E-Book, Deutsch, 112 Seiten
Calmy-Rey Die Neutralität
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-03810-494-0
Verlag: NZZ Libro
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zwischen Mythos und Vorbild
E-Book, Deutsch, 112 Seiten
ISBN: 978-3-03810-494-0
Verlag: NZZ Libro
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die frühere Bundesrätin und Vorsteherin des EDA Micheline Calmy-Rey plädiert für eine zeitgemässe Interpretation der Schweizer Neutralität. Sie stellt die Frage, was diese in modernen Konflikten oder bei Terrorismus und Cyberattacken leisten kann.
Autoren, Diplomaten oder auch Professoren beklagen sich heute über die Omnipräsenz der Neutralität in der politischen Debatte. Wir würden zu viel über die Neutralität sprechen, es wäre an der Zeit, diese etwas zu vergessen. Das Konzept der Neutralität sei veraltet. Sie würde lediglich noch die militärischen Fragen zwischen einem neutralen Staat und einer Konfliktpartei regeln. Micheline Calmy-Rey, langjährige Bunderätin und Leiterin des EDA, zeigt in ihrem Buch, was die Neutralität heute noch leisten kann. Heute, wo (für die Schweiz) militärische Konflikte weniger aktuell sind als zum Beispiel der Klimawandel. Was kann die Neutralität zugunsten der öffentlichen Sicherheit leisten? Gegen den Terrorismus, Cyberattacken oder innerstaatliche Gewalt? Schliesslich zeigt die Autorin, inwiefern die Schweizer Neutralität auch als Inspiration für die EU dienen könnte. Ist die Neutralität für die Schweiz noch ein nützliches Instrument oder nur noch ein Mythos?
Mit Beiträgen von Jean Ziegler, Roger Köppel und Paul Seger.
Autoren/Hrsg.
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EINLEITUNG
Die schweizerische Neutralität – eine Inspiration für Europa?
Zu Beginn des 16. Jahrhunderts ist die Schweiz die wichtigste Militärmacht Europas. 1512 fällt sie in das Burgund ein, belagert Dijon und zwingt dem französischen König ein Friedensabkommen auf. Im selben Jahr besetzt sie die Lombardei und geht 1513 siegreich aus der Schlacht bei Navarra hervor. Doch dann werden die als unbesiegbar geltenden Schweizer zwei Jahre später bei Marignano geschlagen: Die Unstimmigkeiten zwischen den Verbündeten und die Schwäche der übergeordneten Instanz der Tagsatzung hatten eine Einigung über die Anzahl Söldner, die von jedem Bündnispartner zu stellen wären, verhindert. Stattdessen hatten sie auf freiwilliger Basis, ohne feste Kontingente, Truppen abgeordnet. Zu wenige, wie sich im Verlauf der Schlacht zeigen sollte. 1516, ein Jahr nach der Niederlage, unterzeichnet die Schweiz einen Friedensvertrag mit Frankreich. Faktisch verzichten die Eidgenossen damit auf eine militärische Eroberungspolitik. Stattdessen handeln sie bilaterale Abkommen aus, zunächst mit Frankreich, später auch mit den Habsburgern, mit Spanien und Venedig. Sie reagieren auf äusseren Druck, zeigen sich flexibel und verständigen sich mit ihren Partnern, während sie sich gleichzeitig aus der «grossen Politik» heraushalten. Mehr als 200 Jahre lang werden sie eine zurückhaltende Aussenpolitik verfolgen, die man trotzdem nicht selbstbezogen oder isolationistisch nennen kann. Vielmehr geht die Schweiz auf Distanz zu ihren allzu mächtigen Nachbarn, um ihre Unabhängigkeit zu wahren. Man kann dies als pragmatische Haltung bezeichnen, die sich den Umständen anpasst. Daraus wird im 17. Jahrhundert das Prinzip der Neutralität hervorgehen, indem die Eidgenossen die Konsequenzen aus ihrer Lage ziehen: Die Schweiz ist ein Bündnis kleinräumiger Stände mit unterschiedlichen geostrategischen Interessen und einer schwachen Zentralmacht, die eher eine Einigungsinstanz ist als eine Institution, die über echte