Burkhardt | Gebhardt: Handbuch der deutschen Geschichte. Band 11 (Gebhardt Handbuch der Deutschen Geschichte, Bd. 11) | Buch | 978-3-608-60011-7 | sack.de

Buch, Deutsch, Band 11, 460 Seiten, geprägter Leinenband, Format (B × H): 145 mm x 220 mm, Gewicht: 796 g

Reihe: Gebhardt Handbuch der Deutschen Geschichte

Burkhardt

Gebhardt: Handbuch der deutschen Geschichte. Band 11 (Gebhardt Handbuch der Deutschen Geschichte, Bd. 11)

Vollendung und Neuorientierung des frühmodernen Reiches 1648-1763
10., völlig neu bearbeitete Auflage 2006
ISBN: 978-3-608-60011-7
Verlag: Klett-Cotta

Vollendung und Neuorientierung des frühmodernen Reiches 1648-1763

Buch, Deutsch, Band 11, 460 Seiten, geprägter Leinenband, Format (B × H): 145 mm x 220 mm, Gewicht: 796 g

Reihe: Gebhardt Handbuch der Deutschen Geschichte

ISBN: 978-3-608-60011-7
Verlag: Klett-Cotta


Die »Große Politik« steht im Vordergrund, findet aber nun als Reichspolitik - namentlich auf der gesamtstaatlichen Steuerungsebene des aufsteigenden Amtskaisertums, der Reichsinstitutionen und vor allem des sich verstetigenden Reichstags - einen Neuzugriff und eine ganz andere Bewertung.

Von besonderem Interesse ist die Friedenswahrung nach innen, eine defensive Sicherheitspolitik in den Gefährdungen der europäischen Kriege und der Ausbau der Verfassungs- und Rechtskultur in dieser Epoche wie der Kultur überhaupt. Ausgehend vom Westfälischen Frieden bietet der Band eine analytische Erzählung von der institutionellen Vollendung des Reiches bis zu seiner notwendigen Neuorientierung im 18. Jahrhundert und bilanziert Leistungen dieses politischen Systems für die deutsche Geschichte.

Mit Erscheinen von Band 11 ist die Epoche der Frühen Neuzeit (Bände 9 bis 12) abgeschlossen.

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Weitere Infos & Material



Zur 10. Auflage
Vorwort zu diesem Band
Verzeichnis der Abkürzungen
Allgemeine Quellen und Literatur (1495-1806)
Abschnitt V
Vollendung und Neuorientierung des frühmodernen Reiches 1648-1763
Johannes Burkhardt
Quellen und Literatur
A. Reichsgeschichte 1648-1700: Verfassungsausbau und Sicherheitspolitik

§ 1: Die Bedeutung des Westfälischen Friedens für die deutsche Geschichte
a) Europäische Staatsbildung und deutsche Doppelstaatlichkeit - die konstruktive Grundentscheidung
b) Die Verkennung der westfälischen Reichsverfassung und ihre Neubestimmung
c) Der Verfassungsauftrag: Reichsgewalt und Religionsfrieden

