E-Book, Deutsch, 548 Seiten
Calman Ein Nachbar mit gewissen Vorzügen
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-98952-151-3
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman | Eine humorvolle Romanze für die Fans von Sophie Kinsella
E-Book, Deutsch, 548 Seiten
ISBN: 978-3-98952-151-3
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Claire Calman, 1969 geboren, hat mehrere Jahre für das Fernsehen, Frauenmagazine und als Verlagslektorin gearbeitet, ehe sie mit ihrem ersten Roman »Der Himmel über Kent« auf Anhieb einen Bestseller landete. Seitdem hat sie eine Reihe romantischer Romane geschrieben und wurde in Magazinen und Anthologien veröffentlicht. Sie hat einen Sohn und lebt in London. Die Website der Autorin: www.clairecalman.co.uk/ Bei dotbooks veröffentlichte die Autorin ihre romantischen Romane »Der Himmel über Kent«, »Ein Cottage in Devon« und »Ein Nachbar mit gewissen Vorzügen«.
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Kapitel 1
Eine nette, normale Familie
Ich stehe also im Waisenhaus in einer Reihe, weil dieses potenzielle Elternpaar aufgetaucht ist, um sich ein Kind auszusuchen. Wir strecken uns alle in die Höhe und vergessen auch nicht, die Schultern nach hinten zu nehmen, wie man es uns gesagt hat, wir haben unsere Socken hochgezogen und uns die Nase putzen lassen, damit wir wie nette, saubere Kinder wirken, die überhaupt keinen Ärger machen. Innerlich denken wir alle das Gleiche, und die Luft ist so voll mit unseren Gedanken, dass man die Worte beinahe hören kann, die wie der Wind aus uns herausrauschen: »Nehmt mich! Mich! Mich! Nehmt mich!«
Dann bleiben der Mann und die Frau genau am anderen Ende stehen – sie haben sich noch nicht einmal alle richtig angesehen, und ich lasse die Schultern nach vorne sacken: Sie werden sich für ein anderes Kind entscheiden. Ein kleineres, jüngeres, süßeres, blonderes, niedlicheres. Ein liebenswerteres, normaleres Kind, eines, das nicht ich bin. Doch dann machen sie kehrt und kommen wieder ein wenig in meine Richtung, bleiben vor jedem Einzelnen stehen, unterhalten sich freundlich mit ihm, lächeln und schenken ihm ihre ganze Aufmerksamkeit, was alles nur noch schlimmer macht – denn jetzt wollen wir alle unbedingt ausgewählt werden, auch wenn wir wissen, dass sie nur ein Kind wollen.
Als Nächstes bin ich an der Reihe. Ich sollte irgendetwas Hinreißendes tun, denke ich, irgendetwas, das mich unwiderstehlich macht – eine Pirouette oder eine spontane Stepptanznummer? Andererseits sollte ich ihnen vielleicht einfach nur mein grübchenreiches und pausbäckiges Lächeln schenken, anstatt sie mit der für mich typischen ernsten Miene zu begrüßen, derentwegen mich der Mann vom Tante-Emma-Laden »Fräulein Leichenbestatterin« nennt. Jetzt stehen sie genau vor mir, und ich bekomme offenbar nicht einmal ein angedeutetes Lächeln hin, geschweige denn eine Pirouette. Daher strecke ich nur die Hand aus, um die ihre zu schütteln, und sage: »Hallo, ich bin Georgia, wie geht es Ihnen?« Dann folgt der beste Teil, weil sich die Frau, die ein bisschen pummelig ist und nett wirkt, aber auf jeden Fall etwas richtig Mamahaftes hat – wenn man sie ansieht, weiß man einfach, dass sie Apfelkuchen backt und einen den Teig ausrollen und Herzen und Sterne ausstechen lässt, um den Kuchen zu dekorieren –, in diesem Augenblick an ihren Mann wendet und ihm etwas ins Ohr flüstert, woraufhin er lächelt und nickt und mich beide an der Hand nehmen und aus der langen Reihe herausholen, und das war’s dann, sie haben sich für mich entschieden. Für mich.
