E-Book, Deutsch, Band 1, 448 Seiten
Reihe: Kat und Lock ermitteln
Callaghan In the Blink of an Eye
23001. Auflage 2023
ISBN: 978-3-492-60457-4
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kriminalroman | »Bahnbrechend, tiefgründig und nervenaufreibend.« Chris Whitaker
E-Book, Deutsch, Band 1, 448 Seiten
Reihe: Kat und Lock ermitteln
ISBN: 978-3-492-60457-4
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jo Callaghan arbeitet hauptberuflich als leitende Unternehmensstrategin und hat die zukünftigen Auswirkungen von künstlicher Intelligenz und Genforschung auf die Arbeitswelt erforscht. Nachdem sie ihren Mann 2019 an Krebs verlor, begann sie an ihrem Kriminalroman-Debüt zu schreiben, das zu einem Sunday-Times-Bestseller wurde und mit dem NEW BLOOD DAGGER der Crime Writers' Association einen der renommiertesten britischen Krimipreise erhielt. Sie lebt mit ihren beiden Kindern in den Midlands. Folgen Sie Jo Callaghan auf Twitter unter @JoCallaghanKat.
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Kapitel eins
Polizeipräsidium Leek Wootton, Warwickshire, 10. Juni, 9:30?Uhr
DCS Kat Frank bohrte die Absätze ihrer neuen Schuhe in den alten Teppich, als sie zum Büro ihres Chefs eilte. Chief Constable McLeish war es egal, wer man war: ein hochrangiger Politiker, mit dem erst nach Monaten ein Termin gefunden werden konnte, oder ein Kollege, der den ganzen Tag im Zug verbracht hatte, nur um ihn zu sehen – wenn man auch nur fünf Minuten zu spät war, konnte man gleich wieder gehen. Und Kat war ganze sechsunddreißig Minuten zu spät. Hurra.
»Ich mache einen neuen Termin, okay?«, flüsterte seine Assistentin.
Kat warf einen Blick auf die geschlossene Bürotür. Vor zwei Jahren hätte sie noch zugestimmt und wäre rasch wieder geflüchtet, solange ihre Trommelfelle noch intakt waren. Doch nach allem, was sie durchgemacht hatte, war ein Anschiss ihre geringste Sorge. Sie ignorierte die Assistentin, die ungläubig nach Luft schnappte, klopfte einmal kurz an und betrat das Büro ihres Vorgesetzten.
Chief Constable McLeish saß hinter seinem Schreibtisch vor einem großen, hellen Fenster, sodass alle Besucherinnen und Besucher in die Sonne blinzeln mussten, während sie versuchten, seine Stimmung einzuschätzen. Er stand nicht auf und zeigte auch sonst keine Reaktion. Doch immerhin befahl er ihr nicht, gleich wieder zu verschwinden.
Kat ertrug sein Schweigen und den unerbittlichen Blick. Es hatte keinen Sinn, ihm von der blauhaarigen Anhalterin mit dem selbst geschriebenen Schild zu erzählen, auf dem genauso gut »Töte mich!« gestanden haben könnte. Trotz des Termins hatte Kat angehalten, bevor irgendwelche Möchtegernmörder der Aufforderung nachkamen, und sie gefragt, wer zur Hölle heutzutage noch per Anhalter unterwegs war. (Achtzehnjährige Mädchen aus Polen, auf dem Heimweg von einem Musikfestival, nachdem ein »echt cooler Typ« gesagt hatte, man würde »auf jeden Fall« einen Job als Pflückerin auf einer der Plantagen in Warwickshire bekommen.) Nachdem sie das Mädchen zu einer Erdbeerfarm mit mieser Bezahlung, aber netten Menschen gebracht hatte, war sie nun hier, eine halbe Stunde zu spät zu dem Termin, bei dem sie mindestens eine halbe Stunde früher hatte da sein wollen.
Doch McLeish interessierte sich nicht für Erklärungen. Sie wusste auch, dass er Schweigen als Waffe einsetzte – die wenigsten konnten dem Impuls widerstehen, draufloszuplappern und ihm damit einen Vorteil zu verschaffen, der sich kaum wieder ausgleichen ließ –, weshalb sie seinen Blick erwiderte und den Mann musterte, den sie seit über einem Jahr nicht gesehen hatte.
McLeish war ihr zweiter Chef, ihr erster Mentor und – wie sie sich gern einbildete – einer ihrer ältesten Freunde. Selbst wenn er ihr einen Einlauf verpasste, tat er das nur, weil er glaubte, sie könnte etwas daraus lernen – was auch zutraf. Am Anfang hatte Kat viele Fehler gemacht, doch keinen ein zweites Mal. Ihre Kolleginnen und Kollegen beneideten sie darum, wie sie ihn »lesen« konnte, als wäre er ein besonders schwieriges Kreuzworträtsel. Kat erschien es jedoch sehr einfach. Wenn er sich ärgerte, wurde sein Gesicht lila. Wenn er zufrieden war, brummte er ein paar schroffe Worte, die sie tagelang glücklich machten. Doch wenn er schwieg, konnte auch sie nur raten.
»Was machen die Kinder?«, tastete sie sich schließlich vor.