§ 2: Die Nachkriegszeit 1648-1658
a) Vom Nürnberger Exekutionstag zum Jüngsten Reichsabschied
b) Die Reform der Reichsgerichtsbarkeit
c) Leopolds Kaisertum und Schönborns Rheinbund
§ 3: Entstehung und Leistung des Immerwährenden Reichstags
a) Der Regensburger Reichstag von 1663 und seine Verstetigung
b) Organisationsausbau und Arbeitsfelder
c) Reichstagsprofile: Stehendes Parlament, Forum des Zeremoniells oder Nachrichtenagentur?
§ 4: Der zweite dreißigjährige Krieg 1667-1697
a) Die neo-universalistische Herausforderung und die Kriege Ludwigs XIV. im Überblick
b) Die publizistische Reaktion des Reiches
c) Die politische Reaktion: Von der »dritten Partei« zu den Reichskriegserklärungen
§ 5: Die Neuorganisation der Sicherheitspolitik
a) Das Reichsdefensionswerk von 1681
b) Die Kreisassoziationen
§ 6: Krieg an vielen Fronten
a) Vom »stehengebliebenen Heer« zum brandenburgischen Modell: Die armierten Reichsstände
b) Die Türken vor Wien - von der belagerten Kaiserstadt zur Gegenoffensive
c) In »Ost und Westen Frieden«. Karlowitz (1699) und Ryswik (1697)
B. Deutschland auf der Länderebene: Politik, Ökonomie, Kultur um 1700
§ 7: Politik auf der Landesebene und der Weg in die Wirtschaft
a) Landesstaatlicher Ausbau zwischen Verwaltung, Militär und Wirtschaft. Preußen, Österreich und die anderen
b) Mitorganisierende Zwischenebenen: Landstände und Reichskreise
c) Die Landesherrschaft vor Ort und die aushandelnden Untertanen
§ 8: Die höfische Gesellschaft und ihre Lebensformen
a) Höfische Lebensformen und Zeremoniell
b) Politisch-soziale Funktionen und Typen - die höfische Gesellschaft
§ 9: Barocke Leitkultur und Frühaufklärung
a) Leistungen des höfischen Barock für die deutsche Kulturlandschaft
b) Wissenskultur: Pietismus und Frühaufklärung
C. Reichsgeschichte 1700-1763: Vollendung und Neuorientierung
§ 10: Die deutsche Politik in der Zeit des Spanischen Erbfolgekrieges (1701-1714)
a) Europäische Konfliktlage und Kaiserpolitik - die Herausforderung
b) Deutsche Sicherheitspolitik zwischen Neutralität und Reichskrieg
c) Die bayerische Sezession und die Schlacht von Höchstädt
d) Josephs I. Reichspolitik - aber für welches Reich?
§ 11: Karl VI. - Niedergang oder Friedenszeit des Reiches?
a) Europäische Balance und deutsche Bilanz: Die Friedensschlüsse von Utrecht, Rastatt, Baden
b) Norddeutsche Kronen und Nordischer Krieg
c) Der gerettete Religionsfrieden und die Salzburger Emigration
d) Das pragmatische Friedenskaisertum
§ 12: Wahlkaiserzeit und Österreichische Erbfolgekriege 1740-1748
a) Das Frankfurter Reichsexperiment: Karl VII.
b) Erbansprüche und Kriegsursachen
c) Friderizianische Schlesienkriege und Folgekriege
d) Erneuerung des Wiener Kaisertums und Kriegsausgang
§ 13: Die Zeit des Siebenjährigen Krieges und die Neuorientierung des Reiches
a) Diplomatische Revolution und Kriegsausbruch
b) Die Reichsexekution gegen Brandenburg-Preußen und der Abschied vom Religionskrieg
c) Der Krieg der Schlachten
d) Hubertusburg - das Friedensmirakel und der Preis der preußischen Staatsbildung
e) Friedenstriumph und Umorientierung des Reiches unter dem Vorzeichen des deutschen Dualismus
§ 14: Das Reich der Schriftlichkeit - das politische Deutschland als Gedächtnis- und Kommunikationsraum
Anhang
Wichtige Münzen, Maße und Gewichte
Die Reichskirche und die deutschen Bistümer
Regenten des Reiches und größerer Territorien
Orts- und Sachregister
Personenregister



