E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Calonego Oh, wie schön ist Kanada!
11001. Auflage 2011
ISBN: 978-3-8437-0113-6
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Leben unterm Ahornblatt
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-0113-6
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Bernadette Calonego lebt und arbeitet seit über zehn Jahren als Kanada-Korrespondentin der Süddeutschen Zeitung in Vancouver. Die Webseite der Autorin: http://www.bernadettecalonego.com/deutsch/blog/
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Prärie-Austern
Ich führe Selbstgespräche, was ein gutes Zeichen ist. Deine Welt ist wieder in Ordnung, sage ich zu mir. Du sitzt mit einer Tasse Kaffee am großen Holztisch und siehst Anke zu, wie sie aus Teig Brote formt. So erdig und stark. Dein Haar kraust sich fürchterlich, aber es ist schon fast trocken. Ein Feuer knistert im finnischen Specksteinofen, der Ankes ganzer Stolz ist. Du weißt jetzt alles über die Vorzüge finnischer Specksteinöfen, die allen kanadischen Öfen überlegen sein sollen, und du hast ihn auch gebührend bewundert. Ja, richtig, über dem Sofa hängt ein ausgestopfter Bärenschädel, daneben das konservierte Haupt eines Elches, aber sieh jetzt nicht da hin, meine Liebe. Wir denken dann später darüber nach, wie wir dazu stehen.
Diese Wände aus dicken Baumstämmen, so hast du dir das doch immer vorgestellt, du heimliche Träumerin. Blockhüttenstil. Rustikal. Oder vielleicht doch nicht so rustikal? Zugegeben, ein bisschen mehr Privatsphäre wäre nicht schlecht. Du wirkst ein bisschen verloren in diesem Raum. Er ist Küche, Esszimmer, Wohnstube, Büro, Badezimmer und Waschküche in einem. Ein bisschen viel offenes Wohnen, aber wenigstens hat die Toilette eine eigene Tür. Wenn du Ankes Anweisungen befolgst, wie das Klo zu bedienen ist – ein Wassereimer spielt dabei eine wichtige Rolle –, dann wird es schon irgendwie gehen. Denk daran, was Anke dir erzählt hat: Früher hatten sie nur ein Plumpsklo draußen und mussten die Flinte mitnehmen, wegen der Bären. So kanadisch willst du es doch auch wieder nicht, oder, meine Liebe?
Und sieh mal, wie harmonisch hier Menschen und Tiere auf engem Raum zusammenleben. Dieses Japsen und Schmatzen aus der anderen Ecke des Raumes, das ist die Hündin Bella, ein Golden Retriever, die ihre zehn Jungen säugt, die sie vor wenigen Tagen geworfen hat. Anke will die jungen Hunde später verkaufen. Erinnere dich dran, was sie dir gesagt hat: »In Kanada muss man erfinderisch sein, damit genug Geld reinkommt.« Die Menschen hier lassen sich nicht unterkriegen.
Sieh dir Anke an. Hat sie nicht das Gesicht einer Frau, die körperlich hart arbeitet, aber zufrieden ist? Du arbeitest auch hart, aber die Zufriedenheit, die fehlt dir. Du musst sie sicher beneiden, meine Teure! Versetz dich in ihre Welt. Dazu bist du doch nach Kanada gekommen, nicht wahr?
Anke unterbricht meinen Gedankenstrom. »Was sagst du zu unserer orangefarbenen Polstergruppe? Die ist von Ikea«, erklärt sie, »und damit kann ich mich brüsten, denn für die Kanadier ist Ikea europäisch und deshalb erstklassig. Wir sind dafür eigens acht Stunden nach Vancouver gefahren. Ich glaube, ich habe die einzige Polstergruppe im Umkreis von fünfhundert Meilen, die nicht geblümt oder gestreift ist.« Sie lacht. »Für die Kanadier sind leuchtende, knallige Farben typisch europäisch. Alles, was frech ist und heraussticht, bezeichnen sie als europäisch. Schockfarben eben. Die Durchschnittskanadier bevorzugen dezente Töne, Beige und Rauchblau und Dunkelgrün oder ein blasses Rosa.«
Hat mir Gail nicht auch so etwas erzählt? Wie hat sie die Kanadier im Allgemeinen charakterisiert? Vorsichtig, zurückhaltend, bescheiden. Und so nett. Und überall beliebt. Deswegen würden manche Amerikaner mit der kanadischen Flagge auf dem Gepäck reisen, um überall willkommen zu sein.