Sein Gesicht wurde weicher. »Eine Plage. Ernsthaft, vor dreißig Jahren hat man die Jungen einfach nach draußen geschickt, ihnen abends etwas zu essen gegeben und sie dann ins Bett manövriert. Heutzutage dürfen unsere kleinen Mädchen nicht hinaus, außer man hat ein neumodisches ›Playdate‹ vereinbart. Und ich soll ihnen jeden Abend zum Einschlafen eine Geschichte vorlesen. Ist das zu glauben?«
»Unverschämtheit«, antwortete Kat lächelnd. Kurz vor seinem sechzigsten Geburtstag hatte McLeish alle überrascht, als er noch einmal geheiratet und eine zweite Familie gegründet hatte. Und warum auch nicht? Er war glücklich, das sah man.
»Na, wenigstens weiß ich es besser und hoffe nicht darauf, dass es leichter wird, wenn sie älter werden.« Er hievte sich aus seinem Schreibtischstuhl und ging zu dem schwarzen Ledersofa in der Ecke des Büros, wobei er ihr bedeutete, ihm Gesellschaft zu leisten.
Kat setzte sich in einen der Sessel und unterdrückte die alberne Freude darüber, dass er ihr offenbar verziehen hatte. Himmel, sie war fünfundvierzig, kein kleines Schulmädchen mehr.
»Wie geht es Cam?«, fragte er. »Macht er dieses Jahr nicht Abitur?«
»Ja, wir warten gerade noch auf die Noten. Weshalb ich mit Ihnen reden wollte.«
»Sie langweilen sich und wollen zurückkommen.«
Das war keine Frage. Er kannte sie einfach zu gut. Sie nickte, doch bevor sie weitersprechen konnte, runzelte er die Stirn.
»Sind Sie sicher, dass Sie bereit dafür sind, Kat? Es ist gerade mal sechs Monate her, dass …«
»Ich bin mir sicher. Am Anfang hat Cam viel Unterstützung gebraucht, doch mittlerweile geht es ihm viel besser. Er hat die Medikamente abgesetzt, die Therapie ist beendet, und er will im September auf die Uni gehen, wenn alles klappt.«
»Ich habe nicht nach Cam gefragt, sondern nach Ihnen.«
»Mir geht es gut.« Kat errötete. »Oder das wird es zumindest, wenn ich wieder arbeite.«
»Ich verstehe.«
Natürlich tat er das. Das hatte er schon immer.
»Also, was schwebt Ihnen vor?« Das Ledersofa seufzte leise, als McLeish sich zurücklehnte.
»Bevor ich mir eine Auszeit genommen habe, sollte ich darüber nachdenken, ob ich mich auf Führungspositionen bewerben möchte – die Abteilungsleitung vielleicht oder sogar Assistant Chief Constable.«
»Und Sie haben gesagt, dass Sie sich lieber die eigenen Zehen abkauen würden, als einen Schreibtischjob anzunehmen.«
»Das war davor.« Kat dachte an die Frau von früher zurück, die nicht verstehen konnte, wie jemand lieber auf eine Tastatur einhämmerte, als die Straßen abzuklappern. »Ich habe Cam versprochen, dass ich mir eine sichere Stelle suche, wenn ich wieder zu arbeiten anfange. Er darf mich nicht auch noch verlieren.«
McLeish rieb mit der Hand über seine Glatze. »Ich weiß. Doch im Moment sind keine Führungspositionen frei, und selbst wenn … Sie sind jetzt seit zwei Jahren draußen. Es hat sich viel verändert.«
»Warum haben Sie dem Treffen dann zugestimmt?« Sie konnte den Ärger in ihrer Stimme nicht unterdrücken. Es war nicht seine Art, mit Menschen zu spielen.
McLeish beugte sich vor. »Weil ich den perfekten Job für Sie habe. Haben Sie die neue Innenministerin schon kennengelernt?« Er wartete nicht auf ihre Antwort, denn natürlich hatte sie die Frau noch nicht getroffen. »Sie ist nett, aber völlig verblendet. Glaubt, es gebe noch ›Effizienzmaßnahmen‹, die all ihren Vorgängern irgendwie entgangen sein müssten.«
Kat zuckte mit den Schultern. In der Politik machten alle große Versprechen, die Zahl der Polizeikräfte und »überflüssige Ausgaben« zu reduzieren, bevor ihre Füße unter dem Ministerschreibtisch standen. Doch sobald man sie ins Unterhaus gezerrt hatte, damit sie Rede und Antwort für eine schreckliche Vergewaltigung oder einen Mord standen, diskutierten sie mit dem Finanzministerium über mehr Polizeipräsenz auf den Straßen.
»Sie ist anders«, sagte McLeish, der ihre Miene richtig gedeutet hatte. »Sie kommt aus der IT und ist überzeugt, dass die Antwort auf mehr Kriminalität nicht mehr Polizei ist, sondern mehr AIDEs.«
»Was bitte?«
»AIDEs – Artificially Intelligent Detecting Entities. Auf künstlicher Intelligenz basierende Ermittlungseinheiten.« Er machte eine wegwerfende Geste. »Im Grunde eine Art glorifizierte Alexa, die blitzschnell Daten verarbeiten und angeblich mehr Verbrechen aufklären kann, bei einem Bruchteil der Kosten eines echten Polizisten.«
»Ist das Ihr Ernst?«
»Ich...