A. Reichsgeschichte 1648-1700:
Verfassungsausbau und Sicherheitspolitik
§ 1 Die Bedeutung des Westfälischen Friedens für die deutsche Geschichte (1)
Der Westfälische Friede ist das größte Friedenswerk der Frühen Neuzeit und einer der bedeutendsten Friedensschlüsse überhaupt.2 Dies nicht allein, weil es gelang, eine dreißigjährige Kriegskatastrophe zu beenden,3 und nicht nur wegen des dazu nötigen Verhandlungsaufwandes und immensen Regelungsbedarfs. Entscheidend ist auch nicht die Frage der Epochenzäsur, die nicht zu bestreiten, aber gerade im Blick auf Kontinuitäten der deutschen Geschichte doch zu relativieren ist.4 Vielmehr bündelt der Friede in einzigartiger Weise die staatsund religionspolitischen Probleme der Frühen Neuzeit, in deren Mitte er steht - zugleich eineinhalb Jahrhunderte zurück und nach vorn weisend. Denn um diesen »Krieg der Kriege« zu überwinden,5 waren Probleme zu lösen, die seit Beginn der Neuzeit angefallen waren, und Lösungen dafür festzuschreiben. Aber der Friede gab auch das Programm vor, das die weitere Geschichte Europas wie die deutsche Geschichte bestimmte. Auszugehen ist bei seiner Betrachtung vom reichen wissenschaftlichen Ertrag des Jubiläums von 1998, das über die Verhandlungsergebnisse im einzelnen hinaus 6 gerade die vorwärtsweisende ordnungspolitische Bedeutung dieses Friedens für Europa und das Reich erschlossen hat, durch die er zur Grundlage der nachwestfälischen Geschichte wurde.
a) Europäische Staatsbildung und deutsche Doppelstaatlichkeit - die konstruktive Grundentscheidung
Der Westfälische Friede hat für die europäische Staatsbildung Weichen gestellt.7 Von diesem europäischen Hauptresultat her gesehen erscheint der Dreißigjährige Krieg geradezu als »Staatsbildungskrieg«.8 Der ganze frühneuzeitliche Staatsbildungsprozeß hatte sich bisher zwischen zwei konstruktiven Grundmöglichkeiten abgespielt: einer einstaatlichen oder einer mehrstaatlichen Organisation Europas. Einstaatlichkeit, also ein Staat für ganz Europa, konnte an das überkommene Ideal einer politischen Einheit der Christenheit, die Tradition universaler Gewalten wie Papst und Kaiser und an hierarchischgradualistische Ordnungsideale anknüpfen, nach denen ein Herrscher die europäische Spitzenposition einnehmen müsse. Gestützt auf den noch lange weiterwirkenden Programmbegriff »Monarchia universalis « haben vor allem die Habsburger länderübergreifend Staat zu organisieren versucht, vorwärtsweisend nach neuer Einsicht vor allem Karl V. und dynastisch modifiziert in kooperativer Arbeitsteilung die spanische und deutsche Linie noch einmal gemeinsam im Dreißigjährigen Krieg. Aber ein solches europäisches Organisationskonzept erwies sich für die Herstellung eines staatlichen Gewaltmonopols und die wachsenden frühneuzeitlichen Staatsanforderungen als zu groß dimensioniert, wurde von anders staatsbildenden Sezessionen bedroht (böhmische Erhebung, niederländischer Unabhängigkeitskrieg) und ließ sich vor allem gegen universalistische Konkurrenten (so nach neuerer Einsicht das französische Hegemoniestreben und nach der weitestgehenden Ansicht zeitweise der schwedische Großgotizismus) nicht durchsetzen. Als der Kaiser 1648 Frieden schloß, Spanien aber allein weiterkämpfte, war der habsburgische Universalismus am Ende. Aber auch Frankreich und Schweden mußten für einen Friedenskompromiß von ihren Maximalzielen abrücken; sie gewannen Gebiete, aber nicht die Herrschaft über Europa. Die Idee einer Staatsbildung aus dem universalen Erbe Europas war diskreditiert, Universalmonarchie wandelte sich zum Scheltwort.9
