Burke Sturm über New Orleans
Deutsche Erstausgabe
ISBN: 978-3-86532-463-4
Verlag: Pendragon
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Dave-Robicheaux-Krimi, Band 16
E-Book, Deutsch, Band 16, 576 Seiten
Reihe: Ein Dave Robicheaux-Krimi
ISBN: 978-3-86532-463-4
Verlag: Pendragon
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Hurrikan Katrina fegt über New Orleans hinweg und legt die Stadt in Schutt und Asche.
Mit all seinem Können, feinen Charakterbeschreibungen und dichten Schilderungen der Südstaatenatmosphäre widmet sich Burke in seinem facettenreichen "Sturm über New Orleans" dieser Katastrophe. Wer Burke liest, spürt die Hitze der Stadt, schmeckt den Geruch der Zerstörung, riecht den Dunst der Bars.
Inmitten des Chaos lässt er den eigenwilligen Dave Robicheaux seinen Job erledigen. Robicheaux ist Vietnam-Veteran und trockener Alkoholiker, der in seinem Leben diverse Schicksalsschläge hinnehmen musste. Als Cop folgt er seiner ganz eigenen Vorstellung von Moral und Gerechtigkeit.
Burke hat mit "Sturm über New Orleans" einen fulminanten Roman geschrieben. Der Leser taucht sofort in seine bildhafte Sprache ein und sieht einen Film vor seinem inneren Auge vorbeiziehen. Burke ist ganz großes Kino!
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3 Otis Baylor bezeichnet sich voller Stolz als Zugereisten aus North Alabama, der überall in der Welt zuhause ist, sei es in New Orleans, in New Iberia oder wo immer ihn seine Versicherungsgesellschaft hinschickt. Er hat eine überschwängliche Art an sich, ist großzügig im Geben und hängt an seiner Familie. Wenn überhaupt möglich, weigert er sich, über andere zu urteilen oder sich von der Voreingenommenheit seiner Altersgenossen oder der Menschen aus dem Waldland beeinflussen zu lassen, in dem er geboren ist und wo er als Junge miterlebte, wie sein Vater und sein Onkel in voller Klansmontur an Versammlungen unter dem Flammenkreuz teilnahmen. Otis lernte das Versicherungsgeschäft von der Pieke auf und zog auf der Hungerleidertour durch die Neger- und Arbeiterviertel von Birmingham. Wo andere Vertreter gescheitert waren, gelang Otis ein glänzender Erfolg. Bei einem Vertreterkongress in Mobile erkundigte sich ein zynischer Rivale nach seinem Geheimnis. „Behandle die Leute mit Respekt, und du wirst staunen, wie sie reagieren“, antwortete Otis. Heute fährt er zeitig bei Regen und dichtem Verkehr nach Hause und sagt sich, dass die Naturgewalten weder ihm noch seiner Familie etwas anhaben werden. Sein Haus wurde 1856 gebaut und war ein stummer Zeuge der Besetzung durch die Yankees, der Gelbfieberepidemien, dem Lynchen italienischer Einwanderer an Straßenlaternen und der Flutwellen, nach denen die Leichen ertrunkener Clippermatrosen in den Bäumen hingen. Die Männer, die Otis’ Haus gebaut hatten, hatten gute Arbeit geleistet, und er ist davon überzeugt, dass er und seine Familie mit den benzinbetriebenen Generatoren in der Remise, den Taschenlampen und Medikamenten, den Lebensmittelkonserven und Wasserflaschen, die er in den Vorratskammern und auf dem Dachboden verstaut hat, auch die schlimmsten Naturkatastrophen überstehen können. Vertrau auf Gott, aber vertrau auch auf dich selbst. Das sagte Otis’ Vater immer. Aber als er auf den Regen blickt, der durch die immergrünen Eichen auf seinem Hof fegt, flackert eine andere Angst in ihm auf, die noch beunruhigender ist als die Aussicht auf den Hurrikan, der auf die Stadt zuwirbelt und den Golf von Mexiko in seinen Schlund saugt. Otis hat stets geglaubt, dass man mit Fleiß und Fürsorge für