E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Reihe: marixklassiker
Burnett Der kleine Lord
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-8438-0616-9
Verlag: marix Verlag ein Imprint von Verlagshaus Römerweg
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Neu übersetzt von Marion Balkenhol
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Reihe: marixklassiker
ISBN: 978-3-8438-0616-9
Verlag: marix Verlag ein Imprint von Verlagshaus Römerweg
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Über Nacht zum Lord – das gibt es eigentlich nur im Märchen! Den siebenjährigen Cedric verschlägt es von New York nach England, wo ihn sein adliger Großvater zu seinem würdigen Nachfolger erziehen will – mit allen Konsequenzen. Nach dem Tod seines Vaters wächst Cedric mit seiner Mutter in ärmlichen Verhältnissen, aber in einem behüteten Umfeld und reich an Freunden auf. Die Atmosphäre auf dem Anwesen des Earls of Dorincourt im verregnet- kalten England ist jedoch eine ganz andere: Die strikte Erziehung zu Sitte und Ordnung steht an erster Stelle. Sein ihm fremder Großvater entpuppt sich als ein veritabler Ebenezer Scrooge, dem Geld über das Menschliche geht. Es braucht jedoch keine drei Geister, um bei dem alten Earl eine Verwandlung zu mehr Nächstenliebe zu bewirken: Dies schafft ganz allein Ceddie, der kleine Lord mit dem großen Herzen.
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1
EINE GROSSE ÜBERRASCHUNG
Cedric selbst wusste überhaupt nichts davon. Ihm gegenüber war es nie erwähnt worden. Er wusste, dass sein Papa Engländer gewesen war, weil seine Mama es ihm gesagt hatte. Aber sein Papa war gestorben, als Cedric noch ein kleiner Junge war. Daher wusste er nicht mehr viel von ihm, nur dass er groß war, blaue Augen und einen langen Schnurrbart hatte, und dass es wunderbar war, auf seinen Schultern durch das Zimmer getragen zu werden. Nach dem Tod seines Vaters hatte Cedric festgestellt, dass es besser war, mit seiner Mama nicht über ihn zu sprechen. Als sein Vater krank war, hatte man Cedric fortgebracht, und als er zurückkam, war alles vorbei. Seine Mutter, die auch sehr krank gewesen war, konnte gerade eben wieder auf ihrem Stuhl am Fenster sitzen. Sie war blass und dünn, und alle Grübchen waren aus ihrem hübschen Gesicht verschwunden, ihre Augen sahen groß und traurig aus, und sie war in Schwarz gekleidet. »Liebste«, sagte Cedric (sein Papa hatte sie immer so genannt, also hatte der Kleine es übernommen), »Liebste, geht es meinem Papa besser?« Er spürte, wie ihre Arme zitterten, wandte seinen Lockenkopf zu ihr um und schaute ihr ins Gesicht. Was er dort erblickte, brachte ihn fast zum Weinen. »Liebste«, fragte er, »geht es ihm gut?« Dann gab ihm sein liebendes kleines Herz plötzlich ein, er solle doch beide Arme um ihren Hals schlingen und sie immer und immer wieder küssen, und seine Wange an ihre drücken. Daraufhin legte sie ihr Gesicht an seine Schulter, weinte bitterlich und hielt ihn so fest, als könnte sie ihn nie wieder loslassen. »Ja, es geht ihm gut«, schluchzte sie. »Es geht ihm recht gut, aber wir – wir haben jetzt nur noch uns beide. Niemanden sonst.