Ein anderes Modell war angesagt. Europa verzichtete auf eine politische Gesamtorganisation und setzte von da an auf die Mehrstaatlichkeit. Auch diese alternative Staatsbildung im Plural hatte einen Vorlauf und wurde von Staats- und Völkerrechtlern wie Bodin und Grotius theoretisch vorbereitet und begleitet. Aber erst mit dem Westfälischen Frieden verlagerte sich das Schwergewicht auf diese Seite und wurde das Nebeneinander souveräner Staaten zur Norm.10 Die potentiellen Herrscher über Europa selbst - Kaisertum, französische und schwedische Krone - waren die vertragschließenden Parteien der Friedensschlüsse und erkannten sich damit in reduzierter Form als gleichberechtigte Partner an. Die erfolgreichen Sezessionisten aber wurden 1648 unabhängig - die Generalstaaten in aller Form mit einem eigenen Vertrag, die Schweiz eher unauffällig mit einem interpretationsbedürftigen Vertragsartikel11 - und rückten in den Kreis souveräner Staaten ein. Die europäische Staatsbildung war damit nicht abgeschlossen - reduzierte Universalmächte wie Frankreich wurden rückfällig, neue Staaten wie Preußen stiegen auf -, aber die Grundentscheidung für die Mehrstaatlichkeit Europas war gefallen und erwies sich als irreversibel. Zwar hielt der Friede alles andere als »ewig«, wie das Vertragsformular erhoffte, aber die weiter notwendig werdenden Friedensschlüsse der hier zu behandelnden Epoche setzten in der Tat ausdrücklich den Westfälischen Frieden und damit die 1648 ausgehandelte politische Ordnung der Mehrstaatlichkeit immer wieder in Kraft und bauten sie weiter zu einem System gleichrangiger souveräner Staaten aus. Dieses Staatensystem, international als »Westphalian System« bezeichnet,12 bestimmte die Geschichte Europas und die internationalen Beziehungen bis an die Schwelle der Gegenwart mit.
Es gab aber auch noch einen dritten Weg staatlicher Organisation: neben Einstaatlichkeit und Mehrstaatlichkeit die beides vereinende Doppelstaatlichkeit.13 Diesen dritten Weg hat die hier darzustellende deutsche Geschichte entdeckt und damit eine prinzipiell andere Lösung für dasselbe konstruktive Problem gefunden. Denn einerseits hatten die Deutschen mit Kaiser und Reich selbst Anteil gehabt an den universalistischen Traditionen und dem großhabsburgischen Staatsbildungsexperiment. Noch im Dreißigjährigen Krieg hat das mit Spanien und katholischen Konfessionalisierungskräften vereinte Kaisertum zeitweise ein monarchisches Übergewicht erlangt, das den einstaatlichen Weg für die deutsche Geschichte zu ermöglichen schien. Auf der anderen Seite aber hat auch im Reich auf der territorialen Ebene eine Staatsbildung im Plural stattgefunden. Große Fürstenstaaten wie Sachsen und Bayern, die antagonistischen Sonderbünde einzelner Reichsglieder und die den Reichsnexus schon lockernden Schwedenbündnisse hätten noch im Dreißigjährigen Krieg andere Optionen gehabt und wie die am Rande des Reiches abspringenden nieder- und alpenländischen Bundesstaaten in das europäische System der Mehrstaatlichkeit einrücken können. Die deutsche Geschichte folgte aber weder dem einen noch dem anderen Modell, sondern hat mit Hilfe einer anderen konstruktiven Grundidee die vermeintlich ausschließliche Staatsbildungsalternative überwunden.
Dem Reich nämlich gelang es, das einstaatliche und das mehrstaatliche Ordnungsprinzip in ein einziges politisches System zu integrieren und universale wie partikulare Elemente einzubinden. Auf der oberen Ebene war der europäische Universalismus auf ein verträgliches Maß zu reduzieren, dabei war aber seine integrative Kraft für die Errichtung einer deutschen Gesamtstaatlichkeit zu nutzen. Das gewählte Reichsoberhaupt wurde zu einem deutschen Amtskaisertum verstaatlicht, dessen Kompetenzen durch Wahlkapitulationen geregelt waren, und dem gesamtreichische Institutionen wie Reichstag und Reichskammergericht zur Seite standen. Auf der unteren partikularen Ebene haben die deutschen Landesstaaten wichtige administrative Aufgaben übernommen, blieben aber durch das Lehensrecht und den parallelen Aufbau der Reichsinstitutionen, in denen sie als Reichsstände selbst vertreten waren und das Reich mitsteuerten, dem Gesamtsystem eng verbunden.