sich und die Seinen weiterkommt. Seiner Ansicht nach gibt es so was wie Glück oder Pech nicht. Er glaubt, dass Wehleidigkeit zu einer Selbstbedienungsmentalität geführt hat, die er niemals unterstützen wird. Wenn es den Menschen schlecht geht, ist das für gewöhnlich eine Folge ihres eigenen Verhaltens, sagt er sich. Die Schlange hat Eva nicht gezwungen, die verbotene Frucht zu pflücken, und Gott hat nicht verlangt, dass Kain seinen Bruder erschlägt. Aber wenn Otis’ Ansicht richtig ist, warum war dann so ein unverdientes, brutales Leid über seine reizlose, traurige und übergewichtige Tochter gekommen, sein einziges Kind, das so wenig Selbstwertgefühl hatte, dass es überglücklich war, als es von einem zaundürren Jungen mit Schuppen auf den Schultern und einer Brille, mit der er aussah, als hätte er Fischaugen, zum Abschlussball eingeladen wurde. Nach dem Ball waren Thelma und ihr Begleiter auf dem Interstate 10 zu einer Party gefahren, nur dass der Junge, der erst zwei Monate zuvor nach New Orleans gezogen war, sich verfuhr und in ein Wohnviertel nicht weit vom Desire Welfare Project geriet. Ohne zu überlegen, stellte er den Motor ab und fragte einen Passanten nach dem Weg. Als er feststellte, dass seine Batterie leer war und er den Motor nicht mehr anlassen konnte, ging er zu einem Münztelefon, um Otis anzurufen, und ließ Thelma allein. Die drei schwarzen Schlägertypen, die auf sie stießen, waren vermutlich aufgekratzt vom Gras und Weinverschnitt. Doch das allein war keine Erklärung für die Brutalität, mir der sie über Otis’ Tochter herfielen. Sie stopften ihr ein rotes Halstuch in den Mund, drehten ihr die Arme auf den Rücken und drängten sie zwischen zwei Häuser. Dann vergewaltigten und schändeten sie sie abwechselnd und verbrannten ihre Haut mit Zigaretten. Zwei Jahre sind seither vergangen, aber Otis sucht immer noch nach einer Erklärung. Die Täter wurden nie gefasst, und Otis bezweifelt, dass es jemals dazu kommt. Psychiater, Therapeuten und der Pfarrer von Otis’ Kirche konnten kaum etwas zu Thelmas Genesung beitragen, wenn „Genesung“ das richtige Wort ist. Er wacht mitten in der Nacht auf und setzt sich ins Herrenzimmer, damit seine Frau nicht bemerkt, welche Seelenqualen er leidet. Noch wichtiger aber ist, dass er trotzdem nicht verbittert werden oder es seinen Nachbarn gleichtun will, die einen Teil der vierzig Prozent Wähler stellten, die bei der Gouverneurswahl für den ehemaligen Klansmann und Nazi David Duke stimmten. Er macht ein Sandwich mit Käse, Salat und Mayonnaise, legt es auf ein Tablett neben eine Dose Soda und eine langstielige Rose und trägt es zu Thelmas Zimmer. Sie sitzt über ihren Schreibtisch gebeugt, trägt ein schwarzes T-Shirt, schwarze Jeans mit großen Messingnieten und hat Kopfhörer auf. Er hat keine Ahnung, was sie sich anhört. Manchmal begeistert sie sich für Aufnahmen von Vogelstimmen oder Wasserfällen, ein andermal hört sie Heavy-Metal-Bands, bei denen Otis wünschte, er wäre taub geboren. „Ich dachte, du möchtest vielleicht einen kleinen Imbiss“, sagt er. Sie hat den Mund mit rotem Lippenstift bemalt, die Haare sind dunkel und frisch gewaschen, zu einem kurzen Pony geschnitten, der aussieht wie ein Helm. Ihr Pfannkuchengesicht hat die immer gleiche Miene, die anderen das Gefühl vermittelt, es läge an ihnen, wenn sie nicht mit ihr ins Gespräch kommen. Sie leidet abwechselnd unter Magersucht, Esssucht und Bulimie. Normalerweise würde man sie nicht als liebenswerten Menschen bezeichnen. Aber warum sollte sie das auch sein?, fragt sich Otis. Wie viele junge Mädchen sind seelisch darauf vorbereitet, mit den Schäden klarzukommen, die ihr diese Männer zugefügt hatten? Sie isst ihr Sandwich, ohne die Kopfhörer abzunehmen oder mit ihm zu sprechen. Er bückt sich und zieht ihr die Schaumgummipolster vom Kopf. „Kannst du deinem alten Herrn nicht mal Hallo sagen?