E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Burke Tumult und Spiele
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-8031-4368-6
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Theater, Calcio und Karneval im Italien der Renaissance
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
ISBN: 978-3-8031-4368-6
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mit meisterlicher Leichtigkeit überführt Peter Burke Jahrzehnte seiner Forschung in eine glänzende Erkundung der Alltagsgeschichte und zeigt: Der Mensch der Renaissance war ein spielender.
Von Spottversen und Satiren über Karneval, Theater und Akrobatik bis hin zu Schaukämpfen, Quizzen und den Vorformen von Fußball und Tennis: Die italienische Renaissance war besessen von Spiel und Wettbewerb. In seinem ebenso unterhaltsamen wie gelehrten Essay leuchtet Peter Burke, der große Kenner der Epoche, das ganze erstaunliche Spektrum der mal ordinären, mal kultivierten Lustbarkeiten aus.
Quer durch die Gesellschaftsschichten genossen die Massen die Möglichkeit des Ausbruchs aus den strengen Konventionen im Spiel. Zugleich kanalisierten viele 'Regeln der Unordnung' die Subversion unversehens. Dennoch wetterten Kirchenmänner und Humanisten gegen Gewalt, Blasphemie und Obszönität des Spiels und drängten auf eine Bändigung seiner Zügellosigkeit.
Ein wichtiger Beitrag zur Kultur der italienischen Renaissance, die sich in Burkes Blick als Zeitalter göttlicher, aber auch teuflischer Komödien präsentiert.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtliche Themen Kultur- und Ideengeschichte
- Interdisziplinäres Wissenschaften Wissenschaft und Gesellschaft | Kulturwissenschaften Kulturwissenschaften
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Weltgeschichte & Geschichte einzelner Länder und Gebietsräume Europäische Geschichte
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtliche Themen Mentalitäts- und Sozialgeschichte
Weitere Infos & Material
2 Spaß und Spiele
Dieses Kapitel beschreibt die vielen und vielfältigen Spiele – Spiele im weitesten Wortsinn –, die im Italien der Renaissance praktiziert wurden. Die Quellen zur Rekonstruktion dieser Spiele sind sehr viel reichhaltiger als diejenigen für das Mittelalter: Sie umfassen Abhandlungen über Spiele im Allgemeinen, aber auch über spezifische Aktivitäten wie Schach, Tanzen, Fußball und Tennis. Manche dieser Schriften erfreuten sich einer breiten Leserschaft. Der 1572 erstmals veröffentlichte Dialogo de' Giuochi von Girolamo Bargagli erlebte 1609 schon seine achte Nachauflage.36 Einige der bedeutendsten unter diesen Traktaten erschienen nicht in Florenz, Rom oder Venedig, sondern in drei kleineren Städten: Ferrara, Siena und Bologna. Die Herrscher von Ferrara und ihre Hofleute hatten offenbar ein besonderes Interesse an verschiedenen Spielformen. Herzog Alfonso II. begeisterte sich vor allem für Ballspiele und ließ gelegentlich sogar Gesandte warten, während er noch spielte.37 Der Priester Antonio Scaino, ein Diplomat in Alfonsos Diensten, verfasste für seinen Herrn eine Schrift über Palla (ein Vorläufer des Tennis) mit den betreffenden Spielregeln.38 Scaino verlieh dem Spiel eine philosophische Untermauerung, die auch Ausführungen zu Naturphilosophie umfasste. In Siena scheint die Initiative von den Accademie, also Gelehrtengesellschaften, ausgegangen zu sein, einer unter städtischen Eliten beliebten Form von Geselligkeit. Beide Brüder Bargagli waren zum Beispiel Mitglieder der Sieneser Accademia degli Intronati. Die Erfindung des Buchdrucks führte fraglos dazu, dass sich einzelne Personen, die eine gewisse Kenntnis auf diesem weiten Feld besaßen, veranlasst fühlten, ihr Wissen und ihre Ideen niederzuschreiben. Ihre Abhandlungen beschränkten sich wahrscheinlich nicht darauf, Regeln für verschiedene Spiele nur darzulegen, sondern sie auszuarbeiten oder mit ihnen zumindest dazu beizutragen – ähnlich wie Grammatiken von Vernakularsprachen –, bestimmte Praktiken, die sich zuvor von Ort zu Ort unterschieden hatten, zu standardisieren. Spiele im Freien39