Staatsleistungen und Staatsausbau wurden also in Deutschland auf zwei Ebenen erbracht, die manchmal miteinander konkurrierten, aber einander auch ergänzten und organisatorisch miteinander vernetzt waren. Während für das mehrstaatliche Europa damals trotz einiger Bemühungen um die kollektive Sicherheit auch weiterhin eine übergreifende Organisation nicht entwickelt werden konnte, war hier das Reich im kleineren Maßstab erfolgreich. Wenn einigen europäischen Einzelstaaten dafür ein administrativer und außenpolitischer Effizienzvorsprung nachgesagt wird, so bot die komplexere Organisation der deutschen Doppelstaatlichkeit eine besondere Chance für regionale Partizipation, Rechtsstaatlichkeit und Friedensfähigkeit. Diese deutsche Doppelstaatlichkeit gründete auf älteren Traditionen und war schon in den Reichsreformen des 16. Jhs. ausgebaut und institutionalisiert worden. In der religionspolitischen Verfassungskrise des Reiches und unter dem exogenen politischen und konfessionellen Druck des Dreißigjährigen Krieges aber hat sie noch einmal zur Disposition gestanden. Doch das zeitweise systemwidrig agierende Kaisertum kehrte unter Ferdinand III. zu seinen Amtspflichten zurück, und die im Krieg auseinanderdriftenden Reichsstände erweiterten die Friedensverhandlungen zur Reichsversammlung und stellten die Geschlossenheit des Reiches wieder her. Um künftige Konflikte mit dem Kaiser zu vermeiden, justierte der Westfälische Friede ihre landesstaatlichen wie reichsständischen Rechte nach und schrieb die gemeinsam getragenen Institutionen fest. Mit dieser formellen Wiederherstellung der deutschen Doppelstaatlichkeit nebst wichtigen Nachbesserungen wurde der Friedensvertrag auch zur Reichsverfassung. Der Vertragstext erhob ihn zum »Grundgesetz«14 und hat ihn zusammen mit älteren Grundgesetzen als deutsche Verfassung bestätigt. Wenn ein an sich zwischenstaatliche Verhältnisse herstellender Friedensvertrag für einen der Kontrahenten Verfassungscharakter erhielt, dann erscheint das heute sonderbar, erklärt sich aber eben daraus, daß für ihn ein anderer Staatsbildungsweg zur Verfassungsgrundlage erhoben wurde.
Dieses duale System, das hier Verfassungsrang erhielt, entsprach dem Herkommen und verlieh der deutschen Geschichte Kontinuität, aber es blieb kein altertümliches Relikt, sondern entwickelte sich zum eigenständigen Konstruktionsprinzip von Staatlichkeit. Unter dem späteren Vorzeichen des Föderalismus bestimmt es - mit Höhen, Tiefen und Unterbrechungen - die deutsche Geschichte bis in die heutige Gliederung von Bund und Ländern.15 Um die frühmoderne Wirkungsweise der beiden Verfassungsebenen der nachwestfälischen Vollendung des Reiches recht zu verstehen, sind drei Punkte besonders zu beachten:
Erstens ist ein unverkürztes Verständnis der gesamtstaatlichen Reichsebene nötig. Es stehen nicht etwa einer allein beim Kaiser vermuteten Zentralgewalt vermeintlich partikularistische Sonderinteressen der Landesherren gegenüber, sondern zusammen mit dem Reichsoberhaupt bilden die korporativ von den Landesherren als Reichsstände mitgetragenen Reichsinstitutionen die Reichsgewalt. Das oberste Reichsgremium, der Kaiser und Reichsstände vereinende Reichstag, erhielt 1648 erweiterte Kompetenzen und die höchste Staatsgewalt überhaupt.
Der zweite Punkt betrifft das Verhältnis von Reichs- und Landesgewalt beim Staatsausbau. Zwar wurden den deutschen Landesstaaten ihre Rechte bestätigt, und sie erlebten einen eindrucksvollen administrativen Staatsausbau, aber sie mußten dafür der Reichsgewalt nichts wegnehmen. Es ging nicht um eine nur kompensatorische Umverteilung vorhandener politischer Besitzstände und Kompetenzen,16 sondern um einen auf beiden Ebenen zu verfolgenden parallelen Staatsausbau, gerade auf der sich nach 1648 selbst noch einmal institutionell verstärkenden Reichsebene.
Drittens geht es um eine bessere Leistungszuschreibung. Denn dieser doppelte Staatsausbau ist nicht etwa eine konstruktiv mindere Lösung, der auch einige Vorzüge gegenüberstehen, sondern ihre Vorzüge rühren aus eben dieser konstruktiven Lösung. Einheit und Vielheit von Kultur und Kommunikation in Deutschland wie auch die Lösung des Konfessionskonfliktes sind anders kaum denkbar. Und das hohe Maß an Partizipation, Rechtsstaatlichkeit und Friedensfähigkeit im Innern gründet in der organisierten Teilung der Gewalten.17 Das war eine andere Gewaltenteilung als die später schulmäßig dogmatisierte, aber die Form dieser Gewaltenteilung zwischen teil- und gesamtstaatlichen Kompetenzen verweist auch auf die bundesstaatlichen Entwicklungspotentiale für das Reich, die deutsche Geschichte und Europa.

