen auf den Grund.

Claire Cameron, geboren 1973, ist eine kanadische Schriftstellerin und Journalistin. Ihre Romane sind in ihrer Heimat Bestseller und begeistern Lesepublikum wie Kritik gleichermaßen. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Söhnen in Toronto.
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2


Als Mädchen an jenem Morgen aus der Hütte lugte, roch sie den drängenden Frühling. Es war der erste Tag der Jagd, und das Land war zum Leben erwacht. Die Sonne gab sich viel Mühe, die Eisschicht des Winters von der Erde zu schälen. Dabei kam auch der tiefe Hunger des Landes zum Vorschein. Dieses verzehrende Gefühl erfüllte ebenfalls die Bäuche all der Tiere im Tal des Gebirges. Mädchen sah, wie die Bäume vor Sorge erzitterten. Sie spürten die Schwingungen der knurrenden Mägen, die über die Erde an ihren Wurzeln übertragen wurden. Kalte Luft umgab die Kiefernnadeln, und jeder wachsende Zapfen am Ende jedes Zweigs erbebte vor Angst. Der Boden bewegte sich in Pein, als das Eis sich von ihm löste. Frühling bedeutete Leben, aber nur für manche. Für andere bedeutete er den Tod.

Am Fuß des Abhangs stocherte Große Mutter an der Feuerstelle in der Glut, um das Morgenfeuer zu entfachen. Die alte Frau trug ihre Bisonhörner, die an einer weichen Lederhaut befestigt und an den Kopf gebunden waren. Genau am tiefen Haaransatz ihrer niedrigen Stirn ragten sie hervor. So konnte jedes Tier auf einen Blick erkennen, dass Große Mutter das Sagen hatte. Sie war schon alt, sie konnte sich an über dreißig Frühlinge erinnern, wenn auch nicht im Einzelnen. Doch ihre milchigen Augen konnten immer noch Formen, Licht und Bewegungen erkennen. Ihre Nase erspürte immer noch aus einer Entfernung von hundert großen Schritten den Geruch eines frischen Sprösslings.

Als Oberhaupt der Familie würde Große Mutter entscheiden, welches Tier sie an diesem Tag erlegen wollten. Obwohl ihre Tage der Jagd vorüber waren, würde sie gemeinsam mit dem Rest der Familie zur Furt der Bisons gehen. Zu dieser Zeit im Frühjahr konnte Mädchen es nicht riskieren, Große Mutter oder einen der Schwächeren allein zu lassen. In letzter Zeit schlich ein junger Leopard in der Nähe der Feuerstelle herum. Er war neu in ihrer Gegend und unruhig. Früher hätte die Familie ihn mühelos vertreiben können, aber in diesem Frühling waren sie besonders wenige. Daher wagten sie nicht, dem Leopard auch nur die geringste Chance zu lassen, bei ihnen Beute zu machen.

Als Er, Mädchens Bruder, zum Feuer kam, brach Große Mutter in Gelächter aus. Mädchen brauchte einen Moment, bis sie den Grund erkannte: Er hatte oft eine Anschwellung, und da sein Umhang nur lose seinen Körper bedeckte, sah sie, dass dies auch an diesem Morgen der Fall war. Große Mutter lachte vor Freude, denn ein steifes Glied bedeutete Gesundheit. Es war Glück.

Große Mutter hatte schon vieles von ihrem Körper eingebüßt, nicht aber ihr Lächeln. Ihr Lachen war ein scharfes Gackern und zeigte, dass sie bereits alle Zähne verloren hatte, bis auf ein paar vorne links oben und zwei Backenzähne. Wenn sie lachte, drückte sie die Hand an die Wange. Mädchen wusste, dass die alte Frau wünschte, die verbleibenden Zähne würden ebenfalls zu Boden fallen. Denn vor lauter Schmerz fühlte sich ihr Körper an wie Dörrfleisch. Aus ihrem Kinn sprossen ein paar borstige graue Haare, und ihre großen, stolzen Brüste lagen platt auf ihrem Bauch. In der dicken Haut ihres Gesichts war eine Tränenspur zu sehen. Große Mutter glaubte, man könnte den Wert eines Lebens an kleinen Dingen ablesen. An der Zahl der Falten etwa, an der man erkannte, wie oft der Körper ein Lachen und wie oft ein Stirnrunzeln hervorgebracht hatte. Mädchen wusste, dass die alte Frau deshalb darauf geachtet hatte, ganz oft zu lachen.

