E-Book, Deutsch, Band 5, 192 Seiten
Reihe: Ein Mord fu¨r Massimo Capaul
Calonder Engadiner Herzrasen
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-311-70265-8
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Mord für Massimo Capaul
E-Book, Deutsch, Band 5, 192 Seiten
Reihe: Ein Mord fu¨r Massimo Capaul
ISBN: 978-3-311-70265-8
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dass sich hinter Gian Maria Calonder der Erfolgsautor Tim Krohn verbirgt, hat sich in der Schweiz nicht lange verheimlichen lassen. Seit 2014 lebt Tim Krohn im 350-Seelen-Dorf Santa Maria im Val Müstair, einem Nebental des Engadins, das er daher bestens kennt. Tim Krohn ist 1965 in Nordrhein-Westfalen geboren, wuchs ab seinem zweiten Lebensjahr in der Schweiz im Glarnerland auf und wohnte danach gut zwanzig Jahre lang in Zürich, in einer sehr liebenswerten Genossenschaft. Er gewann unter anderem den Berliner Open Mike, den Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis, den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung und den Kulturpreis des Kantons Glarus.
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I
Wie jeden Morgen stand Massimo Capaul mit dem ersten Zwitschern der Amsel in der Lärche hinterm Haus auf, schlich an Metas Zimmer vorbei und die knarrende Holztreppe hinunter, um die italienische Espressokanne auf den vorsintflutlichen Herd zu stellen. Während er sich am abgestoßenen Spültrog wusch, hörte er durchs schlecht gekittete Fenster das gleichmäßige Rauschen des Zugs von Scuol, der oberhalb des Dorfs den Berghang entlangfuhr, ungebremst am Stationshäuschen von Lavin vorbei und weiter nach Sagliains. Zwanzig nach sechs. Seit Capaul den Dienst bei der Kantonspolizei quittiert hatte, blieb das Handy abgeschaltet, die alte, geliebte Omega-Armbanduhr, die ihn seit seiner Jugend begleitet hatte, war beim Umzug ins Engadin verloren gegangen. Nun waren die Züge seine Uhr. In Lavin galt Halt auf Verlangen. Der erste Zug fuhr durch, der zweite hielt an, gestoppt vom jüngsten Sohn des Bäckers, Baltisar Grass, der zu seiner Lehrstelle in Zernez fuhr. Damit war es sieben Uhr, Zeit für Meta, aufzustehen, und Capaul hatte zu verschwinden.
Wobei das keine Regel war, nur eine unausgesprochene Gewohnheit. Seit dem Tod ihres Mannes waren die Nächte Metas schwierigste Zeit, Albträume quälten sie, und morgens benötigte sie jeweils ein bis zwei Stunden, um sich zu fassen. Hatte sie die nicht, gerieten Capaul und sie leicht aneinander. Diese Auseinandersetzungen endeten meist mit der Feststellung: »Ich wusste ja, dass es nicht funktioniert«, danach folgte entweder der Satz: »Ich ziehe aus« (Capaul) oder: »Es wird das Beste sein, du ziehst wieder aus« (Meta). Was sie beide nicht wollten. Sie wollten, dass es funktionierte. Sie wollten, dass er blieb. Sie wollten eines Tages ein Zimmer teilen, gemeinsam aufwachen, sich am Gesang der Amsel freuen, die Hände am Herdfeuer wärmen und die Kaffeetasse teilen. Doch der Weg dahin war zäh.
Wie immer streckte Capaul den siedend heißen Kaffee mit viel Milch, trank ihn stehend in einem Zug, zog Jacke und Bergschuhe an und verließ das Haus.
Er eilte nicht nur Metas wegen. Er liebte es, am frühen Morgen bergwärts zu steigen, und wollte die Stunde nicht verpassen, in der es unten am Inn noch ganz dämmerig war und das kreuzförmige Gewächshaus der Gärtnerei funkelte wie ein Kristall in seiner Höhle. Die Häuser von Guarda, das auf einer Terrasse oben am Hang lag, leuchteten matt wie Eier in einem Nest, während die Berge über Scuol scharfkantig in den diesigen, blass rosafarbenen Himmel ragten. Dagegen wirkten die Felswände des Pisoc und des Lischana bläulich, mit schlickbraun schimmernden Wäldern. Nur über Österreich leuchtete schon der helle Tag.