Anke hört auf zu kneten und sagt: »Du hast wieder deine Eros-Ramazotti-Augen.«
»Ich habe was?«
»Deine Eros-Ramazotti-Augen. Genau diesen Blick hast du früher jedes Mal gehabt, wenn eine dieser romantischen Eros-Balladen im Radio lief.«
»Also hör mal! Daran kannst du dich doch bestimmt überhaupt nicht mehr erinnern. Außerdem ist das Michael Bublé.«
»Michael wer?«
»Michael Bublé, das solltest du doch wissen, der ist Kanadier. Sogar in Deutschland kennt man den.«
»Was weiß ich. Hier hört man nur Country.«
»Ja, das hab ich gemerkt. Ist ja gut, dass ich diese CD mitgenommen habe.« Und ein paar Bücher, denn außer Koch- und Gartenbüchern und Anleitungen für den Heimwerker habe ich hier nichts gefunden. Aber das sage ich nicht laut. Dafür singe ich kräftig mit: »I wanna go home …«
Anke schneidet eine Grimasse: »Kaum angekommen, willst du schon wieder nach Hause?«
»Anke, gib’s auf!«
Sie schiebt die Brote in den Ofen und wischt sich die Hände am Küchentuch ab. »Komm, ich zeig dir unser Land«, sagt sie.
So komme ich zu meinem ersten »kanadischen Moment«. Zu dem Zustand, in dem man nichts mehr denkt und nur noch staunt, wie schön Kanada ist.
Ich ziehe die schmutzigen Turnschuhe an, denn mein Gepäck ist noch nicht da, Jake und Carl sind immer noch auf dem Quad unterwegs. Wir erklimmen einen Hügel hinter dem Haus und schauen uns um. Ich sehe kein Haus, nicht mal das von Anke, keine Straße, weder Strommasten noch Telefonkabel. Diese Weite! Diese Schönheit der Natur! Platz zum Atmen. Raum für Bewegungsfreiheit. Rundum gibt es nichts als Wälder, so weit man sieht. Die Weiden der Ranch ragen wie eine helle Zunge in das dunklere Grün hinein. Darauf grast das Vieh.
»Wir haben fünfzig Rinder, zwei Milchkühe, einen Stier, fünfzehn Pferde und ein Lama«, zählt Anke auf.
In meinen Ohren klingt das so viel besser als »ein VW Jetta, ein Diamantring, vier grüne Aktienfonds, drei Joop-Kostüme, eine Corbusier-Lederliege und ein Abo für die Kunsthalle«.
»Siehst du den Weiher dort?«, ruft Anke. »Der gehört uns auch, samt den Forellen drin. Und die nächsten Nachbarn sind mehr als sechs Kilometer entfernt.«
Ich werde immer neidischer. All das ist ihr Grund und Boden! Der einzige Boden, den ich mein Eigen nenne, ist das neue Parkett in meinem Wohnzimmer.
Eine richtige Pionierin ist sie, die Anke. Sie kann diese Geschichten von den Anfängen erzählen, wie die Auswanderer in den Reality-Shows im deutschen Fernsehen.
