E-Book, Deutsch, Band 8, 512 Seiten
Reihe: Ein Dave Robicheaux-Krimi
Ein Dave-Robicheaux-Krimi, Band 8
E-Book, Deutsch, Band 8, 512 Seiten
Reihe: Ein Dave Robicheaux-Krimi
ISBN: 978-3-86532-738-3
Verlag: Pendragon
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Weitere Infos & Material
1 Die Familie Giacano hatte sich bereits zu Zeiten der Prohibition sämtliche schwarzen Geschäfte in den Bezirken Orleans und Jefferson unter den Nagel gerissen. Freibrief und Genehmigung dafür kamen natürlich von der Kommission in Chicago, und kein anderer Familienclan traute sich jemals, in ihr Revier einzudringen. Seither waren Prostitution, Hehlerei, Geldwäsche, Glücksspiel, Kreditwucher, Arbeitsvermittlung, Drogenhandel und sogar das Wildern in Südlouisiana ihre ureigene Domäne. Kein Straßengangster, Betrüger, Einbrecher, kein Dieb, Lockvogel oder Zuhälter stellte das jemals in Frage, es sei denn, er wollte sich eine Aufnahme davon anhören, was Tommy Figorelli (auch bekannt als Tommy Fig, Tommy Fingers, Tommy Five) zum Aufheulen der Elektrosäge zu sagen hatte, kurz bevor er gefriergetrocknet und in Einzelteilen an den hölzernen Ventilatorblättern in seiner eigenen Metzgerei aufgehängt wurde. Deshalb war Sonny Boy Marsallus, der in der Sozialsiedlung in Iberville aufgewachsen war, als dort noch lauter Weiße wohnten, in den siebziger und achtziger Jahren eine Art Wunder gewesen. Er beteiligte sich nicht am Geschäft, ließ sich weder auf Zuhälterei noch auf Drogen- oder Waffenhandel ein, und er sagte dem fetten Alten, Didoni Giacano persönlich, dass er zu den Weight Watchers gehen oder sich für die Rettung der Wale einsetzen sollte. Ich sehe ihn immer noch vor mir, wie er an einem gleißend blauen Spätnachmittag im Frühling, als die Palmwedel im Wind rasselten und die Straßenbahn klingelnd auf dem Mittelstreifen vorbeifuhr, knapp unterhalb des alten Jung-Hotels draußen auf dem Gehsteig stand, die Haut makellos wie Milch, die bronze-roten Haare leicht eingeölt und seitlich nach hinten gekämmt, und wie immer irgendein Spiel laufen hatte – Craps oder Bourré um hohe Einsätze, wenn er nicht draußen auf der Rennbahn irgendwelche schmutzigen Gelder aus Jersey wusch, einschlägig bekannte Rückfalltäter, die kein von Amts wegen zugelassener Kopfgeldjäger mit der Kneifzange angefasst hätte, auf Kaution rauspaukte oder zinslos Geld an Mädels verlieh, die aussteigen wollten. Genau genommen lebte Sonny den Ehrenkodex vor, den der Mob für sich in Anspruch nahm. Aber zu viele Mädels stiegen mit Sonnys Geld in den nächsten Greyhound und verließen New Orleans, als dass ihn die Giacanos weiter gewähren lassen konnten. Seinerzeit ging Sonny außer Landes, nach Süden, wo er den Auftakt des großen Theaters, das die Reagan-Regierung in El Salvador und Guatemala veranstaltete, aus erster Hand miterlebte. Clete Purcel, mein alter Partner bei der Mordkommission im First District, hatte da unten mit ihm zu tun gehabt, als er seinerseits wegen Mordes auf der Flucht war, aber er wollte nie darüber reden, was sie dort getrieben hatten oder woher die seltsamen Gerüchte stammten, die über Sonny im Umlauf waren: dass er vor lauter