Nachdem sie ein Papier unterschrieben haben, nimmt mein neuer Daddy meinen kleinen Koffer, in dem nicht mehr als vier Sachen verstaut sind, und wir steigen alle drei in ihren großen, glänzenden Wagen mit starker Federung und herrlich glatten Ledersitzen, auf denen man zur Seite rutscht, wenn es scharf um die Kurve geht. Auch wenn das Haus nicht sonderlich prächtig oder groß ist, könnte es nicht perfekter sein. Es hat eine grüne Gartenpforte und einen kleinen Futterplatz für Vögel mit einem winzigen reetgedeckten Dach. Ein schnurgerader Weg, der auf beiden Seiten von Blumenbeeten voller pinkfarbener Rosen und violetter Lavendelsträucher gesäumt ist, an deren Äste sich Marienkäfer wie leuchtend rote, auf einer Kette aufgereihte Perlen klammern, führt zur Haustür. Als wir hineingehen, trete ich mir, ohne dass mich jemand daran erinnern muss, die Füße auf der Matte ab, woraufhin sie sich über meinen Kopf hinweg anblicken und lächeln, weil sie erkennen, was für ein braves Mädchen ich bin, und wissen, dass sie mich gern haben werden. Dann sagt Mummy – sie fragt mich, ob ich sie so nennen möchte, und ich schlinge ihr die Arme um den Hals und drücke sie ganz fest, woraufhin sie sich eine Träne aus dem Auge wischt –, dass sie kurz in die Küche muss, um mir etwas zu naschen zu holen.
Sie haben auch ein echtes Kaminfeuer, in dem wir unsere Weißbrotscheiben mit einer richtigen langen Röstgabel toasten anstatt mit einer gewöhnlichen, blöden, am Ende eines aufgebogenen Drahtkleiderbügels befestigten Gabel, und wie einer Erwachsenen geben sie mir eine Tasse Tee und kein kindisches Glas Milch oder Limonade. Während es draußen allmählich dunkler wird, sitzen wir einfach nur da, und als es anfängt zu regnen, höre ich den Wind, der in den Bäumen rauscht, habe aber keine Angst, weil ich es kuschelig und warm habe, während ich mit Mummy und Daddy am Kamin döse – ich bin das glücklichste Mädchen auf der ganzen weiten Welt.
Doch dann verschwindet das Bild, und alles ist vorbei.
Das war s. Das war mein absoluter Lieblingstraum, als ich aufwuchs – dass ich ein Waisenkind sei. Früher habe ich ihn immer wieder wie eine Videokassette in meinem Kopf abgespielt, jedes Mal auf exakt dieselbe Weise, und wenn ich unterbrochen wurde, spulte ich ganz zurück und fing noch einmal von vorne an – es musste einfach genau dasselbe sein, da ich sonst das Gefühl hatte, der Zauber sei verflogen und der Spaß daran verdorben. Manchmal, wenn ich nicht einschlafen kann oder von dem Buch, das ich gerade lese, gelangweilt bin, schiebe ich alle Sorgen und Ärgernisse des Tages beiseite und beschwöre den Traum wieder herauf. Jetzt, da ich vierunddreißig bin, kann ich das mit dem Adoptiertwerden wohl knicken. Ich glaube nicht, dass sich viele potenzielle Elternpaare mit dringendem Kinderwunsch um mich schlagen würden, es sei denn, ich würde mich im Internet mit einem Foto von mir anbieten, als ich zweieinhalb war. Damals war ich noch ziemlich niedlich. Allerdings fällt es einem mit zweieinhalb recht schwer, nicht niedlich zu sein, weil man dann unglaublich zarte Haut und süße Grübchen hat und selbst dann bezaubernd aussieht, wenn man über die eigenen Beine fällt, während die Leute einen für betrunken halten, wenn einem dasselbe mit vierunddreißig passiert und man mit löchrigen Strumpfhosen, einem blutenden Knie und verdammt großen Schrammen an den teuren Wildlederstiefeln herumlaufen muss, bis man endlich zu Hause ist.