Entscheidungsgewalt verfügt. Die Eidgenossen verständigen sich 1647 auf den Status der Neutralität des Landes, ein Jahr vor der Unterzeichnung des Westfälischen Friedens. Ihre Botschaft lautet: Wir werden niemanden mehr angreifen; wir werden uns höchstens verteidigen, wenn wir angegriffen werden. Dies kommt einem endgültigen Verzicht auf militärische Aggression als Instrument der Sicherheitspolitik gleich. Die Eidgenossen verpflichten sich mit diesem Entscheid dazu, die Durchsetzung ihrer nationalen Interessen nie mehr mit Gewalt zu suchen, und sie tun dies, lange bevor das Völkerrecht den Krieg ächtet. Rückblickend ist dieser Entscheid in einer Epoche, in der der Krieg als legitimes Mittel zur Durchsetzung der eigenen Interessen galt, regelrecht revolutionär zu nennen. Dieser historische Rückblick ruft mir eine Konferenz in Erinnerung, an der ich vor einigen Jahren als Aussenministerin teilnahm. Es ging dabei um den Nahen Osten. Ein europäischer Kollege betonte die Wichtigkeit der europäischen Finanzhilfe für das Besetzte Palästinensische Gebiet und beklagte gleichzeitig, dass die Europäische Union bei den Bemühungen zur Beilegung des Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern keine strategische Rolle spiele. Wie in den Anfängen der Eidgenossenschaft waren auch hier gegensätzliche Interessen der Mitgliedsstaaten und eine schwache Führung am bescheidenen Erfolg der europäischen Aussenpolitik schuld, trotz der beträchtlichen Geldsummen, die mit im Spiel waren. Die Aussenpolitik trägt das Selbstverständnis eines Landes nach aussen. Sie ist idealerweise langfristig und berechenbar, vereint die Positionen der Bürgerinnen und Bürger und berücksichtigt das innenpolitische Geschehen, in dem die verschiedenen Komponenten und Kulturen zum Ausdruck kommen. Die Aussenpolitik der Europäischen Union ist ein Spiegelbild der europäischen Institutionen. Es überrascht daher nicht, dass die Aussenpolitik der EU als Ganzes mit der eines neutralen Landes vergleichbar ist und sich auf Handelsbeziehungen, Entwicklungshilfe, die Achtung des internationalen Rechts und Vermittlung konzentriert. Die Aussenpolitik der Europäischen Union ist weniger aktiv und einheitlich, als man es sich 2010 bei der Verabschiedung des Vertrags von Lissabon erhoffte. Die Union hat im gegenwärtigen geopolitischen Wettbewerb einen schweren Stand. Angesichts des Kampfs der Grossmächte China, Russland und USA um die Weltherrschaft ist sie ohnmächtig. Und ihre Struktur begünstigt sie nicht: Während die EU Geopolitik und Wirtschaft trennt, zögern die Vereinigten Staaten und China nicht, ihre Finanz- und Kapitalkraft und ihre Investitionen für ihre Machtpolitik einzusetzen. In der Union ist die Macht hingegen geteilt, Wirtschafts- und Handelspolitik sind die Domäne der Kommission, während die Sicherheits- und Verteidigungspolitik beim Ministerrat liegt. Diesem gehören die Regierenden der Mitgliedsstaaten an, die sich von unterschiedlichen nationalen Interessen leiten lassen, die durch einige blutleere Regeln nicht angeglichen werden können. Die Europäische Union ist geteilt in Ost und West, sie hat keine Antworten auf die Herausforderung der Migration, und sie ist militärisch schwach. Der Konflikt nach dem Ausstieg der USA aus dem Atomabkommen mit dem Iran hat die Mühen der EU offengelegt, auf dem internationalen Parkett zu handeln. Die Governance der Europäischen Union, wie sie sich aus den Römer Verträgen nach und nach entwickelt hat, sieht sich tagtäglich starkem inneren und äusseren Druck ausgesetzt. Mit ihren über 500 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern ist die EU grösser als Russland und die Vereinigten Staaten zusammen und hat