« So klein er auch war, begriff er doch, dass sein großer, stattlicher junger Papa nie wiederkommen würde, dass er tot war, wie er es auch von anderen Menschen schon gehört hatte, wenngleich er nicht genau begriff, was das für ein seltsames Ding war, das so viel Traurigkeit mit sich brachte. Weil seine Mama immer weinte, wenn er von seinem Papa sprach, beschloss er bei sich, es sei besser, nicht so oft mit ihr über ihn zu reden, und er merkte auch, dass es besser war, sie nicht still dasitzen und reglos und stumm ins Feuer oder aus dem Fenster starren zu lassen. Er und seine Mama kannten nicht viele Leute, und man hätte ihr Leben für einsam halten können, obwohl Cedric erst erfuhr, dass es einsam war, als er älter wurde und man ihm sagte, warum niemand sie besuchen kam. Seine Mama war eine Waise und ganz allein auf der Welt, als sein Papa sie heiratete. Sie war sehr hübsch und hatte als Gesellschafterin bei einer reichen alten Dame gelebt, die nicht nett zu ihr war, und eines Tages sah Captain Cedric Errol, als er zu Besuch war, sie mit Tränen an ihren Wimpern die Treppe hinauf laufen, und sie erschien ihm so lieblich, unschuldig und bekümmert, dass er sie nicht mehr aus dem Sinn bekam. Nachdem viele eigenartige Dinge geschehen waren, hatten sie sich kennengelernt und waren einander von Herzen zugetan. Sie wurden Mann und Frau, obwohl ihre Heirat von manchen missbilligt wurde. Am zornigsten jedoch war der Vater des Captains, der in England lebte und ein sehr reicher und bedeutender alter Adliger war, ein böses Gemüt hatte und Amerika und die Amerikaner zutiefst verabscheute. Er hatte zwei Söhne, die älter waren als Captain Cedric, und von Gesetzes wegen erbte der Älteste dieser Söhne den Titel und den Grundbesitz der Familie, der sehr groß und prächtig war, und wenn der älteste Sohn starb, würde der nächste erben. Obgleich er also einer so feinen Familie angehörte, bestand nur eine geringe Chance, dass Captain Cedric selbst zu Reichtum kommen würde. Aber es begab sich, dass Mutter Natur den jüngsten Sohn mit Gaben beschenkt hatte, die sie seinen älteren Brüdern versagt hatte. Er hatte ebenmäßige Gesichtszüge, eine schöne, kräftige, anmutige Gestalt, ein strahlendes Lächeln und eine weiche, fröhliche Stimme. Er war tapfer und großzügig, hatte das gütigste Herz auf der ganzen Welt und besaß, wie es schien, eine Anziehungskraft, der alle Menschen erlagen. Bei seinen älteren Brüdern war das nicht der Fall, keiner von beiden war ansehnlich, noch waren sie sehr freundlich oder klug. Als sie in Eton zur Schule gingen, waren sie nicht beliebt, im College machten sie sich nichts aus dem Studium, verschwendeten Zeit und Geld gleichermaßen und hatten nur wenige echte Freunde. Der alte Earl, ihr Vater, erfuhr beständig Enttäuschungen und Demütigungen durch sie, sein Erbe machte dem edlen Namen der Familie keine Ehre, und aus ihm würde nichts als ein selbstsüchtiger, verschwenderischer, unbedeutender Mann werden, der keine mannhaften oder noblen Eigenschaften besaß. Wie bitter, dachte der alte Earl, dass ausgerechnet der Drittgeborene, der nur über ein sehr geringes Vermögen verfügen würde, alle Tugenden besitzen sollte, Ausstrahlung, Kraft und Schönheit. Zuweilen hasste er den stattlichen jungen Mann fast, weil er all das Gute hatte, das mit dem Adelstitel und dem prächtigen Grundbesitz einherging, doch in den Tiefen seines stolzen, sturen alten Herzens kam er nicht umhin, sehr viel für seinen Jüngsten übrig zu haben. In einem Anfall von schlechter Laune schickte er ihn auf Reisen nach Amerika, denn er wollte ihn eine Weile aus den Augen haben, um nicht zornig zu werden, wenn er ihn stets mit seinen Brüdern verglich, die zu der Zeit über alle Stränge schlugen und ihm große Sorge bereiteten. Doch nach ungefähr sechs Monaten fühlte er sich einsam und sehnte sich insgeheim nach seinem Sohn. Also forderte er