Anmerkungen
1 Für die hier nicht wiederholten Territorialbestimmungen und für außenpolitische Bezüge im einzelnen vgl. G. SCHORMANN, Der Dreißigjährige Krieg 1618-1648, 2001, 270-276 (GEBHARDT, Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 10). Vgl. zu dieser Arbeitsteilung Anm. 6. Zur deutschen Grenzproblematik s. im vorliegenden Band §§ 4-6.
2 Noch weitergehend BURKHARDT, Friedenswerk (wie V, 1); kritisch dazu s. dort TABACZEK u. MÜNCH. Ähnlich die Singularität betonend der Vermittler Contarini (ein noch nie dagewesenes »Weltwunder«) und der Akteneditor Meiern. Übereinstimmend damit, nur den Wiener Kongreß ausnehmend REPGEN, Westfälischer Friede. Ereignis (wie V, 1), 615.
3 Zu den demographischen Folgen und Kriegsauswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft vgl. SCHORMANN, Dreißigjähriger Krieg (wie Anm. 1), 261-271, u. ergänzend unten Tl. B.
4 So SCHMIDT, Geschichte des Alten Reiches, u. etwas überpointiert GOTTHARD, Altes Reich (beide wie V, C), 104ff.
5 Der Begriff ist von BURKHARDT, Dreißigjähriger Krieg (wie V, 1), eingeführt worden, um die akkumulative typologische und mythische Singularität zu pointieren. Vgl. dazu DERS., The Thirty Years War, in: A Companion to the Reformation World, Hg. R. P. HSIA, 2004, 272-290.
6 Die Vertragsbestimmungen sind vor ihrem Verhandlungshintergrund im Vorgängerband bei SCHORMANN, Dreißigjähriger Krieg (wie Anm. 1), § 10, dargestellt, während die angekündigten »eindrucksvollen Ergebnisse zum Jubiläumsjahr 1998« (ebd., 279) der folgenden Darstellung überlassen sind.
7 Zum europäischen Vorgang besonders in der Frühen Neuzeit grundlegend REINHARD, Geschichte der Staatsgewalt (wie I, 16d).
8 J. BURKHARDT, Der Dreißigjährige Krieg als frühmoderner Staatsbildungskrieg, in: GWU 45, 1994, 487-499.
9 BOSBACH, Monarchia universalis (wie I, 16i); BURKHARDT, Dreißigjähriger Krieg (wie V, 1), 30-35.
10 Dies kann bei allen Forschungsvarianten als der Jubiläumskonsens von 1998 gelten (vgl. alle Aufsätze von DUCHHARDT, H. SCHILLING u. H. STEIGER in den unter V, 1 aufgeführten Sammelbänden). Besonders klar ist das übergeordnete Ergebnis herausgestellt durch M. SCHRÖDER, Der Westfälische Frieden - Eine Epochengrenze in der Völkerrechtsentwicklung?, in: 350 Jahre, Hg. DERS. (wie V, 1), 130ff. Auch im Bildprogramm der Zeit (Kontrahentengleichordnung, Enthierarchisierung der europäischen Landkarte, Mächtegespann) nachgewiesen durch J. BURKHARDT, Auf dem Weg zu einer Bildkultur des Staatensystems. Der Westfälische Frieden und die Druckmedien, in: 350 Jahre, Hg. DUCHHARDT (wie V, 1), 81-114.