Leichtes Unbehagen überkam Mädchen, als sie wahrnahm, wie sich der Geruch des Frühlings und der ihrer alternden Mutter vermischten. Ihr war klar, dass Große Mutter jeden Augenblick tot umfallen konnte. Sie selbst sagte oft, ihr Atem würde stinken wie das Hinterteil eines Bisons, weil sie so viele Jahre ausschließlich das gegessen hätte. Bisons verströmten von hinten einen ganz besonderen, aber nicht unbedingt unangenehmen Geruch. Ihre Scheiße roch in gewisser Weise süß und nach Leben. Wenn man sie mit Sand vermischte, konnte man sie auf die Kiefernäste der Hütte schmieren und damit die Löcher abdichten, durch die sonst der Wind drang. Es war nichts Schlimmes daran, den feuchten Wind abzuhalten, der einen anwehte, genauso wenig wie das Altern etwas Schlimmes an sich hatte. Wenn Mädchen klug genug war, so lange zu leben, würde sie sich diesen Atem ebenfalls verdienen.

Die Weisheit von Große Mutter war dringend erforderlich. Nur die besten Instinkte sorgten dafür, dass der Körper so lange überlebte, und Große Mutter hatte Mädchen beigebracht, dass im Rhythmus der stets vorwärts stürmenden Jahreszeiten zu leben bedeutete, dass alles ständig im Wandel war. Alles um sie herum spross, wuchs und erreichte irgendwann seinen Höhepunkt. Wenn etwas nicht länger in der Lage war, sich zu erneuern, schwand seine Kraft. Und dann starb es – wurde Totholz. Ein Blatt, das vom Baum fällt, zersetzt sich und ernährt den Boden. Die gesättigte Erde nimmt Regen in sich auf und wird zur Nahrung für den Baum. Und über einen längeren Zeitraum betrachtet, stirbt somit eigentlich nichts. Es verändert sich nur. Aber alle Veränderungen bringen Angst und Schmerz mit sich. Und Große Mutter gab sich viel Mühe, ihrer Familie Trost dadurch zu spenden, dass sie immer wieder das Gleiche tat. All die Jahre stellte sie ihre Werkzeuge aus demselben Stein her, aß dieselbe Nahrung etwa zur selben Zeit im Jahr und baute auf immer dieselbe Art und Weise ihre Hütten.

Jetzt sah Mädchen Er an und bewunderte sein glänzendes braunes Haupthaar. Dass es so schimmerte, war auch ein Zeichen für Gesundheit. Es war von seiner niedrigen Stirn über die Ohren zurückgestrichen und mit einem Riemen zusammengebunden. Sein Rücken war kräftig und ging von der Mitte aufwärts in die Breite. Auch er hatte eine Veränderung durchgemacht, obwohl diese später als bei anderen kam, da er die vergangenen Jahre noch schmal und mager gewesen war. Mit der Veränderung war auch sein Verhalten sprunghaft geworden, in gewisser Weise eine Warnung an Mädchen vor dem, was noch kommen würde. Da sie auf engstem Raum zusammenlebten, ertrug sie diese Launen ziemlich gleichmütig. Doch obwohl sie so tat, als wäre ihr das nicht klar, wusste sie, dass er in diesem Sommer beim Fischsprung die Aufmerksamkeit einer Frau erregen konnte.