In manchen Fällen entsprangen die Spielformen dem humanistischen Projekt, die klassische Antike wiederzubeleben, wobei sich die Wiederentdeckung sportlicher Betätigung am griechischen Beispiel orientierte. Im 15. Jahrhundert empfahl der vielseitige Leon Battista Alberti, der sich seiner eigenen Sprungkünste rühmte, man solle sich körperlich ertüchtigen, und Girolamo Mercuriale, ein späterer Humanist, veröffentlichte ein Buch über die »Kunst der Gymnastik« (1569). Dennoch verdankten die Freiluftspiele der Renaissance mittelalterlichen Traditionen sehr viel mehr als klassischen Vorbildern. Für den Adel waren die wichtigsten Formen körperlicher Betätigung das Reiten, die Jagd und die Übung des Waffengebrauchs, insbesondere mit Lanzen und Schwertern. Junge Adlige besuchten Fechtschulen. Ihre Reitkunst trainierten sie beim »Ringreiten«, das darin bestand, im Galopp mit einer Lanze einen Ring zu durchstoßen, oder bei sogenannten Quintana-Ritten, im Italienischen als »Saracino« bekannt, bei denen eine lebensgroße Attrappe mit einem Speer aufgespießt werden musste. Kampfspiele dienten einerseits der Wehrertüchtigung, waren andererseits aber auch dazu angetan, seinen Mut und seine Geschicklichkeit zu beweisen, um die Damen zu beeindrucken und eine »gute Figur zu machen« (fare bella figura), wie Italiener auch heute noch sagen.40 Die Jagd, eine Lieblingsbeschäftigung der Aristokratie in Italien und anderswo, galt ebenfalls als Ausbildung für den Krieg. Im 14. Kapitel von Der Fürst schrieb Machiavelli beispielsweise: »[Der Fürst muss] seinen Körper durch die Jagd abhärten, welche ihm außerdem Gelegenheit gibt, die verschiedene Beschaffenheit der Gegenden zu beobachten.« Ein weiterer unter Adligen praktizierter Sport war die Falkenjagd. Tjosten – bei denen ein Reiter mit einer stumpfen Lanze seinen Gegner vom Pferd zu stoßen versuchte – und Turniere, eine Form von Schaukampf mit echten Waffen, waren bis zum 15. und frühen 16. Jahrhundert gängige Betätigungen. Lorenzo de' Medici, der von 1469 bis 1492 als inoffizieller Regent über Florenz herrschte, gewann beispielsweise im Jahr seines Machtantritts den ersten Preis in einer Tjost, was der Dichter Luigi Pulci in seinen »Stanzen für die Tjost« (Stanze per la Giostra) verherrlichte. Unter demselben Titel feierte der Humanist Angelo Poliziano die Tapferkeit, durch die sich Lorenzos jüngerer Bruder Giuliano 1475 in einer Tjost auf der Piazza Santa Croce auszeichnete.41 Diese Wettkampfspiele verfolgten auch einen ganz ernsthaften Zweck: Sie sollten demonstrieren, dass die Kaufmannsfamilie der Medici die aristokratischen Werte der Ritterlichkeit akzeptiert hatte und deshalb regierungsfähig war. Erst im späteren 16. Jahrhundert, als sich die Kriegsführung durch den Einsatz von Kanonen allmählich veränderte, wurden Tjosten und Turniere zu einer Art Choreografie – mit jenen vielfältigen Formen von Eleganz und Anmut, wie sie in Castigliones Der Hofmann empfohlen wurden.42 Noch spektakulärer war die nach klassischen Vorbildern nachgestellte Seeschlacht oder Naumachia, die anlässlich der Feiern zur Hochzeit des Großherzogs Ferdinando de' Medici und Christines von Lothringen 1589 in dem zu diesem Behufe gefluteten Hof des Palazzi Pitti in Florenz inszeniert wurde. Neben Turnieren und Tjosten gab es auch Fußball (calcio) und Tennis (pallone), Spiele, denen vor allem – wenn auch nicht ausschließlich – männliche Angehörige der Oberschicht frönten. Auf der Piazza Santa Croce in Florenz fand eine Calcio-Partie nach den Regeln eines ritualisierten Kräftemessens statt, das dem Spiel etwas von der Atmosphäre eines Turniers verlieh.43 Beim Pallone wurde der Ball wahlweise mit der bloßen Handfläche, mit einem Handschuh, einer hölzernen, über dem Unterarm getragenen zylindrischen Röhre oder einem Racket geschlagen. Schaukämpfe bildeten keineswegs die exklusive Domäne des italienischen Adels. Auf einer niedrigeren sozialen Ebene gab es die sogenannten kleinen Gefechte (battagliole), die allerdings nicht im Sattel, sondern zu Fuß ausgetragen wurden. Die berühmtesten oder berüchtigsten dieser Kämpfe waren die »Faustkriege« (guerre de' pugni), auch »Stockkriege« (guerre de' canne) genannt, die sich die Bewohner zweier Viertel von Venedig regelmäßig lieferten: die Castellani, die auf den Flottenwerften des Arsenale arbeiteten, und die Nicolotti, die vorwiegend Fischer waren.44 Die Kämpfe fanden normalerweise an den Grenzen ihrer Territorien statt, vor allem auf Brücken, also an Schwellenorten, die sich für Rituale der Solidarität unter der Gemeinschaft des jeweiligen Viertels eigneten.45 Dabei konnten sie durchaus mit Knochenbrüchen enden, was dagegen ungebrochen blieb, war der Zusammenhalt innerhalb der Gruppe. Ihren literarischen Niederschlag fanden diese Auseinandersetzungen in dem Kurzepos »Der alte Krieg« (La verra antiga, 1550) des Goldschmieds Alessandro Caravia. Ähnliche Brückenkämpfe gab es auch in Florenz auf dem Ponte Santa Trinita zwischen den Vierteln Santa Maria Novella und Santo Spirito; in Pisa fand der Kampf, das sogenannte Brückenspiel (il gioco del ponte), alljährlich auf dem Ponte Vecchio statt, und auch hier standen sich Männer aus rivalisierenden Vierteln gegenüber.46 Andernorts bewarfen sich die Kontrahenten gegenseitig mit Steinen, wie es etwa traditionell in Perugia praktiziert wurde.47 Auch wenn diese Kämpfe wie Massenschlägereien wirken mögen, an denen sich jeder ohne jede Einschränkung beteiligen konnte, so herrschten doch gewisse »Regeln der Unordnung«, implizite im Falle Venedigs, explizite hingegen in Pisa.48 Weniger formal liefen Schneeballschlachten ab, über die es nur wenige Aufzeichnungen gibt, die aber offenbar in allen Gesellschaftsschichten – und zwar bei Männern wie bei Frauen – Anklang fanden. Calcio Fiorentino 1688 Eine weitere beliebte Veranstaltung war das Pferderennen oder der Palio (»Standarte«), benannt nach der Prämie, die der Sieger erhielt. In Siena findet der Palio bis heute statt. In der Kurzbeschreibung des US-amerikanischen Volkskundlers Alan Dundes: »Zweimal im Sommer rennen zehn Pferde etwa 90 Sekunden lang dreimal im Uhrzeigersinn rund um die Piazza del Campo, den Hauptplatz der Stadt Siena, der zu diesem Anlass in eine Rennbahn verwandelt wird. Die Pferde werden ungesattelt von Jockeys geritten, die Kostüme mit den Farben von zehn der 17 Contraden oder Stadtbezirke Sienas tragen.« In dem von uns behandelten Zeitabschnitt fand das Rennen im gesamten Stadtgebiet und nicht nur im Zentrum statt, und die Reittiere waren Büffel und Esel, die erst 1633 durch Pferde ersetzt wurden.49 Der Palio di Siena war nur eines unter vielen solcher Rennen, die im Mittelalter in verschiedenen italienischen Städten veranstaltet wurden. In Venedig hielt man während des Karnevals Regatten auf dem Canal Grande und Stierrennen über den Ponte di Rialto ab. Der Palio di San Giovanni in Florenz war ein Pferderennen, das am 24. Juni während des Fests zu Ehren des städtischen Schutzpatrons stattfand. Ursprünglich dazu gedacht, den Patriotismus...