ihn schließlich auf, heimzukehren. Der Brief kreuzte sich mit einem, den Captain Cedric gerade seinem Vater geschrieben hatte, um ihm seine Liebe zu einer hübschen jungen Amerikanerin mitzuteilen, die zu heiraten er beabsichtige. Als der Earl diesen Brief erhielt, packte ihn blanke Wut. So sehr er auch zu Wutausbrüchen neigte, noch nie im Leben hatte er seinem Zorn derart Ausdruck verliehen wie nach dem Brief seines Jüngsten. Sein Kammerdiener, der sich gerade im Zimmer aufhielt, glaubte schon, seine Lordschaft würde einen Schlaganfall erleiden, so sehr wütete er. Eine Stunde lang tobte er wie ein Tiger, dann setzte er sich hin und schrieb seinem Sohn. Er untersagte ihm, jemals wieder in die Nähe seiner Heimat zu kommen, oder auch nur seinem Vater oder seinen Brüdern zu schreiben. Er solle leben, wie es ihm gefalle, und sterben, wo er wolle, er sei für immer aus seiner Familie verbannt und brauche nie wieder Hilfe von seinem Vater erwarten, so lange er lebe. Der Captain war sehr traurig, als er den Brief las, denn er mochte England sehr, besonders die schöne Gegend, in der er zur Welt gekommen war. Sogar seinen übellaunigen Vater hatte er gemocht und dessen Enttäuschungen nachempfinden können, aber er wusste, dass er in Zukunft kein Entgegenkommen von ihm erwarten konnte. Zuerst war er unsicher, was er machen sollte, da er nicht zur Arbeit erzogen worden war und keinerlei Erfahrung in geschäftlichen Dingen hatte, aber er war mutig und wild entschlossen. Also quittierte er seinen Dienst in der englischen Armee, fand nach anfänglichen Schwierigkeiten eine Arbeitsstelle in New York und heiratete. Der Unterschied zu seinem früheren Leben in England war sehr groß, aber er war jung und glücklich und hoffte, in Zukunft mit harter Arbeit Großes zu erreichen. Er hatte ein kleines Haus in einer ruhigen Straße, und sein kleiner Sohn wurde dort geboren. Alles war auf schlichte Weise so fröhlich und heiter, dass es ihm niemals leid tat, die hübsche Gesellschafterin der reichen alten Dame geheiratet zu haben, einfach weil sie so liebreizend war, weil er sie liebte und sie seine Liebe erwiderte. Sie war in der Tat sehr reizvoll, und der kleine Junge glich seiner Mutter und seinem Vater. Obwohl er in einem so ruhigen und bescheidenen kleinen Haus zur Welt gekommen war, hatte es wohl nie ein glücklicheres Kind gegeben. Zum einen war er stets gesund und bereitete daher niemandem Sorge, dann hatte er ein ruhiges Gemüt und war so bezaubernd, dass er allen eine Freude war, und drittens war er bildhübsch anzusehen. Er war kein kahlköpfiges Baby, sondern trat mit einem Schopf aus weichem, feinem, goldblonden Haar ins Leben, das sich an den Enden kräuselte und zu Locken wurde, als er sechs Monate alt war. Er hatte große braune Augen, lange Wimpern und ein süßes kleines Gesicht, einen starken Rücken und stämmige Beinchen, auf denen er mit neun Monaten bereits laufen konnte. Für ein kleines Kind benahm er sich so gut, dass es eine Freude war, ihn kennenzulernen. Er betrachtete offenbar jeden als seinen Freund, und wenn ihn jemand auf der Straße in seinem Kinderwagen ansprach, schenkte er dem Fremden einen goldigen, ernsten Blick aus seinen braunen Augen, lächelte ihn dann offen und freundlich an, was zur Folge hatte, dass es niemanden in der Nachbarschaft gab – auch der Gemischtwarenhändler an der Ecke nicht, der als missmutigster Mensch unter den Lebenden galt –, der sich nicht freute, ihn zu sehen und mit ihm zu sprechen. Von Monat zu Monat wurde er hübscher und...