doch Mühe, als eigenständige Macht aufzutreten und auf Dauer eine politische Statur zu erlangen, die den internationalen Herausforderungen, denen sie sich stellen muss, gewachsen ist. Ihre Situation im Clinch zwischen internen Führungsaufgaben und geopolitischer Positionierung in einer bedrohlichen Welt erinnert durchaus an die Schweiz, sowohl in den Lösungsansätzen wie im Rückgriff auf das Prinzip der Neutralität, von ihren Anfängen bis heute. Die Schweiz ist von einer aus der Not geborenen Neutralität, die auf ihrem Sicherheitsbedürfnis beruhte, zu einer aktiven Neutralität übergegangen, die sich auf das Völkerrecht stützt. Die schweizerische Neutralität hat sich entwickelt, um den globalisierten Herausforderungen zu begegnen. Sie ist in der Bundesverfassung verankert, ist zugleich dauerhaft und flexibel, gleichzeitig zeugen der UNO-Beitritt der Schweiz von 2002 und ihre Kandidatur für einen nicht ständigen Sitz im UNO-Sicherheitsrat von ihrer Weiterentwicklung. Das Prinzip selbst geht auf die Zeiten vor der Französischen Revolution und der Reformation zurück und steht dabei ausser Frage. In der Schweiz sind, wie in der EU, viele Sprachen und Kulturen zu Hause, und die Neutralität hat es ihr erlaubt, ihren inneren Zusammenhang zu festigen und von der übrigen Welt für eine verlässliche und nützliche Aussenpolitik geachtet zu werden. Könnten dieselben Ursachen nicht auch dieselben Wirkungen haben? Bedenkt man die Mechanismen, die die junge Eidgenossenschaft zu einer Politik der Neutralität bewogen, wäre dann letztlich nicht auch ein neutrales Europa vorstellbar? Tatsächlich entsprang die Neutralität in der Geschichte der Schweiz weniger politischem Kalkül als innerer Notwendigkeit.1 Die Eidgenossenschaft ertrug selbstständige Kantone mit eigener Aussenpolitik nur insofern, als diese sich im Konfliktfall in Zurückhaltung übten. Diese Notwendigkeit ist auch heute noch gegeben. Am 14. Dezember 1914 hält der Schweizer Dichter Carl Spitteler, der damals zu den angesehensten deutschsprachigen Schriftstellern zählte, eine Rede vor der Neuen Helvetischen Gesellschaft. Er wendet sich an seine Landsleute und ruft sie zur Einigkeit auf. Tatsächlich richteten sich damals die Blicke der Deutschschweizer auf Deutschland und die der Romands auf Frankreich, und die Zeitungen übernahmen diesseits und jenseits der Saane die Propaganda der Kriegsparteien. Doch gerade weil sie vom Krieg verschont geblieben seien, sagt Spitteler, dürfen die Schweizer nicht nach fremden Massstäben urteilen, sondern sollen ihren eigenen ethischen und moralischen Wertvorstellungen treu bleiben. Dazu gehören die Neutralität und der Widerstand gegen Kriegshetze.2 Ist es nicht eine solche Einigkeit, die der Europäischen Union in unserer gewalttätigen und vielschichtigen heutigen Welt abgeht? Neutral sein sei feige, sagen die einen, und man wolle nicht Partei ergreifen, um von einer nützlichen Gleichgültigkeit zu profitieren. «Wir müssen uns eben die Tatsache vor Augen halten, dass im Grunde kein Angehöriger einer kriegführenden Nation eine neutrale Gesinnung als berechtigt empfindet», stellte schon Carl Spitteler fest. «Wir wirken auf ihn wie der Gleichgültige in einem Trauerhause. Nun sind wir zwar nicht gleichgültig. Ich rufe Ihrer aller Gefühle zu Zeugen an, dass wir nicht gleichgültig sind. Allein da wir uns nicht rühren, scheinen wir gleichgültig.»3 Andere sehen in der Neutralität ein Zeichen von Schwäche, denn die Schweiz sei existenziell darauf angewiesen, dass die umliegenden Grossmächte ihren Neutralitätsstatus fördern und anerkennen. Wieder andere betrachten die Neutralität vor allem als Instrument der nationalen Sicherheit: Denn gäbe es unser...