Muta, Pulche und psychedelischen Pilzen verrückt geworden wäre, sich linken Terroristen angeschlossen, eine Zeit lang in einem Dreckloch in Nicaragua im Knast gesessen hätte, mit guatemaltekischen Flüchtlingen in Südmexiko arbeitete oder in einem Kloster in Jalisco sei. Nichts davon passte zu dem Halbseidenen von der Canal Street, der Narben an den Augenbrauen hatte und mit klingender Münze beschwingt durch die Welt schritt. Deshalb war ich überrascht, als ich hörte, dass er zurück in der Stadt war, wieder mitmischte und seine Geschäfte im Pearl einfädelte, wo die alte, grün gestrichene eiserne Straßenbahn von der St. Charles Avenue in die bonbonbunte, von windzerzausten Palmen bestandene Glitzerwelt an der Canal Street einbog. Als ich ihn zwei Querstraßen weiter in einem im Neonlicht flimmernden Tropenanzug und einem lavendelfarbenen Hemd vor einem Spielsalon herumhängen sah, wirkte er wie eh und je, so als wäre er nie unter südlicher Sonne gewesen, hätte sich niemals mit einem M60 oder schwerem Marschgepäck durch den Dschungel geschleppt, wo man sich abends die Blutegel mit Zigaretten aus der Haut brannte und tunlichst nicht an den strengen Geruch dachte, der aus den fauligen Socken aufstieg. Schwarze Poolspieler lehnten an den Parkuhren und lungerten vor den Läden herum, Musik dröhnte aus den Ghettoblastern. Er schnippte mit den Fingern, klatschte in die Hände und zwinkerte mir zu. „Wie läuft’s denn so, Streak?“, fragte er. „Nichts los, Sonny. Hast du immer noch nicht genug von Kriegsschauplätzen?“ „Meinst du die Stadt? So übel ist die gar nicht.“ „Ist sie doch.“ „Komm, trink ein Bier, iss ein paar Austern mit mir.“ Er sprach mit näselndem Akzent, wie die meisten aus einfachen Verhältnissen stammenden Menschen in New Orleans, deren Englisch von den Ende des 19. Jahrhunderts eingewanderten Iren und Italienern beeinflusst war. Er lächelte mich an, stieß dann einen Schwall Luft aus dem Mund und schaute kurz die Straße auf und ab. Dann heftete er den Blick wieder auf mich, immer noch lächelnd – ein Mann, der seinem eigenen Rhythmus folgte. „Huch“, sagte er und tippte sich mit dem ausgestreckten Zeigefinger an die Stirn. „Hab ich vergessen. Ich hab ja gehört, dass du jetzt zu Meetings gehst. Hey, ich steh auf Eistee. Komm schon, Streak.“ „Warum nicht?“, sagte ich. Wir standen an der Bar im Pearl und aßen rohe Austern, die salzig und kalt waren und an deren Schalen Eissplitter hafteten. Zum Zahlen zog er eine mit einem dicken Gummiring umwickelte Geldrolle aus lauter Fünfzigern aus der Hosentasche. Unterkiefer und Hals waren frisch rasiert und schimmerten regelrecht. „Hast du’s nicht mal mit Houston oder Miami versuchen wollen?“, fragte ich. „Wenn anständige Menschen sterben, ziehen sie nach New Orleans.“ Doch das betont elegante Auftreten und die gute Laune waren nicht überzeugend. Sonny wirkte irgendwie angegriffen, leicht gehetzt, vielleicht auch ein bisschen ausgebrannt von der eigenen Energie, war allzu wachsam, schaute sich ständig um und beobachtete die Tür. „Erwartest du jemanden?“, fragte ich. „Du weißt doch, was Sache ist.“ „Nein.“ „Sweet Pea Chaisson“, sagte er. „Aha.