Im Herbst war dies die Stunde der Jäger, jetzt im April war kaum jemand unterwegs. Nur die Waldarbeiter schnitten mit heulenden Sägen bereits Fallholz, und irgendwo ratterte ein Bagger. An den schattigen Stellen lagen noch Reste von Schnee, die Wiesenflanken darunter waren getränkt von Schmelzwasser, jeder Schritt schuf quatschend eine Pfütze, und es duftete nach Fruchtbarkeit. Die Wiesen waren voll mit weißen, gelben, rosenrot- und lilafarbenen Blümlein, deren Namen Capaul von Meta gelernt hatte – Küchenschelle, Zwergbuchs, Frühlingskrokus, Schneeheide –, nur vergaß er hartnäckig immer wieder, welche Blume welchen Namen trug.
Nachdem er sich auf einen unter der Schneelast gestürzten Baum gesetzt hatte, beobachtete er Metas Haus, ein großer, vergleichsweise schmuckloser Kasten, nach dem Dorfbrand vor rund hundertfünfzig Jahren als typisches Bauernhaus gebaut: halb Stall, halb Wohnhaus, das Giebeldach mit nur unmerklicher Neigung – so hatte sich vermutlich Raum schinden lassen. Auch typisch war, dass der Stall zur Straße hin ebenfalls als Wohnhaus kaschiert war, mit Sprossenfenstern und Läden anstelle der großen, offenen Holzbögen, wie sie die dem Berg zugewandte Seite einmal gehabt hatte. Inzwischen waren sie ebenso zugemauert wie straßenseitig die Stallfenster, nur Unebenheiten und Verfärbungen im Putz zeigten noch die alte Struktur.
Weshalb, darüber schieden sich in Metas Familie die Geister. Die offizielle Legende lautete, dass Metas Urgroßvater Tabak angebaut und verarbeitet hatte, was Feuchtigkeit und Wärme bedingt. Manche behaupteten aber auch, er hätte den Tabak nicht angebaut, sondern geschmuggelt. Schmuggel war bis in die Siebzigerjahre im Engadin ein lohnendes und weit verbreitetes Geschäft.
Meta selbst hatte dazu keine Meinung, sie sagte nur – mit diesem unergründlichen Lächeln, in das Capaul so vernarrt war: . Die Dinge sind nicht, wie sie sind, sondern wie man sie sieht.
Sie mochte sich nicht einmal dazu durchringen, zur öden, leeren Hausfassade mit dem scheckigen Verputz eine dezidierte Haltung zu entwickeln. Man hatte auf der Rückseite sogar die Läden des Wohnteils ausgehängt, die wenigen Fenster waren dunkle Löcher und die schlank gebaute Freitreppe, die außen in den Stall führte, der einzige dürftige Schmuck.
Als Capaul schimpfte: »Wie kann man ein so stattliches Haus derart verludern lassen?«, lachte sie.
»Zugegeben, hübsch ist anders. Aber es ist doch Hässlichkeit mit Charakter. Und was sollen wir deiner Ansicht nach tun? All die vermauerten Fensterbögen wieder aufbrechen? Und wozu? Oder auf die Leiter kraxeln und die Fassade streichen? Vielleicht müsste man sich erst Gedanken machen, wozu der Stall zu gebrauchen wäre.«
Das hatte eine gewisse Logik. Trotzdem beschloss Capaul, kaum hatte er bei seinem Vorgesetzten Offizier Gisler das Gesuch um Entlassung aus dem Polizeidienst eingereicht, Hand ans Haus zu legen.
Nicht brachial, sondern mit der feinen Klinge. Die ausgehängten Fensterläden lagen noch im Stall, die brauchte man nur abzuschleifen, neu zu streichen und wieder einzuhängen. Und auf die nackte Mauer konnten sie etwas malen oder schreiben, das hatte im Engadin Tradition. Dazu wollte er noch ein Spalierobst pflanzen, danach sah das Haus zweifellos schon ganz anders aus. Die Rückseite jedenfalls. Danach konnten sie sich den anderen drei Seiten widmen.