Allein der Gedanke an die leuchtenden Farben beim Fischsprung ließ Mädchens Herz schneller pochen, und ihr lief das Wasser im Mund zusammen. Ihr Hunger wurde drängender. Sie dachte an das Gefühl der weichen Fischeier zwischen ihren Fingern. Im Jahr zuvor hatte sie sie ganz genau betrachtet, und sie hatten ausgesehen, als wäre der Fluss darin gefangen. Dieser winzige Fluss enthielt die nächste Generation der Fische, deshalb wollte sie ihre Stärke in ihren Körper aufnehmen. Sie hatte die Eier zwischen die Backenzähne geschoben, sie zerquetscht und auf das Geräusch des Zerplatzens gelauscht. Jetzt stellte sie sich die schlüpfrige Haut der Fische in ihren Händen vor, das weiche orangefarbene Fleisch darunter, und mit einem Mal fühlte es sich an, als würde ihr das Blut unter der Haut kochen.

Wenn die Frühlingssonne hoch genug stieg, um den Felsvorsprung oberhalb ihrer Hütte zu küssen, würde sich die Familie auf den Weg zum Treffpunkt machen. Die anderen Familien, die an verschiedenen Verästelungen des Flusses lebten, würden sich ebenfalls in Bewegung setzen. An der Stelle, wo die Arme des breiten Flusses zusammenkamen, gab es eine Vielzahl von flachen Stromschnellen.

In dieser Jahreszeit diente jener Ort auch als Treffpunkt für die Fische. Wenn sie ihre Körper die Felsstufen hochschleuderten, wurden viele am Stein zerschmettert, einige gerieten in die wartenden Schilfnetze der Familie, und manche wurden von den Bären geschnappt. Nur ein paar Fische kamen durch. Jeder einzelne war so lang wie ein Arm und so dick und kräftig wie ein Oberschenkel. Aus ihrem Unterkiefer ragten zwei Fangzähne hervor. Die Fische waren so schlau wie Krähen und so schnell wie Schlangen. Ihre Schuppen leuchteten fleckig grau, aber die leckersten hatten flammendes Orange auf dem Rücken, das zeigte, dass sie reif waren. Diese hielt die Familie für die besten Fische. Es waren nicht immer die stärksten, aber ihre Eigenschaften – Klugheit, Stärke, Größe oder Sehvermögen – waren in diesem speziellen Jahr am besten an die Bedingungen angepasst. Es waren auch diejenigen, die ihre orangefarbenen Eier im flachen Wasser flussaufwärts ablegen konnten. Aus diesen kam die neue Generation der Fische.

Mädchens Gedanken wanderten immer wieder zum Treffpunkt, dabei wusste sie doch, dass sie sich nicht ablenken lassen durfte. Also wandte sie sich abrupt der Gegenwart zu und betrachtete ihre Familie an der Feuerstelle: Große Mutter, Er, Krumm und Mickerling. Sie waren nur eine kleine Gruppe, und ein paar von ihnen wirkten schwächer als andere Tiere. Von früheren Besuchen des Treffpunkts wusste sie, dass sie vielleicht nicht die Attraktivsten der Horde sein würden. Aber sie ließ nicht zu, dass die Sorgen über ihre Chancen sie jetzt überfluteten. Wie das Lernen zu jagen, zu reparieren und zu bauen gehörte auch zum Erwachsenwerden, dass man seine Sorgen in Schach hielt. Sie musste sich auf die Jagd konzentrieren und durfte ihre Aufmerksamkeit jetzt nicht auf anderes lenken; das konnte sie alle in Gefahr bringen und ihr Ende bedeuten.

An diesem Morgen war Er als Erster den steilen Abhang zur Feuerstelle hinuntergestiegen. Zwar war das Gebiet der Familie immer noch von Eis überzogen, doch die Kälte machte ihm nichts aus. Er war getrieben vom Drang, sich zu paaren. Er wusste, das konnte er nur, wenn er am Treffpunkt gesund aussah, und seine Gesundheit hing von dem Essen ab, das er zu sich nahm. Im Frühjahr konnte...


Cameron, Claire
Claire Cameron, geboren 1973, ist eine kanadische Schriftstellerin und Journalistin. Ihre Romane sind in ihrer Heimat Bestseller und begeistern Lesepublikum wie Kritik gleichermaßen. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Söhnen in Toronto.



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