11 Art. VI IPO. Die staatliche Unabhängigkeit der Schweiz, die auch früher oder später datiert, aber meist dem Westfälischen Frieden zugeschrieben wird, ist aus der Befreiung (Exemtion) der Eidgenossenschaft von der Reichsgerichtsbarkeit auf Antrag Basels abgeleitet worden. Zur Diskussion die Literatur in der Textausgabe vgl. Instrumentum Pacis Westphalicae (wie V, 1), 167, sowie J. BURKHARDT, Die Schweizer Staatsbildung im europäischen Vergleich, in: Region, Nation, Europa, Hg. G. LOTTES, 1992, 271-293. Daß die Befreiung nach dem Wortlaut von Art. VI IPO nur »quasi« erfolgt, ist als rein sprachliche Eigenart des Latein ohne Rechtseinschränkung geklärt, aber die Herstellung voller Souveränität war anscheinend zunächst weder beabsichtigt noch wurde der neue Zustand so wahrgenommen. Vgl. zuletzt F. EGGER, Johann Rudolf Wettstein und die internationale Anerkennung der Schweiz als europäischer Staat, in: 1648 - Krieg und Frieden (wie V, 1), Textbd. 1, 423-432.
12 Kritisch dazu DUCHHARDT, »Westphalian System« (wie V, 1). Zur weiteren Diskussion vgl. jetzt auch kritisch B. TESCHKE, The Myth of 1648, 2003. U. MUHLACK, Die Frühe Neuzeit als Geschichte des europäischen Staatensystems, in: Eigene und fremde Frühe Neuzeiten, Hg. R. DÜRR, 2003, 23-41, sieht in diesem Prozeß das klassische und weiterhin stichhaltige frühneuzeitliche Epochenkriterium.
13 Vgl. mit dem dort angegebenen Forschungshintergrund, aber mit noch weitergehenderen Thesen BURKHARDT, Europäischer Nachzügler (wie V, C).
14 Vgl. H. STEIGER, Der Westfälische Friede - Grundgesetz für Europa? in: 350 Jahre, Hg. DUCHHARDT (wie V, 1), 33-88, 55. Die Titelfrage wird negativ beantwortet und die Reichsrelevanz betont.
15 R. KOSELLECK, Föderale Strukturen der deutschen Geschichte, in: Pforzheimer Reuchlinpreis. Die Reden der Preisträger, 1994, 146-161.
16 So übereinstimmend BURKHARDT, Dreißigjähriger Krieg (wie V, 1), 122, DERS., Friedenswerk (wie V, 1), 602, sowie G. SCHMIDT, Der Westfälische Friede als Grundgesetz des komplementären Reichs-Staats, in: 1648 - Krieg und Frieden (wie V, 1), Textbd. 1, 447-454, 453, in treffendem Kontrast zu merkantilistischen Nullsummenspielen.
17 Bereits KREMER, Westfälischer Friede (wie V, 1), 87, feierte 1989 die sich in Art. VIII IPO andeutende »Gewaltenteilung« als »im Grunde atemberaubende Konsequenz, daß die Reichsverfassung nach dem Westfälischen Frieden bereits durch Züge geprägt ist, die in erstaunlichem Ausmaße bestimmend für unser heutiges Verfassungsdenken sei«.
[...]


Burkhardt, Johannes
Johannes Burkhardt, geboren 1943, studierte in Tübingen Geschichte, Philosophie und Germanistik. Nach wissenschaftlicher Tätigkeit in Stuttgart, Rom, Eichstätt, Bielefeld und Bochum hatte er von 1991 bis 2008 an der Universität Augsburg den Lehrstuhl für die Geschichte der Frühen Neuzeit inne und forscht am Institut für Europäische Kulturgeschichte.

Johannes Burkhardt, geboren 1943, studierte in Tübingen Geschichte, Philosophie und Germanistik. Nach wissenschaftlicher Tätigkeit in Stuttgart, Rom, Eichstätt, Bielefeld und Bochum hatte er von 1991 bis 2008 an der Universität Augsburg den Lehrstuhl für die Geschichte der Frühen Neuzeit inne und forscht am Institut für Europäische Kulturgeschichte.



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