“ Er sah meinen Blick. „Was denn, überrascht dich das?“ „Er ist ein bodenloser Scheißkerl, Sonny.“ „Ja, so kann man’s vermutlich ausdrücken.“ Ich bedauerte bereits, dass ich mich auf einen kurzen Abstecher in den schönen Schein von Sonny Boys Seifenblasenwelt eingelassen hatte. „Hey, geh noch nicht“, sagte er. „Ich muss zurück nach New Iberia.“ „Sweet Pea braucht bloß Sicherheiten. Der Typ ist längst nicht so schlimm wie sein Ruf.“ „Erzähl das seinen Mädchen.“ „Du bist ein Cop, Dave. Ihr erfahrt doch die Sachen immer erst hinterher.“ „Bis zum nächsten Mal, Sonny.“ Sein Blick war auf das Fenster zur Straße gerichtet. Er legte mir die Hand auf den Unterarm und schaute dem Barmann zu, der einen großen Krug Bier zapfte. „Geh jetzt nicht raus“, sagte er. Ich schaute zur Glasfront. Zwei Frauen gingen vorbei, redeten aufeinander ein. Ein Mann mit Hut und Regenmantel stand an der Bordsteinkante, so als warte er auf ein Taxi. Ein kleiner, stämmiger Mann in einem Sportsakko stellte sich zu ihm. Beide schauten auf die Straße. Sonny Boy biss einen Niednagel ab und spuckte ihn aus. „Sweet Peas Abgesandte?“, fragte ich. „Ein bisschen ernster. Komm mit aufs Klo“, sagte er. „Ich bin Polizist, Sonny. Keine faulen Sachen. Wenn du Zoff hast, rufen wir die hiesigen Cops.“ „Spar dir die Sprüche für Dick Tracy. Hast du deine Knarre dabei?“ „Was denkst du denn?“ Er ging in den hinteren Teil des Restaurants. Ich wartete einen Moment, legte meine Sonnenbrille auf die Bar, damit jeder wusste, dass ich zurückkommen würde, und folgte ihm dann. Er verriegelte die Toilettentür, hängte seine Jacke daran auf und schlüpfte aus seinem Hemd. Seine Haut sah aus wie Alabaster mit harten roten Kanten entlang der Knochen. Eine blaue Madonna in einem Lichtkranz aus nadelspitzen orangen Strahlen war auf seine rechte Schulter tätowiert. „Schaust du auf mein Tattoo?“, fragte er und grinste. „Eigentlich nicht.“ „Oh, die Narben?“ Ich zuckte mit den Achseln. „Zwei ehemalige Spezialisten von Somoza haben mich zu ’ner Sensibilisierungssitzung eingeladen“, sagte er. Die Narben waren lila, dick wie Strohhalme und zogen sich kreuz und quer über Rippen und Brustkorb. Er fummelte an einem schwarzen Notizbuch herum, das er mit Klebeband am Kreuz befestigt hatte. Mit einem Schmatzton löste es sich. Er hielt es in der Hand, so dass die Klebestreifen herunterhingen, als sei es ein herausgeschnittener Tumor. „Heb das für mich auf.“ „Behalt es selber“, sagte ich. „Eine Frau bewahrt eine Kopie für mich auf. Du magst doch Poesie, Bekenntnisliteratur, lauter solchen Kram. Wenn mir nichts passiert, wirfst du es in die Post.“ „Was hast du vor, Sonny?“ „Die Welt ist klein geworden. Heutzutage hocken Menschen in Grashütten und gucken CNN. Da kann man auch gleich da bleiben, wo einem das Essen schmeckt.“ „Du bist ein intelligenter Kerl. Du musst nicht den Prügel knaben für die Giacanos spielen.“ „Schau im Kalender nach, wenn du heimkommst. In den siebziger Jahren waren die Spaghettis drauf und dran, den Bach runterzugehen.“ „Steht deine Adresse drin?“ „Klar. Wirst du’s lesen?“ „Wahrscheinlich nicht. Aber ich heb’s eine Woche lang für dich auf.“ „Gar nicht neugierig?“,...