“, fragt er. „Hi, Daddy“, sagt sie. „Willst du mir mit den Fensterläden helfen, wenn du fertig bist?“ Sie schaut zu ihm auf. Ein bohrender Gedanke scheint sich hinter ihren Augen zu verbergen, wie ein dunkler Vogel mit gekrümmtem Schnabel. „Ein Typ vom Katastrophenschutz hat gesagt, es wird furchtbar.“ „Kann schon sein. Aber wir sind hart im Nehmen.“ Er versucht ihre Miene zu deuten. Furchtsam oder besorgt wirkt sie nicht. Er fragt sich sogar, ob sie nicht eher erwartungsvoll ist. Sie liest Nostradamus und steht auf Weltuntergangsprophezeiungen, so als wollte sie ihr eigenes Unglück auf andere übertragen. „Die Versicherungsgesellschaften werden die Stadt bescheißen, nicht wahr? Macht deine Firma bei Wasserschäden Vorbehalte geltend?“, sagt sie. „Das ist doch albern.“ Er verlässt das Zimmer und schließt die Tür hinter sich, unterdrückt die Wut, die sich in seiner Brust ausbreitet. Unten kippt seine Frau Dreißig-Pfund-Beutel mit gestoßenem Eis in die Gefriertruhe. Sie heißt Melanie und besteht darauf, dass er sie nicht „Mel“ nennt, obwohl er ihr diesen Kosenamen gegeben hat, als sie miteinander gingen. „Warum machst du das?“, fragt er. „Damit wir unsere Lebensmittel frisch halten können, wenn wir einen totalen Stromausfall haben“, erwidert sie, während ihr eine Wolke kalter Luft ins Gesicht schlägt. Er will ihr erklären, dass er mit dem Aufstellen der benzinbetriebenen Generatoren bereits Vorsorge dafür getroffen hat, dass sie im Grunde genommen nur den Platz wegnimmt, den sie für sämtliche leicht verderblichen Sachen nutzen könnten. Aber er widerspricht ihr nicht. Er war Witwer, als er sie vor fünf Jahren an einem Strand auf den Bahamas kennen lernte. Sie war geschieden, tief gebräunt, goldhaarig und wunderschön, viel jünger als er, eine körperlich starke Frau mit kessem, unbeirrtem Blick und weit auseinander liegenden Augen, deren Lachen andeutete, dass sie sich nicht um Konventionen scherte und durchaus Lust auf sexuelle Abenteuer hatte. Sie war eine Frau, die sowohl Freundin als auch Geliebte sein konnte. Otis war seinerzeit dreiundfünfzig, vorzeitig kahl geworden, aber stolz auf seine kräftigen Hände und Schultern, und er schämte sich weder wegen seiner Libido noch der heftigen Schweißausbrüche, wenn er arbeitete, oder dem Testosterongeruch, der manchmal in seiner Kleidung hing. Er war so, wie er war, und versuchte nichts anderes vorzutäuschen. Offensichtlich fand ihn Melanie oder „Mel“ nicht unattraktiv. Sie waren in vielerlei Hinsicht gegensätzlich, aber jeder schien eine Reihe von Vorzügen zu besitzen, die die Unzulänglichkeiten des anderen wettmachte, sie mit ihrer urbanen Kultiviertheit und einem Abschluss in Wirtschaft an der University of Chicago, er mit seinem Arbeitsethos und seiner verständnisvollen Art im Umgang mit Menschen. Sie verabschiedeten sich auf den Bahamas, ohne ihre kurze Beziehung bis zum Letzten auszukosten, telefonierten aber weiter miteinander und schickten sich Geschenke und E-Mails. Zwei Monate vergingen, und in einer Sommernacht, als der Himmel noch hell war und er die Einsamkeit nicht mehr ertragen konnte, bat Otis Melanie, sich mit ihm im Ritz-Carlton in Atlanta zu treffen. Er war überrascht, dass sie sich im Bett so wild gebärdete und in ihrer...