Und Capaul machte Ernst. Auch heute stand er auf, sobald er sah, dass Meta die Bettdecke zum Lüften aus dem Fenster hängte, klopfte sich auf die Schenkel, wie es die Sprinter vor dem Rennen tun, und machte sich im Laufschritt auf den Rückweg.
Als er vergnügt Metas Garten betrat, war heller Tag, die noch schneebedeckten Gipfel blendeten in der Sonne. Er holte aus dem Stall, was er zur Arbeit brauchte: zwei Böcke, Drahtbürste, Schmirgelpapier, Arbeitshandschuhe und zuletzt einen der verwitterten Fensterläden. Das Holz war aschgrau von Regen und Alter, die Farbreste warfen Blasen und lösten sich in dicken Schuppen. Es war ein Vergnügen, kraftvoll mit der Drahtbürste über die Läden zu fahren und Farbschollen splittern zu lassen.
Die Sonne hatte nun auch den Garten erreicht und wärmte ihm Schultern und Scheitel. Es duftete nach Diesel und Jauche, weil die Bauern das schöne Frühlingswetter nutzten, um endlich die randvollen Silos zu leeren und den Dünger auf den Wiesen auszubringen. Er trällerte und war so sehr in seiner Welt, dass er eine ganze Weile nicht bemerkte, dass Meta sich auf die Stalltreppe gesetzt hatte und ihr »Rabenhaar«, wie sie es nannte, nach einzelnen grauen Haaren durchsuchte. Hatte sie eines gefunden, riss sie es fast bedächtig aus, wickelte es um zwei Finger, verknotete es und blies es in den Wind.
Als er endlich einmal die Bürste absetzte und sich aufrichtete, um den schmerzenden Rücken durchzubiegen, sagte sie: »Ich habe dir ein Butterbrot gebracht.« Gleich darauf fand sie wieder ein graues Haar.
»Lass sie doch, sie gehören zu dir«, sagte Capaul, wischte die Farbschuppen von den Kleidern und ging zu ihr.
Meta schüttelte lächelnd den Kopf. »Was wäre das für ein Paar! Dir wächst kaum Flaum ums Kinn, und ich habe schon graue Haare?«
»Ich bin auch schon achtunddreißig«, stellte er klar. »Und ich muss mich jeden Tag rasieren, von wegen Flaum. Außerdem würde dir auch mit ein paar grauen Strähnen keiner die fünfzig Jahre abnehmen.«
Sie funkelte ihn an. »Siebenundvierzig.«
Er grinste. »Du bist einfach eitel.«
Da sie keine Anstalten machte zu rücken, quetschte er sich zwischen sie und das Treppengeländer. Gleich legte sie den Arm auf Capauls Schulter und verwuschelte seine dichten, dunklen Locken. »Und du ein Milchkalb, . Guten Morgen.«
Er ließ sich küssen, danach verschlang er hungrig das Butterbrot und erklärte Meta seine Schwierigkeiten mit der wohl ein Jahrhundert alten Ölfarbe, die sich zwar an den meisten Stellen quasi von selbst löste, an einigen aber umso hartnäckiger haftete, viele Schichten dick und hart wie Stein. »Wenn das einigermaßen aussehen soll, brauchen wir eine elektrische Schleifmaschine«, schloss er kauend.
»Ich leihe dir meine«, sagte Jon Luca. Er stand im geöffneten Gartentor, die Uniformjacke lose über die Schultern gelegt, mit offenem Hemdkragen und dem ihm eigenen Lächeln, das zu sagen schien: Keine Sorge, alles lässt sich irgendwie deichseln. »Du brauchst nur einzusteigen.«
Er zeigte hinter sich, offenbar hatte er gleich unterhalb der steilen Mauer auf der Straße angehalten.
»Hilf mir lieber bürsten«, antwortete Capaul. »Im Stall wartet noch ein Dutzend Läden. Die Schleifmaschine brauche ich frühestens zum Wochenende. Warum bist du überhaupt hier?«
»Wir brauchen dich in Samedan. Der Tatort ist bei mir um die Ecke. Danach kannst du die Maschine gleich...