»Wir wussten nicht, was uns erwartet, sonst wären wir vielleicht wieder geflüchtet. Es gab keine Schlafzimmer im Haus, stell dir vor, nur einen Dachboden. Die Fenster hatten Plastikplanen statt Glasscheiben. In allen Ritzen hatten sich Mücken eingenistet. Es war furchtbar. Ich war so zerstochen im Gesicht, dass ich dachte, Carl wird bald vor mir Reißaus nehmen. Wir haben in Schlafsäcken auf dem Holzboden geschlafen, bis es endlich Platz gab für die eigenen Möbel. Und ich musste wochenlang auf einem Feuer im Freien kochen, bis wir Gas hatten.«
»Ach, wie abenteuerlich das klingt!«, sage ich neidisch.
Anke ist jetzt ganz in ihrem Element. »Carl musste ein Jahr lang Zäune bauen für sechs Euro die Stunde, weil die Fleischpreise im Keller waren und unser Rindfleisch nichts wert.«
»Das hat euch sicher zusammengeschweißt«, rufe ich entzückt, »dieser harte Kampf ums Überleben.«
Anke bleibt stehen. »Ich sag dir jetzt was, Schätzchen. Als wir kein Geld hatten, wäre ich fast wieder nach Deutschland zurückgekehrt. Aber sag das nicht meinen Eltern. Hier hast du kein soziales Auffangnetz wie bei uns. Und Selbstversorgung ist kein Honigschlecken, das kannst du mir glauben.«
Ich bin perplex. »Erst schwärmst du mir vor, wie schön du es hast, und jetzt willst du mich abschrecken?«
»Abschrecken? Weißt du, warum ich nicht zum Flughafen gekommen bin? Weil Carl und ich uns gestritten haben. Er hat sich ein neues Schneemobil für zwanzigtausend Dollar gekauft, ohne mein Wissen und auf Pump! Jetzt können wir wieder meine Eltern in Deutschland nicht besuchen. Aber er kennt es nicht anders. Hier leben alle auf Pump. Die machen Schulden wie wir warme Brötchen und finden nichts dabei. Es gehört zum kanadischen Lebensstil. Nur mir geht das total gegen den Strich.«
Sie beginnt den Abstieg vom Hügel. Auch mit meinen Ranchferien geht es von da an leider bergab.
»Jake wird dich am Wochenende zum Rodeo mitnehmen.«
»So, wird er das. Werd ich eigentlich auch gefragt? Ich geh nur mit, wenn er diesmal einen vollen Reservekanister einpackt. Wie kann man so was nur vergessen!«
Anke zuckt die Schultern. »Daran musst du dich hier gewöhnen. Wir Deutschen haben andere Erwartungen an Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit als die Kanadier.«
»Dann bist du ja schon richtig kanadisch geworden«, necke ich sie. »Hast mich zwei Stunden lang auf dem Flughafen warten lassen.«
Anke lässt so etwas wie ein Schnauben hören. »Du musst ein bisschen großzügiger werden, Schätzchen, dann geht alles leichter.«
Die hat gut reden. Auf ihren Wunsch hin habe ich ihr tonnenweise deutsche Zeitschriften mitgebracht, deutschen Kaffee, deutsche Speisewürze, deutschen Senf, deutsche Kekse, deutsche Kräuterbonbons, deutsche Magentropfen – wenn das nicht großzügig von mir ist.
Dafür will sie mir gesunde Schokolade andrehen, die helfen soll, Gewicht zu verlieren. Schlankwerden mit Schokolade. Ich denke, ich hör nicht recht. Als ob ich das nötig hätte. Anke wirbt für diese schlankmachende Schokolade auf Haus-Partys. Noch so eine ihrer Einkommensquellen, neben der Hundezucht, dem selbstgemachten Heidelbeerlikör, den gegerbten Hirschhäuten und den getrockneten Pilzen.
Heute Abend ist sie mit der Gesundheitsschokolade bei einer Bekannten namens Betty Halter und fährt dafür eine ganze Stunde. Ich verdrehe die Augen. Eine Tupperparty!
Das ärgert Anke: »Ihr Deutschen habt immer diese vorgefassten Meinungen!«
Aber nein danke, ich will trotzdem nicht mit. Für heute reichen mir die Schlaglöcher.
Und von Rundgängen auf der Ranch habe ich vorerst auch die Nase...