Außerdem bin ich weder engelsblond, noch habe ich sanfte blaue Augen oder ein kindlich-unschuldiges Lächeln. Mein Haar ist dunkelbraun, und was man lockig nennen könnte, sofern man einen großzügigen Tag hat, ähnelt jedoch nicht einmal annähernd Ellens prächtiger Filmstar-Lockenmähne – es sieht eher wie ein Haufen verbrannter Nudeln aus. Wenn ein Mann das Wagnis eingehen würde, mir mit den Fingern durchs Haar zu fahren, müsste man die Feuerwehr rufen, um ihn freizuschneiden. Damit es wenigstens halbwegs normal aussieht, habe ich ganze Heerscharen von Lakaien angestellt, deren einzige Aufgabe darin besteht, es Tag und Nacht zu glätten. Okay, das stimmt nicht, aber es wäre so, wenn ich es mir leisten könnte. Jeden Morgen wasche und bezwinge ich es mit einer großen Bürste und einem Fön, damit ich mich in der Öffentlichkeit zeigen kann, ohne eine Massenpanik auszulösen. Wenn man es sich selbst überlässt, fällt es sofort in seinen natürlichen Zustand zurück, und, glauben Sie mir, das ist kein Anblick, dem man sich morgens als Allererstes im Spiegel stellen möchte, noch bevor man eine Tasse Kaffee hatte. Meine Augen sind braun, nicht blau, und ich weiß nicht so recht, wie man mein Lächeln beschreiben könnte, weil ich meistens mürrisch schaue, wenn ich mein Spiegelbild betrachte, doch für gewöhnlich ist mein Gesichtsausdruck ernst. Auch wenn ich dem Mann aus dem Tante-Emma-Laden nicht mehr begegne, steht mir das »Fräulein Leichenbestatterin« immer noch auf der Stirn geschrieben – ja, der Teil hat wirklich gestimmt. Wenn ich die Straße entlanglaufe, rufen mir vollkommen Fremde »Lächele mal, Kleine!« zu oder schlimmer noch: »Kopf hoch, Schätzchen! Das wird schon wieder!« Ein paar Mal habe ich »Meine Mutter ist gerade gestorben ...« erwidert und eine supertraurige Miene aufgesetzt, woraufhin sie wirklich schuldig dreingeblickt und sich genötigt gesehen haben, sich zu entschuldigen.
Diese Waisenkindfantasie klingt ziemlich schrecklich, weil ich schon Halbwaise bin. Oder heißt es Semiwaise? Oder Teilwaise? Wie auch immer, meine Mutter ist tatsächlich tot, sie starb, als ich zehn war, und nein, ich heische nicht um Mitgefühl, sondern erzähle es Ihnen nur. Mein Vater lebt aber noch, weswegen mir die Waisengeschichte noch größere Gewissensbisse beschert, denn ich liebe meinen Dad wirklich über alles. Und Einzelkind bin ich ebenso wenig. Ich habe eine kleine Schwester, Ellen, die mit den richtigen Locken. Auch wenn sie mittlerweile schon siebenundzwanzig ist, wird sie immer meine kleine Schwester bleiben. Dann ist da noch Matt, Matthew, mein Bruder, der einunddreißig ist. Das ist meine Familie, Quinn nicht eingeschlossen, die lediglich meine Stiefmutter ist und daher nicht so richtig zur Familie gehört, und Unc, Dads Bruder, und eine ganze Meute Cousins, von denen es zu viele gibt, als dass ich sie alle aufzählen könnte. Außerdem ist da noch Quinns Tochter aus ihrer ersten Ehe mit diesem dämlichen Künstler, aber wir rechnen sie nicht wirklich mit dazu. Es ist nicht so, als liebte ich meine Familie nicht – vielmehr habe ich noch nie einen Haufen Menschen getroffen, der einen so garantiert in den Wahnsinn treiben kann. Die Familien anderer Leute machen immer einen so netten und, na ja, normalen Eindruck. Manchmal wünschte ich mir einfach, ich könnte zu so einer ordentlichen Familie gehören, in der einen niemand andauernd unterbricht und sich einmischt und einen die ganze Zeit auf den Arm nimmt oder in der sie Sachen sagen wie »Könntest du mir bitte die Kartoffeln reichen?«, anstatt über den ganzen Tisch zu greifen oder eine Kartoffel vom Teller des Nebenmanns zu klauen. Ist das zu viel verlangt?
Die Vernünftige
Ich war nicht immer die...